Читать книгу Hold My Girl - Nadine Wilmschen - Страница 5

1. Kapitel

Оглавление

»Her heart was a secret garden

And the walls were very high.«

-William Goldman, The Princess Bride

Columbus, Ohio

4 Jahre später ...

Die Luft war stickig, das Bier schal und die Menschen um mich herum so viel fröhlicher als ich selbst. Diese Studentenpartys waren in ihrer Essenz alle gleich. Manche fanden unter einem Motto statt oder zu einem bestimmten Anlass, doch am Ende ging es meist nur darum, sich zu betrinken und jemanden zu finden, den man mit nach Hause nehmen konnte. Als ich an der provisorischen Bar stand, mein drittes Bier aus einem Pappbecher trank und das Szenario um mich herum beobachtete, wusste ich wieder ganz genau, warum ich kein großer Fan dieser Veranstaltungen war.

Suchend sah ich mich nach der kleinen Gruppe um, mit der ich hergekommen war. Caroline und Serena hatte ich im Laufe der letzten Minuten in der Menge verloren. Tammy war schon vor einer Stunde mit einem Typen verschwunden.

Natürlich hätte ich auch zuhause bleiben können, doch selbst die langweiligste Party war besser, als meiner Mitbewohnerin und besten Freundin dabei zuzusehen, wie sie ihren Freund anhimmelte. Die beiden warfen sich oft so verliebte Blicke zu, dass man als Single in tiefe Depressionen gestürzt wurde. Noah und Grace waren so ekelhaft glücklich, dass ich ab und zu eine Pause von ihnen brauchte – obwohl ich Grace liebte wie eine Schwester und Noah gelernt hatte, zu ertragen. Niemals würde ich es vor ihm zugeben, aber er war ein netter Kerl. Und das Wichtigste: Er war gut zu Grace.

Ein paar Jungs tanzten grölend auf den Tischen und zerrten dabei an ihren Klamotten, was mein Zeichen sein sollte, das Weite zu suchen. Die erste Regel jeder Verbindungsparty lautete: Wenn sie anfangen, sich ausziehen, ziehst du dich besser zurück.

Mit meinem Pappbecher bewaffnet, schob ich mich durch die tanzenden Menschenmassen. Mehrmals musste ich mich an jemandem festhalten, um nicht auf meinem Hintern zu landen. Das Bier hatte seine Wirkung eindeutig nicht verfehlt. Ich war ein klein wenig angetrunken. Fast hatte ich die rettende Tür erreicht, als ich ihn sah. Joshua Sanders stand keine zehn Meter von mir entfernt am Absatz der Treppe, die vom Eingangsbereich des riesigen Verbindungshauses in das obere Stockwerk führte, wo sich die Schlafzimmer befanden.

Obwohl es längst nicht mehr Sommer war, trug er zu seiner dunklen Jeans nur ein dünnes schwarzes T-Shirt. Das dunkelblonde Haar sah aus, als wäre er bereits unzählige Male mit den Händen hindurchgefahren. Er sah gut aus, doch das tat er eigentlich immer. Warum hatten die Typen mit dem miesesten Charakter meist das schönste Gesicht? Und den schönsten Körper. Den durfte man in Joshua Sanders’ Fall nicht vergessen, das käme Blasphemie gleich.

Neben Josh stand eine Blondine, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Natürlich. Es waren immer Blondinen. Sie schmiegte sich an ihn, klimperte mit ihren perfekten Wimpern und machte ihm eindeutige Avancen, die er jedoch nicht erwiderte. Denn Joshs Blick bohrte sich in meinen. Ohne zu blinzeln und so durchdringend, als würde er versuchen, meine Gedanken zu lesen. Auf seinen Lippen lag dieses wissende Lächeln, das schon früher mein Verhängnis gewesen war. Ich musste hier weg. Weg von ihm und diesem dumpfen Gefühl in meiner Brust, das sein Anblick immer in mir auslöste.

Die kalte Nachtluft fühlte sich himmlisch an, wenn man Stunden in einem überfüllten, stickigen Raum verbracht hatte. Ich sog sie so tief ein, wie ich nur konnte. Die gleichmäßigen Atemzüge halfen dabei, einen klaren Kopf zu bekommen, waren aber nutzlos, wenn es darum ging, Josh und sein Date zu vergessen. Da ich alles mied, was auch nur entfernt mit Football zu tun hatte, und wir völlig unterschiedliche Fächer studierten, lief ich ihm nur selten über den Weg. Ein paar Mal im Jahr sah ich ihn zufällig in der Mensa. Und auch dank Grace’ Beziehung zu seinem ehemaligen Mitbewohner waren wir uns manchmal unfreiwillig begegnet. Doch Joshua Sanders war der letzte Mensch, mit dem ich mich in einem Raum befinden wollte. Was nicht einer gewissen Ironie entbehrte, wenn man bedachte, dass ich immer noch – nach all den Jahren - regelmäßig von ihm träumte. Mindestens einmal im Monat wachte ich morgens mit dem Wissen auf, dass es ein mieser Tag werden würde, weil ich diese irrationalen Gedanken an ihn nicht unter Kontrolle bekommen würde.

Nachdem ich Caroline eine kurze Nachricht geschickt hatte, dass ich nach Hause gehen würde, schlüpfte ich in meine Jacke. Das gute Stück war ein Zufallsfund aus einem Secondhandladen. Grünes Leder und original aus den Siebzigern, wie die Verkäuferin mir mehrmals versichert hatte. Ich war auf den ersten Blick verliebt gewesen. Doch so schön wie die Jacke auch aussah, leider war sie viel zu dünn für diese kühle Nacht. Die kalte Herbstluft hatte Columbus seit zwei Wochen fest im Griff. Bis zu meinem Wohnheim waren es zum Glück nur knapp zwei Meilen. Erfrieren würde ich nicht, auch wenn es sich momentan so anfühlte.

Ich war erst wenige Minuten gelaufen, als ich laute Schritte hinter mir hörte. Mein Herzschlag beschleunigte sich und mir lief ein Schauer über den Rücken. Jeder kannte die Geschichten von jungen Mädchen, die nachts allein unterwegs waren. Warum hatte ich mir bloß kein Uber gerufen?

Krampfhaft versuchte ich, mich an den Selbstverteidigungskurs zu erinnern, den ich vor einigen Jahren mit Grace besucht hatte. Vergeblich. Während ich mich dafür wappnete, einfach nur zu schreien, falls mir jemand zu nah kam, wurden die Schritte schneller. Mutig, wie es nur Angetrunkene sein konnten, drehte ich mich ruckartig um. »Ich habe eine Waffe und keine Skrupel, sie einzusetzen!«

»Woah, ganz ruhig. Ich hatte nicht vor, dich auszurauben.«

Vor mir stand niemand Geringeres als der Typ, vor dem ich geflüchtet war. Josh streckte mir die Handflächen entgegen, als würde er mich damit besänftigen können. Obwohl ich leicht benebelt war, bemerkte ich, wie eng sein T-Shirt saß und wie sich jeder Muskel seines Oberkörpers darunter abzeichnete. Das Universum wollte mich doch verarschen. »Hau bloß ab.« Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, wirbelte ich herum und ließ ihn stehen.

Weit kam ich nicht. Nach wenigen Metern hatte er mich eingeholt und lief neben mir her. »Du solltest nicht allein nach Hause gehen.« Er sah auf seine Armbanduhr. Wer zur Hölle trug heutzutage überhaupt noch so ein Ding? »Es ist schon spät, und man weiß nie, wer sich hier draußen rumtreibt.«

Langsam zählte ich bis zehn, darum bemüht, gleichmäßig und tief zu atmen. Das würde mich eventuell davon abhalten, ihn hier und jetzt umzubringen. Als ich mich beruhigt hatte, soweit das in seiner Gegenwart überhaupt möglich war, warf ich ihm einen – wie ich hoffte – abweisenden Blick zu. »Lass mich einfach in Ruhe. Du bist der letzte Mensch, der irgendein Recht hat, sich Sorgen um mich zu machen.« Mit Genugtuung, auf die ich nicht stolz war, sah ich, wie er unter meinen Worten zusammenzuckte.

So schnell, wie sich der verletzte Ausdruck auf seinem Gesicht abgezeichnet hatte, war er jedoch wieder verschwunden. Josh grinste mich an, während er weiter neben mir herlief. »Ist es als alter Freund nicht meine Pflicht, aufzupassen, dass du heil zuhause ankommst?«

Ich musste lachen. Ein zynisches Lachen, das ich so nicht von mir kannte. »Wir waren nie Freunde, Josh.« Wir waren so viel mehr gewesen.

»Dann ist es eben meine Pflicht als guter Amerikaner.«

»Ich verzichte.«

»Ist mir egal.« Er klang wie ein kleines, trotziges Kind, das seinen Willen nicht bekam. »Dann muss ich eben zufällig in dieselbe Richtung.«

»Was eine Lüge ist, wie wir beide wissen.« Sein Wohnheim lag am anderen Ende des Campus. Eine Information, die ich dank Grace hatte. Es war nicht so, dass mich irgendetwas interessierte, das mit Joshua Sanders zu tun hatte.

»Wer sagt, dass ich nach Hause will?« Wenn er sich einen Spaß daraus machen wollte, mich zu provozieren, gelang ihm das außergewöhnlich gut. »Ich kenne genug Leute in deinem Wohnheim.«

»Da bin ich mir sicher.« Frauen hatten sich ihm schon immer an den Hals geworfen. Seit ich ihn kannte, war er optisch auf einer Skala von eins bis zehn eine glatte Zwanzig.

»Ich meinte damit Jungs aus dem Team, Em.« Konnte der Mistkerl jetzt auch schon meine Gedanken erraten? »Tom und Djamal wohnen einen Stock unter dir.«

»Die werden sich bestimmt über deinen Besuch freuen.« Ich versuchte, so viel Sarkasmus wie möglich in meine Stimme zu legen.

Seine Antwort war lediglich ein Schulterzucken.

Er machte mich wahnsinnig. »Ist dir nicht kalt?« Joshs dünnes T-Shirt war weiß Gott nicht für dieses Wetter geeignet.

»War das ein Angebot? Willst du mich wärmen?« Vermutlich bildete ich es mir nur ein, doch ich hätte wetten können, dass sich sein Blick für einen Atemzug verdunkelte.

»Es war der Versuch herauszufinden, ob du in absehbarer Zeit erfrierst und mich von meinen Leiden erlöst.«

»Autsch. Das war nicht nett.«

Schnaubend beschleunigte ich meine Schritte. In den nächsten Minuten liefen wir schweigend nebeneinander her. Mit jedem Meter wuchs in mir der Drang, ihn loszuwerden. Jahrelang hatte ich es vermieden, mich in Joshs Nähe aufzuhalten. Dass wir nebeneinander durch die Nacht stapften, als wäre nie etwas passiert, fühlte sich so unglaublich falsch an. Es war dem Alkohol geschuldet, dass ich in der irrsinnigen Hoffnung, ihn doch noch abhängen zu können, mein Tempo weiter erhöhte. Nüchtern wäre mir wahrscheinlich klar gewesen, dass mir der vermutlich beste Runningback, der jemals an der Ohio State gespielt hatte, sportlich überlegen war. Nach Ende meiner wenig ruhmreichen Cheerleader-Karriere hatte ich es nie mehr ernsthaft mit Sport versucht. Zu mehr als meinem monatlichen Alibi-Yoga konnte ich mich nicht aufraffen.

»Rennst du jetzt vor mir weg?« Seiner Frage folgte ein lauter Fluch, als ich um die nächste Ecke bog und ihn hinter mir ließ. »Em, das ist doch kindisch.« Damit mochte er recht haben, doch es war mir egal. Als er mich nach wenigen Metern eingeholt hatte, fasste er mich an den Schultern und zog mich zu sich herum. Durch den abrupten Stopp drohte ich, die Balance zu verlieren, doch bevor ich hinfiel und mich damit noch lächerlicher machte, schlang Josh seine Arme um meine Taille.

Das letzte Mal hatte er mich vor vier Jahren berührt, doch mein Körper schien sich noch gut daran zu erinnern, wie es war, von ihm gehalten zu werden. Mein Atem ging schwer, was nicht nur an meinem Spurt lag. Obwohl ich wusste, dass ich mich von ihm losreißen und ihm am besten gegen das Schienbein treten sollte, tat ich nichts davon. Mit einem Mal war ich wieder das dumme, naive, sechzehnjährige Mädchen, das allein durch Joshs Nähe drohte, seinen Verstand zu verlieren.

»Em.« Er lockerte den Griff und streckte die Hand aus, fast so, als würde er meine Wange berühren wollen. Kopfschüttelnd, als wäre ihm bewusst geworden, was er da tat, ließ er sie wieder sinken. »Können wir reden, Em?«

Joshua Sanders hatte viele Attribute, die für ihn sprachen. Den Körper eines Sportlers, die wirren dunkelblonden Locken, die immer so aussahen, als wäre er eben erst aufgestanden. Das markante Kinn, die vollen Lippen ... Mein persönlicher Untergang waren jedoch schon immer seine braunen Augen gewesen, die jede Gefühlsregung preisgaben. Josh mochte ein Meister darin sein, seine Gedanken vor der ganzen Welt zu verbergen, aber seine Augen verrieten ihn, wenn man ihn kannte. Gefangen in seiner Umarmung, beobachtete ich den Sturm in seinem Blick. »Was willst du von mir, Josh?« Meine Stimme war überraschend fest und klar, wie ich es mir selbst in dieser Situation kaum zugetraut hätte.

»Können wir ...« Er stockte und rieb sich mit der Hand, die eben fast meine Haut berührt hatte, nervös über den Hinterkopf. »Kann ich es dir erklären?«

Ungläubig trat ich einen Schritt nach hinten und löste mich von ihm. »Meinst du das ernst?«

Als würde mit einem Mal die Welt um uns herum stillstehen, starrten wir uns an. Endlos scheinende Sekunden verstrichen, bevor er zaghaft nickte. »Bitte, Em.«

All die Wut, die ich in den letzten Jahren tief in mir vergraben hatte, kämpfte sich an die Oberfläche. Was zum Teufel ließ ihn glauben, dass ich ihm auch nur eine Sekunde lang zuhören würde? »Nach vier Jahren willst du mit mir reden? Nach vier verdammten Jahren?« Meine Worte klangen in meinen Ohren zu schrill und zu laut, doch es war mir egal, ob uns jemand hörte. Sollte ganz Columbus doch erfahren, welch ein Mistkerl er war. »Ist dir vielleicht in den Sinn gekommen, dass es mir mittlerweile scheißegal sein könnte, was du mir zu sagen hast?«

»Em, ich ...« Josh rang nach Worten, seinen Blick weiterhin in meinen gebohrt. »Fünf Minuten, mehr will ich nicht.«

»Was immer du zu sagen hast, ist keine fünf Sekunden meiner Zeit wert.« Die giftigen Worte verfehlten ihr Ziel nicht. Josh sah aus, als hätte ich ihn geschlagen. »Es ist mir egal. Du bist mir egal.« Eine Lüge, doch das würde er niemals erfahren. »Lass mich einfach in Ruhe und sprich nie wieder mit mir.« Mein Herz schien mir aus der Brust springen zu wollen, so hart hämmerte es. Zu oft hatte ich mir ausgemalt, wie es sich anfühlen würde, Josh zu zeigen, dass er mir nicht mehr wichtig war. In der Realität spürte ich nichts von dem Triumph dieses Augenblicks, der in meiner Phantasie zu einem Rettungsanker für mein gebrochenes Herz geworden war. »Fahr zur Hölle, Joshua Sanders.« Ohne auf seine Erwiderung zu warten, drehte ich mich um und brachte mit schnellen Schritten so viel Entfernung zwischen uns, wie ich nur konnte.

Meine Hände waren zu Fäusten geballt, als ich sie tief in den Taschen meiner Jacke vergrub. Jahrelang hatte ich es vermieden, Josh allein zu begegnen. Ich war ihm aus dem Weg gegangen, so gut es ging, nur um mich dann von ihm nach dieser blöden Party abfangen zu lassen. Als hätte ich nicht gewusst, was passieren würde, wenn ich mit ihm sprach. Schon immer hatte er diese Wirkung auf mich gehabt. Er musste mich nur ansehen, und alles in mir erinnerte sich daran, wie es gewesen war, von ihm geliebt zu werden. Diese wenigen Monate mit ihm hatten sich in mein Herz eingebrannt. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte die Gefühle nicht abschütteln, die nur er in mir auslöste. Lange hatte ich mir eingeredet, dass es einfach nur daran lag, dass er mein erster Freund gewesen war. Mein erstes Date, mein erster Kuss, mein erster Sex. Josh war hunderte erste Male für mich gewesen. Bis er sich dazu entschlossen hatte, nichts mehr für mich sein zu wollen.

Als er mich erneut einholte, wagte er es immerhin nicht, mich zu berühren. Er schnitt mir einfach nur den Weg ab und baute sich in all seiner Größe vor mir auf, als könnte er mich dadurch zwingen, mit ihm zu sprechen. »Der Scheiß muss aufhören, Emily.« In seinem Blick war nichts mehr von der Verletzlichkeit zu erkennen, die sich dort noch vor wenigen Augenblicken abgezeichnet hatte. Josh sah unglaublich wütend aus.

»Du meinst, es muss aufhören, dass du mir hinterherrennst?« Ohne ihn aus den Augen zu lassen, verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Damit hast du ausnahmsweise recht.«

»Wenn du nicht vor mir flüchten würdest, müsste ich dir nicht hinterherlaufen.«

Ich schnaubte bei dieser Dreistigkeit. »Darauf kannst du lange warten.« Ich machte einen Schritt zur Seite, um ihn zu umrunden, was Josh jedoch mit einer spiegelverkehrten Bewegung beantwortete, sodass er mir weiterhin den Weg verstellte. »Hältst du mich jetzt gegen meinen Willen fest? Selbst einem Typen wie dir hätte ich mehr zugetraut.«

»Meinst du das ernst?« In seine Wut mischten sich Entsetzen und Ungläubigkeit. »Du denkst, ich bin so ein Kerl?«

»Sieht ganz so aus.« Es war unfair, ihm etwas vorzuwerfen, von dem ich wusste, dass es nicht auf ihn zutraf. Josh mochte tausend Fehler haben, aber ich hätte mein Leben darauf verwettet, dass er eine Frau niemals zu etwas zwingen würde.

»Wie kann ich dich dazu bringen, dass du mit mir sprichst?« Er trat einen Schritt zur Seite, um mir den Weg freizugeben. »Em. Bitte.«

Wie angewurzelt blieb ich stehen und betrachtete ihn stumm im Schein der Straßenlaterne hinter mir. All die Wut, die ich für ihn empfand, verschwand nicht einfach, weil er entschieden hatte, mir irgendetwas erklären zu wollen, für das es keine Erklärungen gab. »Lass es einfach, okay?«

»Das habe ich versucht. Hat nicht besonders gut funktioniert.« Seine Worte wurden von einem angedeuteten Lächeln begleitet. »Ich brauche nur ein paar Minuten.«

»Es gibt nichts zu sagen.« Betont gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. »Das ist alles lange her, und ich kann mich kaum daran erinnern.« Eine offensichtlichere Lüge hatte es in der Menschheitsgeschichte vermutlich niemals gegeben. Keinen unserer gemeinsamen Momente hatte ich vergessen. Viele davon hatte ich im Laufe der Zeit skizziert und es bis heute nicht übers Herz gebracht, die Zeichnungen wegzuwerfen. Sie lagen gut versteckt in einer Kiste unter meinem Bett, wo sie niemand finden würde.

»Du hast uns vergessen?« Josh schob sich die Hände in den Nacken, wie er es schon immer getan hatte, wenn er nervös war. Manche Dinge änderten sich niemals. »Ich glaube dir nicht, Em. Kein Wort.«

»Ach, nein?«

»Nein.« Josh sah mir in die Augen, ohne dabei zu blinzeln. »Wenn es dir egal wäre, würdest du mich nicht so sehr hassen.«

Hass. Welch ein grässliches Wort. Am liebsten hätte ich ihm einfach zugestimmt, um meine Ruhe zu haben, aber ich brachte es nicht über mich, Josh ins Gesicht zu sagen, dass ich ihn hasste. Weil es schlicht nicht der Wahrheit entsprach, doch das musste er nicht wissen. »Ich will dich einfach nur nicht sehen, okay?« Wenn meine Stimme anfangs noch hart und bestimmend geklungen hatte, hörte ich mich jetzt eher flehend an. Josh plötzlich wieder so nah zu sein, erinnerte mich daran, wie es gewesen war, bevor er mir das Herz gebrochen hatte. »Ich kann das einfach nicht.«

Er sah mich an, als würde er nach einer Antwort auf eine Frage suchen, die er mir nicht gestellt hatte. Ich spürte förmlich, wie sein Blick über meine Haut glitt und an meinen Lippen hängen blieb, bevor er mir wieder in die Augen sah. »Es sind mehr geworden.« Er lächelte, als er die Hände tief in den Hosentaschen vergrub. »Ich mag es, dass du sie nicht mehr versteckst.«

Hatte ich seinen ersten Satz auch nicht verstanden, wusste ich durch den zweiten, was er meinte. Josh hatte meine Sommersprossen schon immer mehr gemocht als ich. Mit sechzehn hatte ich oft erfolglos versucht, sie unter Make-up zu verstecken. »Joshua, bitte.« Sein Gesichtsausdruck war so sanft und liebevoll, dass es mir die Luft abschnürte.

»Damals waren es genau sechsundvierzig.« Josh drehte den Kopf und musterte mich eingehend. »Jetzt sind es viel mehr.«

»Willst du wirklich mitten in der Nacht auf der Straße stehen und über meine Sommersprossen reden?« Außerstande, ihm weiter in die Augen zu sehen, senkte ich den Blick auf meine Füße, die in viel zu dünnen Sneakers steckten. Die Kälte kroch an meinen Beinen nach oben und ließ mich frösteln. »Ich sollte nach Hause gehen.«

»Ich weiß, dass ich dich verletzt habe, Em.« Welch eine Untertreibung. Josh hatte mir das Herz aus der Brust gerissen und in tausend Einzelteile gesprengt. »Wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich das tun.« Er atmete ein paar Mal schwer aus und wieder ein. »Aber das kann ich nicht.«

»Nein, das kannst du nicht.« Seine Worte schickten mich auf eine Zeitreise und erinnerten mich an den Tag, an dem er mich für seine damalige Ex-Freundin verlassen hatte. Damals hatte ich mir geschworen, dass ich niemals wieder jemandem erlauben würde, mich so sehr zu verletzen. Ich war nicht mehr das naive, dumme Mädchen mit den großen Träumen, das sich von einem hübschen Lächeln und ein paar Sprüchen blenden ließ. Heute war ich stärker. Daran konnte auch Josh Sanders nichts ändern, egal wie herzzerreißend er mich ansah. »Es ist lange vorbei.« Ich wiederholte abermals, was ich schon in den letzten Minuten zu ihm gesagt hatte. »Es gibt keinen Grund für uns, das wieder aufzuwärmen.«

»Das weiß ich, Em, aber ...« Er stocke. »Gott, ich bin so ein Vollidiot.« Josh trat einen Schritt von mir zurück, was mir schmerzlich bewusst machte, wie nah wir uns gewesen waren. Nur wenige Zentimeter hatten uns voneinander getrennt. »Du hast recht. Ich sollte dich in Ruhe lassen und einfach verschwinden.« Seine Worte wurden von einem kehligen Lachen begleitet. »Das ist mir allerdings noch nie leichtgefallen. Ich habe dich auf der Party gesehen und du hast die Kette getragen.« Das traurigste Lächeln der Welt zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Es war eine dumme Idee.«

Meine Finger umschlossen den silbernen Anhänger, der an einem schlichten Lederband um meinen Hals hing. Ich hatte ihn gekauft, als ich Josh an einem unserer ersten gemeinsamen Wochenenden mit sanfter Gewalt dazu gezwungen hatte, mit mir einen Flohmarkt zu besuchen.

Josh holte sein Handy aus der Tasche, schaltete das Display ein und hielt es mir entgegen. «Ich bin ein sentimentaler Trottel, wenn es um dich geht.«

Als ich sein Hintergrundbild sah, stockte mir der Atem. Es war ein Foto, das ich vor mehr als vier Jahren gemacht hatte. Nur wenn man ganz genau hinsah, erkannte man, was darauf abgebildet war. Bei einem unserer ersten Dates waren wir händchenhaltend durch die Nacht spaziert, bis wir es nicht mehr länger aufschieben konnten, uns zu trennen, und Josh mich nach Hause bringen musste. Wir hatten noch ewig vor meiner Haustür gestanden und einfach nur geredet. Es war einer der schönsten Abende meines Lebens gewesen. Bei der Erinnerung zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Ich war so unglaublich verliebt gewesen. Josh hatte irgendwann einen Kugelschreiber aus der Tasche gezogen und mir seinen Arm mit der Aufforderung entgegengehalten, ihm etwas von mir mit auf den Weg zu geben. Über das ganze Gesicht grinsend, hatte ich seinen Unterarm mit einem verschnörkelten Muster verziert und anschließend ein Foto davon gemacht. Es war so unglaublich kitschig gewesen. So unglaublich perfekt.

Ich zwang mich, von Joshs Display aufzusehen. »Warum zeigst du mir das?« Wenn er wollte, dass ich ihm verzieh, erreichte er damit genau das Gegenteil. Indem er mich an unsere glücklichsten Tage erinnerte, wirkten all die hässlichen Dinge, die danach passiert waren, noch viel grauenhafter.

Josh ließ sein Telefon unruhig von einer Hand in die andere wandern. »Lass mich dich begleiten, Em. Mehr will ich nicht.« Bevor ich ihm sagen konnte, dass er mit all den Erinnerungen zur Hölle fahren sollte, suchte er meinen Blick. »Grace wird mich kastrieren, wenn ich dich mitten in der Nacht allein nach Hause laufen lasse.«

Grace, die mit ihrem Freund in unserem kleinen Apartment übernachtete, hatte sicherlich Besseres zu tun, als sich um mich zu sorgen.

Schweigend vergrub ich die Hände wieder in den Taschen meiner Jacke und machte mich auf den Weg. Wie ich es erwartet hatte, folgte er mir. Ich war ihm dankbar dafür, dass er nicht mehr versuchte, mir ein Gespräch aufzudrängen. Erst als wir vor meiner Wohnungstür standen, räusperte er sich leise.

»Nicht.« Ich hob die Hand. »Du hast mich nach Hause gebracht, und jetzt trennen sich unsere Wege wieder.« Ich hatte den Schlüssel bereits ins Schloss gesteckt, als ich mich noch einmal zu ihm umdrehte. Mein Verstand wusste, dass ich ihn einfach stehen lassen sollte. Mein dummes Herz aber wollte sich noch nicht von ihm verabschieden. So nah würden wir uns vermutlich nie wieder kommen.

Den Rücken gegen die Wohnungstür gepresst, ließ ich meinen Blick von seinem T-Shirt über seinen Adamsapfel bis zu seinem Kinn wandern, auf dem ich im grellen Neonlicht der Lampe über uns dunkelblonde Stoppeln erkannte. Über seiner rechten Augenbraue zeichnete sich eine feine Narbe ab, die er früher noch nicht gehabt hatte. Bei jedem anderen Menschen hätte dieser Makel dafür gesorgt, dass er weniger perfekt wirkte. Bei Josh hatte es den gegenteiligen Effekt. Wenn es überhaupt möglich war, machte es ihn noch anziehender. Der Mann, der heute vor mir stand, war viel gefährlicher als der Teenager, der mich mit einem Blick aus seinen braunen Augen um den Verstand gebracht hatte. Josh strahlte Selbstsicherheit aus, wie es nur Männer konnten, die wussten, wer sie waren und was sie vom Leben wollten. Als ich tief einatmete und all meinen Mut zusammennahm, um ihm in die Augen zu sehen, erkannte ich mit absoluter Klarheit, was Josh in diesem Moment wollte. Er wollte mich. Sein Blick klebte an meinen Lippen. Es lag ein Hunger darin, den ich noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Mich zu ihm umzudrehen, war ein Fehler gewesen. Ein sehr, sehr großer Fehler.

»Wie betrunken bist du, Em?« Josh stützte sich rechts und links neben meinem Kopf ab und war mir dadurch mit einem Mal so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spürte. Vier Jahre hatte ich versucht, jegliche Erinnerung an ihn auszulöschen. Gelungen war es mir nie. »Em?« Sein Lächeln traf mich völlig unerwartet, als er die Frage leise wiederholte. »Bist du sehr betrunken?«

»Was? Wieso?« Ich fixierte einen imaginären Punkt über seiner linken Schulter.

»Du weißt wieso.« Er hatte den Nerv zu zwinkern.

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Lügnerin.« Er beugte sich weiter nach vorn, bis uns nur wenige Millimeter voneinander trennten.

Es wäre so einfach, die letzte Distanz zu überbrücken. »Ich bin völlig betrunken. Morgen werde ich mich an nichts erinnern.« Eine erneute Lüge. Unser Spaziergang durch die kalte Nachtluft hatte dafür gesorgt, dass ich wieder vollkommen klar im Kopf war.

»Das ist ziemlich schade.« Josh biss sich auf die Unterlippe, machte jedoch keinerlei Anstalten, mir ein wenig mehr Platz zu geben. Ich war gefangen zwischen ihm und der Tür, die ich theoretisch nur aufstoßen musste, um dieser Situation und ihm zu entkommen. »Soll ich nach Hause gehen, Em?«

Ja. Ich sollte Ja sagen und ihn fortschicken. Aber ich war dumm. Dumm und von all den lang vergessenen Gefühlen benebelt, die seine Nähe an die Oberfläche brachte. Ja war die richtige Antwort. Die vernünftige Antwort. Ja war kein gebrochenes Herz. Ja war mein Leben ohne ihn. Ja war die neue Emily. Ja war Verstand. Ja war alles. Und doch war ohne ihn alles immer nichts gewesen. Nein. Nein, nein, nein ... Mein Kopf dröhnte, mein Herz überschlug sich in einem rasenden Takt, meine Hände bewegten sich, als hätte ich keine Kontrolle über sie. Als meine Fingerspitzen seine Wange streiften, zuckten wir beide unter dem Schock der plötzlichen Berührung zusammen. Es war vertraut und doch so neu.

»Wir sollten das nicht tun.« Mit dem letzten bisschen Verstand versuchte ich, mich davon zu überzeugen, dass diese Sache keine gute Idee war.

Er drehte den Kopf und hauchte mir einen Kuss auf das Handgelenk. »Nein, sollten wir nicht.«

Dem ersten, zarten Kuss folgten weitere, bis ich seine Zungenspitze spürte, die federleicht über meine Haut strich. Mein Kopf sank gegen das Holz der Wohnungstür, während Josh weiter sanfte Küsse auf meine Hand hauchte. Wo auch immer seine Lippen auf meine Haut trafen, stand ich in Flammen. Diese Berührungen sorgten dafür, dass ich ihm am liebsten an Ort und Stelle die Kleider vom Leib gerissen hätte. Es war nicht auszudenken, was er mit mir anstellen könnte, wenn wir uns nicht in einem grell beleuchteten Flur befänden.

Seine Hände wanderten an mir herab, bis er meine Taille umfasste und mich ohne Vorwarnung in einer fließenden Bewegung näher an sich heranzog. So nah, dass sich meine Brüste gegen seinen warmen Oberkörper pressten. All meine Sinne waren darauf gepolt, Josh zu spüren. Seinen Atem an meinem Ohr zu hören und seinen einzigartigen Geruch aufzunehmen. Er roch nach frisch gewaschener Wäsche, seinem Aftershave und etwas, das ganz er selbst war.

»Em?« Er beugte sich vor und vergrub sein Gesicht an meinem Hals, wo er mit seinen Lippen sanft über meine Haut strich. Sein Dreitagebart kratzte mich dabei leicht und sandte mit jeder Bewegung kleine Stromstöße durch meinen Körper. »Wenn du nicht bald die Tür öffnest, bieten wir dem Nächsten, der vorbeikommt, eine grandiose Show.«

Das war der Moment, der mich aus meiner Josh-Trance holen sollte. Der Moment, in dem ich meinen Verstand einschalten und ihn von mir stoßen sollte. Doch ich war zu berauscht, um überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Aber es war nicht der Alkohol, der meine Sinne benebelte. Es waren Josh und dieses einzigartige Gefühl, ihm wieder nah zu sein.

Mit zitternder Hand suchte ich hinter meinem Rücken nach dem Schlüssel und fand ihn nach endlos scheinenden Sekunden, in denen sich Josh einen Weg von meinem Hals bis zu meinem Schlüsselbein küsste. Die Tür sprang auf, und ich stolperte rücklings in den Flur meines kleinen Apartments. Der Mann, von dem ich mir geschworen hatte, nie wieder auf ihn hereinzufallen, folgte mir, ohne zu zögern.

Hold My Girl

Подняться наверх