Читать книгу Hold My Girl - Nadine Wilmschen - Страница 7
3. Kapitel
ОглавлениеVöllig übernächtigt schlich ich gegen acht Uhr am nächsten Morgen aus meinem Zimmer und direkt in das kleine Bad, das ich mir mit Grace teilte. So wie ich aussah, fühlte ich mich auch: beschissen. Meine Haare machten den Anschein, als würden Vögel darin nisten. Ich band sie mit wenigen Handgriffen zu einem unordentlichen Dutt. Nach einer Nacht ohne Schlaf hob sich das flammende Rot nicht sehr vorteilhaft von meiner hellen Haut ab. Man sagte, dass die Naturhaarfarbe einem immer am besten stand. Mein Spiegelbild behauptete jedoch etwas ganz anderes. Vielleicht war es mal wieder Zeit für eine pinke Phase. Seufzend wusch ich mir die letzten Reste meines Make-ups aus dem Gesicht, putzte mir die Zähne und fühlte mich danach mehr wie ein Mensch.
Als ich kurz darauf das Wohnzimmer betrat, bot sich das Bild eines typischen Samstags. Grace saß mit einer Kaffeetasse in der Hand im Schneidersitz auf dem Boden vor der Couch, und auf dem Fernseher lief irgendeine Netflix-Doku. Neben ihr hockte Noah, der dem Programm jedoch keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Er war damit beschäftigt, Grace in seinen Armen zu halten, ihr ab und an einen Schluck ihres Kaffees zu klauen und dabei unglaublich zufrieden auszusehen.
»Guten Morgen.« Er hatte mich entdeckt, bevor ich etwas sagen konnte.
»Hey.« Müde ließ ich mich auf die Couch fallen. Immer wenn Noah in Ohio war, übernachtete er bei uns. Anfangs hatte ich den beiden so viel Privatsphäre wie möglich gegeben, bis Grace mich eines Tages zur Rede gestellt hatte. Sie wollte nicht, dass ich mich ausgeschlossen fühlte, es wäre schließlich auch meine Wohnung. Seitdem ließ ich die beiden in Ruhe, wenn sie in Grace’ Schlafzimmer Dinge taten, von denen ich nichts wissen wollte. Der Rest der Wohnung war jedoch keine Sperrzone mehr, und ich bewegte mich einfach so, als wäre Noah nicht da – schwierig, wenn man bedachte, dass der Typ mindestens eins neunzig groß war. Genauso wie Josh. Ein wenig hilfreicher Gedanke, der mich daran erinnerte, warum ich kein Auge zugetan hatte.
»Soll ich dir einen Tee machen?« Grace sah mich mit einem Blick an, den ich von meiner Mutter kannte. »Wirst du krank?«
»Ich habe nur schlecht geschlafen.«
»Da bist du nicht die Einzige.« Noah schnappte sich die Tasse seiner Freundin, bevor er mich mit hochgezogener Augenbraue musterte. »Wie betrunken bist du gewesen? Als du die Türen um drei Uhr morgens zugeknallt hast, dachte ich zuerst an ein Erdbeben.«
Grace stieß Noah mit dem Ellenbogen unsanft in die Rippen. »Du wolltest nichts sagen.«
»Nein, du wolltest, dass ich die Klappe halte.«
Ihre Augen blitzten – Noah war definitiv in Schwierigkeiten. Auch wenn wir uns in den letzten Monaten aneinander gewöhnt hatten, genoss ich es fast zu sehr, wenn Grace ihm die Hölle heiß machte. »Es ist sehr nett von Em, kein Problem damit zu haben, dass du immer wieder hier übernachtest.«
»Natürlich.« Noah nahm einen großen Schluck von seinem gestohlenen Kaffee. »Aber ist das ein Grund, mitten in der Nacht so einen Lärm zu veranstalten?« Seine nächsten Worte waren wieder an mich gerichtet. »Ich weiß es zu schätzen, dass du mich nicht längst rausgeschmissen hast, Em. Wirklich. Aber ich muss in zwei Stunden zum Flughafen, um zum Training heute Abend zurück zu sein. Ich kann da nicht völlig übermüdet auftauchen.«
Seit einigen Monaten spielte Noah in der NFL. In der fucking NFL, wie Grace nicht müde wurde, immer wieder stolz zu betonen. Die beiden hatten Glück gehabt. Sein Team waren die Chicago Bears, was nur eine Entfernung von einigen hundert Meilen und nicht einmal eine ganze Stunde Flugzeit bedeutete.
»Es tut mir leid.« Dass nicht ich es gewesen war, die die Türen geknallt hatte, mussten weder Grace noch Noah wissen. »Nächstes Mal bin ich leiser.« Niemals wieder würde ich so kopflos sein und die Nacht mit Josh verbringen. Der Sex war gut gewesen. Sehr gut. Der ganze emotionale Ballast, den ich mit mir rumschleppte, war es jedoch nicht. Mit jemandem zu schlafen, über den man nie ganz hinweggekommen war, war der Anfang jeder Katastrophe. Um das zu wissen, musste man nicht erst unzählige schlechte Liebesfilme gesehen haben.
»Bist du jetzt zufrieden?« Grace nahm Noah ihren Kaffee mit einem genervten Schnauben ab.
Lächelnd zog er sie auf seinen Schoß und schmiegte sich an sie. »Du bist nicht böse auf mich.«
»Bin ich nicht?«
»Kannst du gar nicht sein, Baby.«
Das Gesicht meiner besten Freundin verzog sich zu einer schiefen Grimasse. »Könnte sich ändern, wenn du mich weiter Baby nennst. Du weißt, wie sehr ich das hasse.«
»Genau deswegen sage ich es ja.«
Kopfschüttelnd drehte sich Grace ein wenig, bis sie ihm in die Augen sehen konnte. »Warum genau bin ich noch mal mit dir zusammen?«
»Weil ich die Liebe deines Lebens bin? Der Traum deiner schlaflosen Nächte? Weil du ohne mich vollkommen verloren wärst?« Eins musste ich Noah Preston lassen, Humor hatte er.
»Vielleicht auch einfach nur, weil du der größte Spinner bist, der mir jemals begegnet ist.« Ihre Stimme war liebevoll.
Als sie ihm einen Kuss auf die Lippen hauchte, war das für mich der Augenblick, das Weite zu suchen. »O-kay, ich lasse euch dann wohl besser allein.« Immer noch schrecklich müde, stand ich von der Couch auf, um mich aus dem Staub zu machen.
»Du musst nicht gehen.« Grace war wie immer darum bemüht, dass ich mich nicht wie das fünfte Rad am Wagen fühlte. »Noah wollte gleich Frühstück machen.«
Der Angesprochene sah irritiert zwischen uns hin und her. »Wollte ich das?«
»Jap, wolltest du.« Grace lächelte so zuckersüß, dass auch ich ihr nichts hätte abschlagen können.
Noah seufzte leise. »Du hast es gehört, Em. Ich mache gleich Frühstück, und du bist herzlich eingeladen.«
»Klingt verlockend, aber ich bin mit Annie verabredet.«
»Um diese Zeit?« Grace sah mich mitleidig an.
Niemand außer Annie würde Verabredungen an einem Wochenende auf den frühen Morgen legen. »Das ist schon okay.« Ich war zwar todmüde, konnte aber sowieso nicht schlafen. Die Erinnerungen an die vergangene Nacht tanzten noch viel zu lebendig durch meinen Kopf.
Als ich den kleinen Coffeeshop am Rande des Campus betrat, wartete Annie bereits an einem Tisch in einer abgeschirmten Ecke auf mich. Vor ihr standen zwei große Becher. Sie schob einen in meine Richtung, kaum dass ich mich gesetzt hatte.
Der wohlige Duft von Kräutertee stieg mir in die Nase. »Du bist ein Engel.« Gierig nahm ich einen Schluck, bevor ich mich aus meinem Mantel schälte. »Dafür besorge ich uns gleich Donuts.«
»Danke, aber ich habe schon gefrühstückt.« Annie strich sich eine dunkle Locke aus der Stirn, während sie mich eingehend musterte. »Willst du darüber reden?«
»Worüber?« Hatte sie einen sechsten Sinn entwickelt und sah Menschen an, wenn sie Sex gehabt hatten, den sie am nächsten Tag schrecklich bereuten? Das war eine ziemlich gruselige Vorstellung.
»Hast du heute Nacht geschlafen?« In ihrer Stimme lagen ehrliches Interesse und so viel Empathie, wie ich sie nur von Annie kannte. Von all meinen Freunden war sie diejenige, die ein besonderes Gespür dafür hatte, wenn mit jemandem etwas nicht stimmte. »Du musst nicht drüber reden, aber manchmal hilft das.« Lächelnd nahm sie einen Schluck aus ihrem Becher. »Danach erzähle ich dir von den neuesten Marsha-Katastrophen.«
Marsha war ihre Mitbewohnerin aus der Hölle. Sie war laut, unangenehm extrovertiert, brachte ständig neue Typen mit nach Hause und machte keinen Hehl daraus, dass sie Annie für eine langweilige Streberin hielt. An guten Tagen ignorierten sich die beiden, an schlechten war Marsha einfach nur ekelhaft zu ihr. »Was hat sie jetzt wieder getan?«
»Du willst ablenken.« Annie zwinkerte mir über den Rand ihres Kaffees hinweg zu. »Dann hat es was mit Josh zu tun.«
Die ganze Geschichte unserer unrühmlichen Vergangenheit kannte nur Grace. Annie wusste jedoch, dass ich seit unserer gemeinsamen Highschool-Zeit in Newark nicht gut auf ihn zu sprechen war. Mehr als einmal hatte sie mit mir die Mensa verlassen, sobald Josh aufgetaucht war. Dass sie meistens keine Fragen stellte, rechnete ich ihr hoch an. Heute war jedoch anscheinend nicht meistens.
»Ich bin ihm gestern Abend über den Weg gelaufen.«
»Auf der Verbindungsparty?« Annie verzog das Gesicht. »Wäre ich doch bloß mitgekommen.«
»Nein, das ist schon okay.« Vielleicht hätte sie als mein Puffer verhindert, dass ich mit Josh im Bett gelandet wäre, aber ich konnte es ihr nicht ankreiden, dass sie keine Lust auf diese Veranstaltungen hatte.
»Du bist aber nicht allein hingegangen, oder?« Die Sorge in ihrer Stimme war rührend. »Allein auszugehen, ist gefährlich, Em.«
»Es war nur eine Party. Ich bin nicht der Mafia beigetreten.« Auf keinen Fall würde ich Annie erzählen, dass ich ohne Begleitung nach Hause hatte laufen wollen – bevor Josh diesen Plan durchkreuzt hatte. »Drei Mädchen aus meinem Zeichenkurs waren dabei.« Dass ich die alle im Verlauf des Abends verloren hatte, erzählte ich Annie besser nicht.
»Okay, gut.« Sie wirkte beruhigt, während sie mich über den Rand ihres Bechers beobachtete.
Manchmal vergaß ich, dass Annie so ganz anders aufgewachsen war als Grace und ich. Ihre Großmutter hatte sie aufgezogen und erfolgreich von allem abgeschirmt, was für Kinder und Jugendliche normal war. Annie war nicht einmal auf eine staatliche Schule gegangen. Sie öffnete sich zwar mit jedem Tag mehr, doch eine Studentenparty war immer noch eine große Sache für sie.
»Also ... Josh? Hast du mit ihm gesprochen?«
Meine erste Reaktion war ein ungläubiges Lachen. Ja, so konnte man es auch ausdrücken. Gesprochen hatten wir. Jedenfalls anfangs. »Du hast mich nie gefragt, was zwischen Josh und mir passiert ist. Warum nicht?«
»Wenn du darüber reden willst, wirst du das irgendwann tun.« Annie klang, als wäre es ganz normal, dass es Dinge in meinem Leben gab, die ich nicht teilte. »Es ist deine Entscheidung und nichts, wozu ich dich drängen sollte.«
Mit einem Mal wollte ich ihr davon erzählen. Musste es sogar. Um vielleicht begreifen zu können, wie ich letzte Nacht diese riesige Dummheit hatte machen können. »Josh war mein allererster Freund. Ich war sechzehn, er siebzehn. Wir waren auf derselben Highschool in Newark.«
Annie lächelte mir aufmunternd zu, während ich versuchte, die richtigen Worte für etwas zu finden, das mich mehr als alles andere auf der Welt verletzt hatte.
»Er war damals schon der große Football-Star.« Bei der Erinnerung an all die Mädchen, die stets versucht hatten, seine Aufmerksamkeit zu erregen, seufzte ich leise. »Und er hatte eine Freundin. Vanessa. Was mich natürlich nicht davon abgehalten hat, mich in ihn zu verlieben.« Gedankenverloren rührte ich mit dem kleinen Holzstäbchen in meinem Tee herum. »Ich habe mir nie irgendwelche Chancen ausgerechnet.«
Zum ersten Mal, seit ich meine unrühmliche Geschichte begonnen hatte, unterbrach Annie mich. »Warum nicht?«
»Weil er eine Freundin hatte und hundert andere hätte haben können.« Vielleicht war es ein blödes Klischee, dass gutaussehende Sportler für jedes Mädchen an der Highschool die ultimative Beute waren. In Joshs Fall hatte dieses Klischee leider der Wahrheit entsprochen. »Ich war mir sicher, dass er nicht mal wusste, wer ich bin.«
»Aber das tat er doch?«
Bei der Erinnerung an den Abend, der alles zwischen ihm und mir verändert hatte, nickte ich. »Auf einer Party hat er sich zu mir gesetzt. Wir hatten so viel Spaß, und später hat er mich nach Hause gebracht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie aufgeregt ich war.«
»Das kann ich tatsächlich nicht.« Annie lächelte gequält.
»Sorry, tut mir leid.« Vor einigen Monaten hatte sie Grace und mir gestanden, dass sie noch nie einen Freund gehabt hatte. Für uns völlig okay, war es für Annie manchmal schwierig, dass ihr so viele Erfahrungen fehlten, die die meisten bereits als Teenager machten.
»Er hat dich nach Hause gebracht. Und dann?« Wenn meine unsensible Bemerkung sie verletzt hatte, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Am nächsten Tag hat er mich angerufen. Bis heute weiß ich nicht, woher er meine Nummer hatte.«
»Und seine Freundin? Vanessa?«
Den Vanessa-Teil hatte ich tatsächlich vergessen. Aus gutem Grund. Wenn ich an sie dachte, konnte ich meine Eifersucht selten unterdrücken. »Josh hatte sich kurz zuvor von ihr getrennt. Sie war furchtbar, und das sage ich nicht nur, weil ich ihn mochte. Vanessa war eines von den Mädchen, die anderen gern das Gefühl geben, klein und unbedeutend zu sein.«
»Hm.« Annie legte die Stirn in Falten. »Dann erscheint es logisch, dass sie sich an den gutaussehenden Sportler herangemacht hat, der bei allen beliebt war.«
So hatte ich das nie gesehen. »Josh hat wohl zu ihrem Image gepasst.«
»Klingt alles wie ein schlechter Teenie-Film.« Ein breites Grinsen zierte ihr Gesicht. »Das hinterhältige, populäre Mädchen, das sich den gutaussehenden Sportler schnappt, nur um ihn am Ende an das nette Mädchen von nebenan zu verlieren.«
»Nur hat der Teenie-Film meistens ein Happy End.« Im wahren Leben gab es das nur selten. Ich war das beste Beispiel dafür.
»Wie war es?«
Verständnislos sah ich sie an. »Was meinst du?«
»Wie war es, mit Josh zusammen zu sein?«
Einige Sekunden kramte ich in meinen Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit, bevor ich hilflos den Kopf schüttelte. »Es war ... anders, wenn das irgendeinen Sinn ergibt.«
»Wenn du nicht darüber reden willst, ist das vollkommen okay.« Annie meinte es ernst. Dass sie die Grenzen anderer Menschen nie übertrat, war eine der Eigenschaften, die ich besonders an ihr mochte. »Aber wenn ich schon kein eigenes Liebesleben habe, partizipiere ich gern an deinem. Wenn du das Bedürfnis hast, mit jemandem darüber zu sprechen.« Dass sie Worte wie partizipieren benutze, gehörte ebenfalls auf die Liste ihrer reizenden Eigenarten.
»Eines Tages wird dir jemand über den Weg laufen und dich umhauen.« Annie war so großartig, sie würde sicher nicht allein bleiben.
»Umhauen?« Sie lachte leise in ihren Kaffeebecher. »Ein Taschendieb vermutlich.«
»Wenn er niedlich ist.« Wenig erwachsen streckte ich ihr die Zunge raus, was sie nur noch mehr kichern ließ.
»Sollte ich irgendwann so weit sein, dass ich ernsthaft überlege, mit einem Kriminellen auszugehen, hältst du mich bitte davon ab.«
»Was ist mit James?« Grace und ich hatten mehrmals erfolglos versucht, sie und den netten Typen aus ihrer Lerngruppe zusammenzubringen. Er und Annie wären perfekt füreinander. Beide schüchtern, liebenswert, zurückhaltend.
Wie jedes Mal, wenn ich seinen Namen erwähnte, schüttelte Annie vehement den Kopf. »Ich will nicht aus Mitleid verkuppelt werden.«
»Das hat doch nichts mit ...«
»Doch, es wäre Mitleid. Und eigentlich wolltest du mir von Josh erzählen, oder?«
Sie hatte recht. Nach der vergangenen Nacht musste ich mit irgendwem reden, sonst würde ich wahnsinnig. »Glaubst du mir, wenn ich sage, dass ich es nicht richtig beschreiben kann?« Beiläufig riss ich kleine Stücke von der Serviette in meiner Hand und verteilte sie wie Konfetti auf dem Tisch. »Er war ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe. Natürlich hatte ich mir in meiner Verliebtheit ein Bild von ihm zusammengesponnen, aber das hatte so gar nichts mit der Realität zu tun.«
Nachdenklich sah sie mich an. »Seine Freundin zu sein, war nicht so toll, wie du es gehofft hast?«
»Nein.« Das war das Verrückteste an der Sache gewesen. »Es war perfekt.« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Seit diesem ersten Abend waren wir unzertrennlich. Es hat sich sofort richtig angefühlt.« Manchmal waren Erinnerungen bitter und süß zugleich. Alles, was mit Josh zu tun hatte, war fein säuberlich in Schwarz und Weiß aufgeteilt. Weiß für die Zeit, bevor er mich verlassen hatte. Schwarz für alles, was danach kam. Und mit der letzten Nacht hatte sich diese einfache Ordnung zu einer grauen, undurchsichtigen Masse vermischt.
»Aber wieso habt ihr euch dann getrennt?«
»Josh hat mich wohl nicht so gerngehabt wie ich ihn.« Auch nach all den Jahren war da immer noch die Angst, dass ich für ihn nur ein unbedeutender Zeitvertreib gewesen war. »Eines Tages stand er vor meiner Tür und hat mir aus heiterem Himmel erklärt, dass er nicht mehr mit mir zusammen sein will. Und dass ich hätte wissen müssen, dass es nichts Ernstes zwischen uns war.«
»So ein ... blöder ... dummer ... Schuft.« Mein Papierkonfetti flog in alle Richtungen, als Annie achtlos mit dem Arm über den Tisch fegte.
»Schuft?« Trotz des fürchterlichen Themas zauberte mir Annies kleiner Ausbruch ein Lächeln auf die Lippen. »Wir müssen echt an deinem Schimpfwort-Repertoire arbeiten.«
Ihre Antwort war ein wenig damenhaftes Schnauben. »Wenn ich Josh das nächste Mal über den Weg laufe, wird mir sicherlich was Besseres einfallen.«
»Du kennst noch nicht die ganze Geschichte.« Da ich ihr den Anfang erzählt hatte, konnte ich ihr das Ende nicht vorenthalten. »Kurz nach unserer Trennung war er wieder mit Vanessa zusammen und ist mit ihr gemeinsam nach Michigan gezogen und wohl auch dort aufs College gegangen.« Ich kannte diesen Teil nur aus Berichten anderer. Damals wurde viel geredet. Mein letztes Highschool-Jahr war schrecklich gewesen. Immer wieder war ich durch die brodelnde Gerüchteküche an Josh und Vanessa erinnert worden.
Annie sah mich entgeistert an. »Er hat dich für seine Ex verlassen?«
»Jap.« Auch wenn sich bei den Erinnerungen mein Magen zusammenkrampfte, versuchte ich, zu lächeln. »Aber das ist noch nicht alles.«
»Oh Gott.« Annie stützte ihr Kinn auf ihren Händen ab und sah mich aus großen Augen an. »Wenn du mir die ganze Geschichte erzählt hast, werde ich ihn nicht mehr mögen, oder?«
Damit entlockte sie mir ein leises Lachen. »Keine Ahnung. Ich habe es selbst nie geschafft, ihn wirklich zu verabscheuen.«
»Okay, dann ...« Sie nickte mir aufmunternd zu. »Ich bin gewappnet.«
»Er hat es mit Vanessa so ernst gemeint, die beiden haben sogar ein Kind zusammen.« Dies war der Teil, der immer noch am schwierigsten für mich war. Joshs Gefühle für Vanessa waren so stark gewesen, dass er sogar eine Familie mit ihr gegründet hatte.
»Er hat ein Kind?« Annies Augen wurden riesengroß.
»Eine Tochter. Lilly.«
»Und was ist mit Vanessa?«
Da Noah lange der Mitbewohner von Josh gewesen war, wusste ich durch ihn, dass die Kleine bei Joshs Eltern aufwuchs und ihn oft am Wochenende besuchte. »Josh und Vanessa sind nicht mehr zusammen. Warum sie sich letztlich getrennt haben, weiß ich nicht.« So genau wollte ich das alles auch gar nicht wissen – das redete ich mir jedenfalls an guten Tagen ein. Es war aufwühlend genug, Annie davon zu erzählen. Von einer Geschichte, die ich bis heute nicht verstand.
»Ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht damit.« Annie ließ sich auf ihrem Stuhl nach hinten sinken und musterte mich eingehend. »Du liebst ihn immer noch.«
Lange hatte ich nicht mehr darüber nachgedacht, wie sich meine Gefühle für Josh im Laufe der Zeit verändert hatten. Vor vier Jahren war ich unglaublich verliebt gewesen. Später war da nur noch Wut. Dann kam die Sehnsucht und nach ihr das Eingeständnis, dass ein Teil von mir immer an ihm festhalten würde. Es war pathetisch, aber vielleicht stimmte der alte Spruch, dass man die erste Liebe nie wirklich vergaß. »Ich weiß nicht, ob man das Liebe nennen kann. Vermutlich nicht. Er fehlt mir in der Erinnerung.« Eine Mischung aus Nostalgie und Sehnsucht hatte mich gestern Nacht kurz meinen Verstand vergessen lassen. Den Josh von vor vier Jahren würde ich immer in meinem Herzen tragen. Dem Typen, der mich verlassen hatte, um ein Kind mit einer anderen zu zeugen, würde ich niemals verzeihen können.
»Gerade finde ich es gar nicht mehr so schlimm, dass ich vermutlich als einsame, alte Jungfer sterben werde, die mit hundert Katzen zusammenlebt.«
Wie schwarz ihr Humor manchmal sein konnte, war Annie vermutlich nicht bewusst. Lachend stupste ich ihr gegen den Oberarm. »Zwei, das ist das Limit. Jede weitere potenziert nur deine Chancen, als verrückte Katzenfrau zu enden.«
»Ich mag Katzen.«
»Ich auch, aber hundert sind vielleicht zu viele.«
»Fünfzig?«
»Immer noch zu viele.«
»Zehn und keine weniger.«
Kopfschüttelnd stand ich auf und kramte ein paar Geldscheine aus meiner Hosentasche. »Ich hole uns neuen Kaffee und Tee. Ist das okay, Catwoman?«
»Cappuccino, bitte.«
»Sollst du haben.«
Kaum hatte ich die Theke erreicht, wurde die Tür des Coffeeshops aufgerissen. Mit der frischen Morgenluft wehte ein kleines, lachendes Mädchen mit langen blonden Locken hinein. Als ich bemerkte, wer dicht hinter der Kleinen folgte, spannte sich jeder Muskel in meinem Körper zum Bersten an. Josh blieb abrupt stehen und sah mich eine Millisekunde an, bevor er sich abwandte und das Mädchen auf seine Arme hob. Nachdem ich ihn gestern Nacht rausgeschmissen hatte, war nicht zu erwarten gewesen, dass er mir bei unserer nächsten Begegnung um den Hals fiel. Nicht dass ich das gewollt hätte. Aber dass er mich behandelte, als wäre ich Luft, fühlte sich mies an - auch wenn es das nicht sollte.
»Was kann ich dir bringen?« Der Typ hinter dem Tresen klang genervt, als hätte er mir die Frage schon mehr als einmal gestellt.
»Einen Cappuccino und einen Kräutertee.« Vermutlich bildetet ich es mir nur ein, aber ich hätte schwören können, dass ich Josh leise lachen hörte.
Das kleine Mädchen, Lilly, zeigte auf jeden einzelnen Donut in der Auslage. Dabei versuchte es, Josh davon zu überzeugen, dass die rot glasierten viel besser schmeckten als die blauen. Er machte sich einen Spaß daraus, ihr vehement zu widersprechen. Als meine Getränke fertig waren, hatten sie sich auf einen grünen Donut geeinigt.
Mit nervösen Fingern und schwerem Herzen nahm ich die Pappbecher entgegen. Weit kam ich jedoch nicht: Annie drückte mir meinen Mantel in die Hand, während sie mir gleichzeitig ihren Cappuccino abnahm. »Lass uns hier verschwinden.« Dankbar flüchtete ich ins Freie, ohne mich noch einmal umzusehen.