Читать книгу Hold My Girl - Nadine Wilmschen - Страница 8
4. Kapitel
ОглавлениеDie nächsten sieben Tage waren geprägt von dem meisterhaftesten Selbstbetrug, den die Menschheit je erlebt hatte. Wenn ich nicht darüber nachdachte, was zwischen mir und Josh passiert war, war es dann überhaupt real? Wenn man nicht über Sex sprach, löste er sich dann in Bedeutungslosigkeit auf?
Ein in der Theorie genialer Plan, der jedoch mehr als einmal davon durchkreuzt wurde, dass der ganze Campus mit Plakaten und Postern der Bucks gepflastert war. Einem Footballer aus dem Weg zu gehen, war an dieser verdammten Uni so gut wie unmöglich. Football war überall. An den Wänden, im Uni-Radio, auf den Trikots, die die Studenten trugen - und selbst in meinem Apartment in Form meiner besten Freundin, die dank ihres Freundes Gefallen an diesem dämlichen Sport gefunden hatte.
»Hey.« Grace stürmte durch die Tür, als wäre sie auf der Flucht. Sie raste an mir vorbei in die Küche, und ich hörte, wie sich der Kühlschrank öffnete und wieder schloss, bevor sie mit einem Schokoriegel im Mund und einer Flasche Saft in der Hand zurück ins Wohnzimmer hetzte.
Stirnrunzelnd legte ich meinen Skizzenblock zur Seite und betrachtete Grace, die sich aus ihren Klamotten schälte, während sie aß. »Alles okay?«
»Jap.« Sie warf Schuhe, Jacke und Pulli achtlos auf die Couch, bevor sie eilig einen Schluck Orangensaft trank. »Ich bin nur super spät dran und sollte eigentlich schon auf dem Weg sein.« Sie warf einen Blick auf ihr Handy, bevor sie an mir vorbei hetzte. »Fuck.«
»Kann ich dir irgendwie helfen?« An der dummen Skizze saß ich ohnehin schon viel zu lange. Es war einer der Tage, an denen ich nichts Brauchbares zu Papier brachte. Langsam rappelte ich mich auf und folgte den leisen Flüchen, die aus Grace’ Zimmer drangen.
Als sie mich im Türrahmen stehen sah, warf sie mir ihren Kulturbeutel mit einem flehenden Blick zu. »Kannst du mir meinen Kram aus dem Bad einpacken, bitte? Das wäre toll.«
»Du fliegst zu Noah.« Eine Frage war unnötig, ich sah ihren geröteten Wangen an, dass ihr aktueller Zustand etwas mit ihm zu tun haben musste. Er war der einzige Mensch auf der Welt, der diesen Effekt auf sie hatte.
»Ja, das war ganz spontan.« Grace warf achtlos ein paar T-Shirts und Jeans in ihre Reisetasche. »Ich habe in der Vorlesung gesessen und einfach aus Spaß nach Flügen geguckt und dabei einen entdeckt, der spottbillig war. Da musste ich zuschlagen.« Eilig verstaute sie zwei BHs. »Nur leider geht dieser Flug in weniger als zwei Stunden.« Den BHs folgten Slips und ein Pyjama.
»Bezahlt nicht Noah die Flüge?« Da er durch seinen NFL-Vertrag so viel mehr Geld als Grace zur Verfügung hatte, waren die beiden zu der Übereinkunft gekommen, dass er die Reisekosten übernahm, wenn sie ihn besuchte. So lautete jedenfalls mein letzter Wissensstand.
»Pah.« Sie wischte meinen Einwand mit einer flüchtigen Handbewegung weg, bevor sie sich an ihrem Nachttisch zu schaffen machte. »Nur weil er der nächste Tom Brady wird, muss ich mich nicht von ihm aushalten lassen.«
»Der ist Quarterback.«
»Was?« Das Ladekabel für ihr Handy und zwei Bücher flogen in die Reisetasche.
»Tom Brady. Der ist ein Quarterback, kein Runningback wie Noah.«
Grace hielt in ihrer Bewegung inne und musterte mich über den Rand ihrer Brille. »Woher weißt du sowas? Du hasst Football. Offiziell jedenfalls.« Den letzten Satz murmelte sie nur.
»Jeder weiß, wer Tom Brady ist.«
»Wenn du das sagst.«
Als ich mit ihrem Kram aus dem Bad zurückkam, band sie sich gerade die Schuhe zu. »Es tut mir leid, dass ich heute Abend nicht mitkomme, Em.«
»Ach, das ist schon in Ordnung.«
»Nein, wirklich.« Sie richtete sich auf und nahm mich fest in den Arm. »Nächstes Wochenende bin ich hier, und ich verspreche, dass wir dann ausgehen.«
»Vielleicht frage ich Annie.« Das war keine Option, aber das musste Grace nicht wissen. Annie würde sofort zusagen, aber nur, um mir einen Gefallen zu tun, nicht weil sie Spaß an einer Studentenparty hatte.
»Das ist eine großartige Idee.« Sie strahlte mich über das ganze Gesicht an. »Und ich schwöre hoch und heilig, dass ich dich nächstes Mal nicht versetzen werde. Indianerehrenwort.«
»Es ist wirklich okay.« Kopfschüttelnd zwang ich mich zu einem Lächeln, während ich Grace’ Kulturbeutel in ihre Reisetasche stopfte. Ich hatte mich tagelang auf das Wochenende mit ihr gefreut. Nach all den Gedanken an Josh hatte mich die Aussicht auf Musik, Alkohol und eine belanglose Studentenparty mit meiner besten Freundin durch diese beschissene Woche gebracht. Dass sie die Chance nutzte, um zu Noah zu fliegen, konnte ich ihr nicht übelnehmen, enttäuscht war ich dennoch.
»Danke, Em.« Grace drückte mich ein weiteres Mal, bevor sie aus dem Zimmer sprintete. »Hab dich lieb«, waren ihre letzten Worte, bevor die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel.
Zurück im Wohnzimmer schnappte ich mir den Saft, den sie zurückgelassen hatte, und setzte mich wieder im Schneidersitz auf den Boden neben meinen Skizzenblock. Das Portrait, an dem ich schon Tage arbeitete, schien mich vorwurfsvoll anzustarren, bis ich leise seufzend den Block zuklappte und einen Schluck von dem eklig süßen Orangensaft nahm, den Grace über alles liebte. Kurz dachte ich darüber nach, ob ich Annie nicht doch bitten sollte mitzukommen, verwarf die Idee allerdings sofort wieder. Vielleicht sollte ich Ben fragen. Er war Grace’ bester Freund, gleichzeitig Noahs Bruder und meistens für spontanen Quatsch zu haben.
Es vergingen keine sechzig Sekunden, bevor ich auf meine kurze Nachricht eine Antwort erhielt. Ben war zu seinen Eltern gefahren und somit nicht in Columbus. Verdammt. Normalerweise hätte ich Caroline oder Serena angerufen, doch die waren mit Tammy bei dem Konzert einer Indieband, deren Namen ich mir einfach nicht merken konnte.
Also hatte ich zwei Optionen: Zuhause bleiben, weiter die Wände anstarren und dabei an Josh denken, oder ausgehen. Eine Flasche miesen Orangensaft später stand meine Entscheidung fest. Heute Abend fand eine Party hier im Wohnheim statt und zu der würde ich gehen. Auch wenn die Chance bestand, dass ich Josh dabei über den Weg lief. Ich würde mich nicht von ihm dazu bringen lassen, mein Wochenende vor dem Fernseher zu vergeuden.
Der Bass dröhnte mir mit jedem Schritt lauter entgegen, als ich die Treppe in den fünften Stock meines Wohnheims nach oben stieg. Es war nicht unüblich, dass sich ein ganzer Flur zusammenschloss und bis in die Morgenstunden feierte. Meist gab es keine offiziellen Einladungen, alles lief über Mund-zu-Mund-Propaganda, die an der Ohio State stets bestens funktionierte. Finanziert wurde das Spektakel über einen Eintrittspreis von zehn Dollar, den niemand offiziell so nannte.
Die Hausmeister sahen in der Regel über alles hinweg, das am Wochenende auf den Fluren passierte, solange nichts zu Bruch ging und am nächsten Morgen saubergemacht wurde.
Nachdem ich meine zehn Dollar bezahlt hatte, erhielt ich von einem schrägen Typen mit Cowboyhut einen Stempel auf den Handrücken, der mir unbegrenzten Zugang zu den Getränken garantierte. Der Gemeinschaftsraum am Ende des Flurs diente als provisorische Bar, die ich zielstrebig ansteuerte.
Mit einer Bierflasche bewaffnet, suchte ich mir einen Platz am hinteren Ende des Flurs. Vielleicht war jemand hier, den ich kannte. Lange warten musste ich nicht.
Ausgerechnet Jun tauchte nach einigen Minuten aus dem Nichts neben mir auf. »Hey, Em.«
»Hey.« Jun war eigentlich ein netter Kerl, aber unser erstes und einziges Date im vergangenen Jahr hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.
»Ich wollte mir ein Bier holen, soll ich dir was mitbringen?«
Zickiger als es vielleicht nötig gewesen wäre, hielt ich ihm meine fast volle Flasche unter die Nase. »Bin versorgt. Danke.«
»Oh, okay.« Das Lächeln auf seinem Gesicht wich einem Ausdruck, den ich nicht recht deuten konnte. »Es ist gut, dass ich dich hier treffe.«
»Ist es das?« In den letzten Monaten war er mir in allen Kursen, die wir gemeinsam besuchten, aus dem Weg gegangen. Sonderlich gestört hatte es mich nicht.
»Ich wollte mich entschuldigen.« Jun sah mich nicht einmal direkt an. Er wirkte vielmehr so, als hätte ich seinen Hund überfahren. »Unser Date ...«
»Unser Date war eine Katastrophe. Da sind wir uns vermutlich einig.« Was auch immer er von mir wollte, ich brauchte weder seine Entschuldigung noch eine Erinnerung an diesen desaströsen Abend.
»Ja, schon.« Er fummelte nervös am Saum seines Pullovers herum.
»Okay, spuck es aus. Was willst du loswerden?« Wenn ich ehrlich war, war ich nicht mal mehr wirklich böse auf ihn.
Den Blick auf seine Hände gerichtet, holte er tief Luft. »Dass ich es vermasselt habe, weiß ich, aber vielleicht ... vielleicht könnten wir das wiederholen?«
»Du willst noch mal mit mir ausgehen?«
Er nickte, und mir fiel nichts anderes ein, als einen großen Schluck aus meiner Bierflasche zu nehmen. Das konnte nicht sein Ernst sein. Jun war auf dem Papier genau mein Typ. Groß, pechschwarzes Haar, das seine chinesische Mutter ihm vererbt hatte. Ein Künstler, der sich alternativ kleidete und genau wie ich mit großer Begeisterung zeichnete. Im Laufe der Jahre hatten wir viele gemeinsame Kurse gehabt, sodass ich wusste, wie klug er war. Jun sollte mein Typ sein. Er war es nur nicht - und das hatte rein gar nichts mit unserem vermasselten Date zu tun.
»Denk drüber nach, Em.« Das zaghafte Lächeln auf seinem Gesicht erinnerte mich erneut daran, wie attraktiv er war. »Beim nächsten Mal würde es anders laufen.«
»Bist du dir da sicher?«
»Ganz sicher.« Er wirkte entschlossen, dennoch nahm ich es ihm nicht ab.
»Und was sagt dein neuer bester Freund dazu?« Jun schien unter jedem meiner Worte einige Zentimeter zu schrumpfen. »Sicher, dass Josh nichts dagegen hat, wenn du mit mir ausgehst?«
»Em, ich ...«
»Es ist okay, Jun. Wirklich.« Mit einem schrägen Lächeln boxte ich ihm leicht gegen die Schulter. »Wir vergessen das einfach. Freunde?«
Es war offensichtlich, dass unser Gespräch nicht so verlaufen war, wie er es sich vorgestellt hatte, dennoch nickte er. »Freunde.«
Als sich Jun kurz darauf unter einem sehr offensichtlichen Vorwand verabschiedete, lehnte ich den Kopf an die Wand und versuchte mir einzureden, dass ich nicht genau wusste, warum ich Jun nicht wollte. Dieser Selbstbetrug gelang mir nur, bis ich aus dem Augenwinkel ein paar von Joshs Mannschaftskameraden sah. Selbst hier war ich vor Football nicht sicher. Vor Football und Erinnerungen an ein gecrashtes Date.
Jun und ich waren zusammen essen gegangen. In einem kleinen Restaurant in der Nähe. Es war nett gewesen. Angenehm. Bis ausgerechnet Josh mit seinem Date aufgetaucht war. Der Idiot hatte natürlich nicht den Anstand besessen, uns zu ignorieren. Nein, Joshua Sanders hatte sich stattdessen mit der Blondine im Schlepptau an unseren Tisch gesetzt und so getan, als wären wir vier alte Bekannte.
Zu allem Übel hatte er auch noch die Nerven besessen, mich komplett zu ignorieren. Während er sich mit Jun anfreundete, blieben mir nur tödliche Blicke in seine Richtung und die Versuche seiner Begleiterin, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Und sie war nett gewesen. Ich hätte sie mögen können, wenn ich die Tatsache ignorierte, dass sie Josh alle paar Minuten irgendwo anfasste. Hand. Unterarm. Schulter. Oberschenkel. Sie bot mir das komplette Repertoire.
Am Ende des Abends waren er und Jun die besten Kumpel und am nächsten Tag zum Basketball verabredet gewesen. Allein bei der Erinnerung kochte das Blut in meinen Adern. Die Tatsache, dass Josh just in diesem Augenblick um die Ecke bog und von seinen Mannschaftskameraden grölend und lachend empfangen wurde, trug nicht dazu bei, meine Stimmung zu heben.
Aus meiner Ecke am anderen Ende des Flurs beobachtete ich, wie er die Flasche ablehnte, die ihm jemand in die Hand drücken wollte. Aus einem unerfindlichen Grund machte mich das noch wütender. Trotzig zwang ich mich, Josh nicht mehr anzustarren und mir stattdessen ein neues Bier zu holen. Als ich wenige Minuten später zurückkam, war von ihm nichts mehr zu sehen. Vermutlich war das alles hier sowieso unter seiner Würde. Oder er hatte irgendein Mädchen gefunden, das ihn mit nach Hause nahm. Wie überzeugend er sein konnte, wusste ich verdammt gut.
Eine Weile stand ich noch in der Ecke, nippte an meinem Getränk, das mit jedem Schluck schaler schmeckte, und sah den anderen Studenten dabei zu, wie sie Spaß hatten. Einige tanzten, andere flirteten oder saßen einfach nur in Gruppen zusammen. Während der letzten halben Stunde war zwar nicht meine Stimmung, aber immerhin die Musik besser geworden. Waren es anfangs noch Scheußlichkeiten wie Taylor Swift oder Billie Eilish gewesen, die den Flur beschallten, dröhnte seit einer Weile guter, alter Indie Rock aus den Boxen. The Smiths, die Arctic Monkeys und in diesem Moment die White Stripes. Icky Thump war so ein verdammt guter Song, dass ich die Augen schloss und zu den durchdringenden Bässen langsam hin und her wippte.
Als die letzten Töne verklungen waren, öffnete ich meine Augen wieder und erstarrte. »Was zur Hölle willst du hier?« Josh stand in meiner Ecke, den Rücken an die Wand gelehnt, wie ich es selbst noch vor wenigen Minuten getan hatte, und sah mich wortlos an. Heute trug er keines seiner üblichen Football-T-Shirts. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn überhaupt schon einmal in einem Hemd gesehen zu haben. Es war tiefblau, der oberste Knopf geöffnet, die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Dazu trug er eine dunkle Jeans und Sneakers. Ein völlig gewöhnliches Outfit auf einer Uni-Party. Und dennoch sah er darin aus, als könnte man ihn für das Cover der GQ ablichten. Während er mich musterte, verschränkte er die Arme vor der Brust, was nur dazu führte, dass ich im Halbdunkel des Flurs das Spiel seiner Muskeln unter dem Hemd sehr genau beobachten konnte. Ihm blieb nicht verborgen, wie gebannt ich ihn anstarrte. Natürlich nicht. »Gefällt dir, was du siehst, Em?«
»Nimm dich nicht so wichtig, Sanders.« Meine Antwort klang so, wie ich es beabsichtigt hatte. Bissig. Er sollte nicht denken, dass sich durch meine vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit irgendetwas zwischen uns geändert hatte.
»Autsch. Das tat weh.« Theatralisch schlug er sich die rechte Hand vor die Brust. Das amüsierte Blitzen in seinen Augen zeigte, dass er das Ganze hier mehr genoss, als er sollte.
»Wieso bist du nicht bei deinem Team?« Ich nickte in Richtung der Gruppe Footballspieler. Sie wurde mittlerweile von einer Horde junger Frauen belagert, die alle aussahen, als wären sie im ersten Semester. Eine atemberaubend schöne, dunkelhaarige Studentin trug einen kurzen Rock, der eher als breiter Gürtel durchging. Sie war so hübsch, dass es fast unwirklich schien. In dieser Hinsicht glich sie Josh.
»Ich wollte mir ein Wasser holen. Dann habe ich dich hier stehen sehen und dachte, ich sage hallo.« Bei ihm klang es, als wäre es die normalste Sache der Welt. Als hätte ich ihn nicht erst letzte Woche nach dem Sex zuerst aus meinem Bett, dann aus meiner Wohnung geworfen.
»Das hast du ja jetzt getan.« Weil ich nicht wusste, wohin mit meinen Händen, nippte ich betont gelangweilt an meinem Bier. Josh sollte auf keinen Fall merken, wie sehr mir unsere Unterhaltung zusetzte. Die Erinnerung an seine Berührungen war noch zu frisch, als dass ich sie einfach so hätte verdrängen können. Schon gar nicht, wenn er so dicht neben mir stand, dass seine Schulter bei jedem Atemzug gegen meine stieß.
»Man könnte das Gefühl haben, dass du mich loswerden willst.« Ich musste sein Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass sich darauf ein Grinsen abzeichnete, das dieses Grübchen auf seiner linken Wange zum Vorschein brachte.
»Könnte daran liegen, dass es genauso ist.« Schulterzuckend drehte ich den Kopf, was sich sehr schnell als Fehler herausstellte. Als ich mich zu ihm umdrehte, war er mir so nah, dass unsere Lippen nur wenige Zentimeter trennten.
Joshs Atem tanzte bei seinen nächsten Worten federleicht und warm über meine Haut. »Ich wollte dir sagen, dass es mir leidtut, Em.«
Damit hatte ich nicht gerechnet. Die Vorstellung, dass er sich für unsere gemeinsame Nacht entschuldigen wollte, ließ mich erstarren. Vielleicht war er doch betrunken gewesen, obwohl er vollkommen nüchtern gewirkt hatte. Vielleicht bereute er diese Nacht genauso wie ich. Nur aus anderen Gründen.
»Wobei es nicht wirklich eine Entschuldigung ist.« Josh fuhr sich mit der Hand über die Schläfe und wirkte dabei so unsicher, wie ich es nicht oft an ihm gesehen hatte. »Es ist mehr eine Erklärung.«
»Du musst mir nichts erklären.« Was auch immer es war, ich wollte es nicht hören.
»Das weiß ich, aber ich möchte es.«
Es kostete so viel Kraft, wütend auf ihn zu sein. Über Jahre wütend auf ihn zu sein, für etwas, das passiert war, als ich sechzehn gewesen war. Nur mit Hilfe dieser Wut konnte ich es überhaupt ertragen, ihn zu sehen, mit ihm zu sprechen und ihm wieder nah zu sein. Diese Wut war es, an die ich mich klammerte und die mir Kraft gab, während er den Kopf schief legte. »Letzte Woche im Coffeeshop mit Lilly ... Ich mache so was nicht.«
Lilly? Es ging hier um seine Tochter? »Du machst was nicht?«
Seine Brust hob und senkte sich unter zwei tiefen Atemzügen. »Ich stelle ihr keine ... Frauen vor.«
Stumm wie ein Fisch, dazu mit Augen vermutlich so groß wie Untertassen, sah ich ihn an, während er auf seine Lippe biss. »Nicht, dass es viele gewesen wären in den letzten Jahren, aber Lilly soll sich an niemanden gewöhnen, wenn es nicht sicher ist, dass diese Person auch dauerhaft in ihrem Leben bleibt.« Er legte den Kopf in den Nacken und seufzte. »Ich mache es mit jedem Wort schlimmer, oder?«
Tat er das? Was genau ich von dieser Offenbarung halten sollte, wusste ich nicht. Das zwischen uns war ein einmaliger Fehler gewesen. Es gab keinerlei Grund, überhaupt daran zu denken, dass ich seine Tochter jemals kennenlernen würde. Sie hatte im Coffeeshop niedlich ausgesehen. Wie ein Kind eben. Und mit Kindern hatte ich nie viel zu tun gehabt. Das wollte ich in naher Zukunft nicht ändern. Schon gar nicht mit Joshs Tochter.
»Lilly ist sehr anhänglich. Wenn sie einen Menschen in ihr Herz schließt, dann mag sie alles an ihm, und das am besten für immer.« Beim Gedanken an seine Tochter schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. »Ihr würdet euch gut verstehen.«
Mit wirklich vielen Dingen hatte ich gerechnet, aber nicht damit, dass Josh mir erklärte, warum er mir seine Tochter nicht vorstellen wollte. Dieser Grundsatz machte ihn vermutlich zu einem guten Vater, auch wenn der Gedanke, dass er seine Affären vor ihr versteckte, einen sehr faden Beigeschmack hatte.
»Rede mit mir, Em.«
»Was willst du hören?« Hilflos suchte ich nach Worten. »Ich bin nicht davon ausgegangen, dass ich sie kennenlernen werde.«
»Ja, das dachte ich mir.« Dieses Mal lächelte er nur halbherzig. »Du hast jedes Recht der Welt, mich zu hassen. Das weiß ich. Aber wenn du das vielleicht nicht tun würdest, wäre das ...« Den Rest des Satzes ließ er ungesagt.
Während ich in das warme Braun seiner Augen starrte, wurde mir schlagartig bewusst, was hier gerade passierte. Ich geriet wieder in seinen Bann. Wie damals. Josh schaffte es, mich mit ein paar netten Worten und einem Lächeln einzulullen, bis ich vergaß, wer wir waren und warum es zwischen uns nie funktionieren würde. Vor vier Jahren hatte es genauso angefangen. Noch einmal würde ich es mir nicht erlauben, auf seine falschen Versprechungen hereinzufallen. Ich hatte Joshua Sanders einmal überstanden, ich war nicht stark genug für ein zweites Mal.
Ruckartig stieß ich mich von der Wand ab, ließ ihn stehen und flüchtete, so schnell mich meine Füße trugen.
Annie öffnete die Tür nach dem zweiten Klopfen und sah mich aus großen, verschlafenen Augen an. Sie trug einen riesigen, rosa Pyjama mit unzähligen Katzen darauf. »Habe ich dich geweckt?« Daran hätte ich denken sollen, bevor ich sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie war Frühaufsteherin, keine Nachteule wie Grace und ich.
»Nein, ich war noch wach.« Gähnend schüttelte sie den Kopf, und ich ahnte, dass ihre Antwort nicht der Wahrheit entsprach. »Komm rein.«
»Sicher?«
Stumm trat sie einen Schritt zur Seite und hielt mir die Tür noch ein Stück weiter auf.
Ich schlüpfte an ihr vorbei in das kleine Wohnzimmer, das sie sich mit ihrer Mitbewohnerin teilte. In der Wohnung war es mucksmäuschenstill. »Ist Marsha nicht da?«
»Sie übernachtet bei einem Kenneth oder Keith. Ich habe den Namen vergessen.« Annie ließ sich in ihrem wundervollen Katzenpyjama auf die Couch fallen. »Wo ist Grace? Wolltet ihr nicht zusammen zu dieser Party?«
Seufzend setzte ich mich neben sie. »In Chicago. Sie hat einen spottbilligen Flug gefunden und konnte sich das Angebot nicht entgehen lassen. Also bin ich allein gegangen.«
Annie musterte mich mit leicht schief gelegtem Kopf. »Soll ich raten, was passiert ist?«
»Sieht man mir das so deutlich an?« Frustriert ließ ich mich tiefer in die Polster sinken. Diesen Abend hatte ich mir komplett anders vorgestellt.
»Ja. Und bevor du mir erzählst, was er getan hat, mache ich uns einen Tee, okay?« Sie stand auf und steuerte die kleine Küche an, die direkt ans Wohnzimmer grenzte.
»Du hast nicht zufällig Alkohol da?«
»Nein, aber etwas Besseres.« Ich hörte sie in der Küche hantieren, bevor sie mit zwei dampfenden Bechern und einer riesengroßen Tafel Schokolade zurückkam. »Ich weiß nicht, wie gut Alkohol Probleme löst, aber Zucker ist eine wunderbare Hilfe in allen Lebenslagen.« Annie stellte den Tee vorsichtig vor mir ab, bevor sie sich wieder neben mich setzte und leise schlürfend den ersten Schluck von ihrem nahm.
»Du warst noch nie betrunken?«
»Nein.« Sie schüttelte fast entschuldigend den Kopf. »Das steht auf der langen Liste von Dingen, die ich noch tun will und werde.«
»Es gibt eine Liste?« Davon hatte sie noch nie erzählt.
»Ja, aber die ist unvollständig und eigentlich auch belanglos.«
»Was steht da so drauf?« Auch wenn sie behauptete, dass diese ominöse Liste keine große Bedeutung hatte, war ich schrecklich neugierig. Und so lange wir über Annie redeten, musste ich mich nicht mit Josh auseinandersetzen.
»Ach, alltäglicher Kram.« Sie zog die Beine an und schlang die Arme um ihre Knie. »Einen Jahrmarkt besuchen, nachts am Strand sitzen, einen Horrorfilm ansehen. Solche Sachen halt.«
»Einen Strand herbeizuzaubern wird schwierig, aber ein gruseliger Film wäre kein Problem.« Vielleicht konnte ich ihr nicht bei allen Dingen auf ihrer Liste helfen, aber ich würde mein Bestes geben.
»Wie wäre es, wenn du mir erzählst, wie Josh dich aufgeregt hat?«
Es länger hinauszuzögern ergab wohl keinen Sinn. Ich war extra hergekommen, weil ich mit jemandem reden musste. »Er war auch auf der Party.«
»Ich nehme an, ihr habt euch gestritten?« Annie kräuselte unzufrieden die Stirn. »Wie ihr das immer tut.«
Ich stopfte mir ein kleines Stück Schokolade in den Mund und spülte es mit Tee hinunter. »Er macht mich manchmal so wütend.«
»Warum?« Annie sah mich aufmerksam an. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte man annehmen können, dass sie an mir ihre erste Therapiestunde übte. Erst im letzten Semester hatte sie den Studiengang gewechselt und sich für Psychologie eingeschrieben. »Was löst diese Wut aus?«
»Seine pure Anwesenheit.« Ein weiteres Stück Schokolade wanderte in meinen Mund.
»Es gibt sicher etwas, das dich triggert.«
Was mich getriggert hatte? Sein verdammter Penis. Doch das wusste nicht einmal Grace. Wieder auf ihn hereinzufallen, fühlte sich wie eine Niederlage an. Eine Niederlage vor den eigenen, dummen Gefühlen, die sich nicht abstellen ließen. Bei jeder Gelegenheit hatte ich behauptet, dass ich ihn hasste. Nur um dann mit ihm zu schlafen. Annie würde es verstehen, weil sie immer alles verstand. Doch es war mir peinlich und unangenehm, wie willensschwach und dämlich ich gewesen war. »Es reicht, wenn er einfach nur mit mir spricht.«
»Hm.« Sie bedachte mich mit einem langen, intensiven Blick. »Was hat er denn gesagt?«
Schnaubend nahm ich mir noch ein Stück der Schokolade. »Dass ich ihn nicht hassen soll, obwohl ich jedes Recht dazu hätte.«
»Du hasst ihn nicht.«
»Natürlich nicht.« Hilflos warf ich die Hände in die Luft. »Und das ist das fucking Problem. Würde ich ihn hassen, wäre alles so viel einfacher.« Dann hätte ich sicherlich auch nicht mit ihm geschlafen.
»Ich habe letztens einen interessanten Artikel gelesen, der vielleicht nützlich sein könnte.«
Nur mühsam unterdrückte ich ein Stöhnen. »Will ich wissen, worum es darin geht?« Es hatte garantiert etwas mit ihrem Studium zu tun.
»Vielleicht hilft es.«
»Mir kann nur noch ein Exorzist helfen.« Ich war zwar nicht von einem Dämon besessen, jedoch ganz sicher von Josh Sanders.
Annie schlug mir sanft gegen den Oberarm. »Darüber macht man keine Witze.«
Manchmal vergaß ich, wie religiös Annie aufgewachsen war. Die Glaubensdiktatur ihrer Großmutter hatte bei ihr Spuren hinterlassen. »Tut mir leid.«
»Schon okay.« Sie drehte sich zu mir um und sah mich erwartungsvoll an. »Dieser Artikel handelte von einer Studie an einer Uni in Europa. Amsterdam, um genau zu sein.«
Ich bezweifelte, dass mich eine niederländische Uni retten würde, doch Annie war nicht zu bremsen.
»Man hat herausgefunden, dass es sehr hilfreich ist, wenn sich Menschen für schwierige Situationen selbst Regeln aufstellen. Sie halten sich daran, nur weil sie davon wissen. Das funktioniert, auch wenn es eigentlich keinerlei Konsequenzen gibt.«
»Ich verstehe kein Wort.« Wie sollte das mein Josh-Problem lösen?
»Du musst dir für dich selbst Verhaltensweisen überlegen, an die du dich hältst, wenn du Josh begegnest.« Annies Müdigkeit war verschwunden und gruseligem Enthusiasmus gewichen. »Wenn du ihm das nächste Mal über den Weg läufst, weiß du genau, was zu tun ist, und hältst dich unbewusst daran.«
»Und was sollen das für Regeln sein?« Skeptisch knabberte ich an einem weiteren Stück Schokolade.
»Du überlegst dir eine Strategie, die du anwendest, wenn er dich aufregt.«
»Zum Beispiel?«
»Das ist doch ganz einfach.« Annie strich sich ein paar Locken aus der Stirn, die sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst hatten. »Wenn er dich wütend macht, könnte deine Regel lauten, tief durchzuatmen und dich zu verabschieden. So streitet ihr nicht.«
»Er macht mich immer wütend.«
Annie rollte theatralisch mit den Augen. »Das war auch nur ein Beispiel. Die Regel könnte auch lauten, dass du zehn Atemzüge abwartest, bevor du ihm antwortest.«
»Und du glaubst, das funktioniert?«
»Die Forscher an der Universität in Amsterdam tun das.«
Vielleicht wäre ein Exorzist doch die bessere Wahl.