Читать книгу Die Jägerin - Blutrausch (Band 2) - Nadja Losbohm - Страница 9
6. Durst
ОглавлениеAls er fort war, blickte ich auf meine Uhr. Es war 22.45 Uhr. Seufzend schüttelte ich die Krümel von meiner Bettdecke und legte mich wieder hin. Ich wollte versuchen zu schlafen. Ein bisschen Hoffnung, dass ich dieses Mal keine Alpträume haben würde, hatte ich noch. Doch ich irrte mich. Ich hatte wieder den gleichen Traum wie die anderen Male zuvor. Immer wieder sah ich vor mir eine dunkle Gestalt in einen Umhang gehüllt, die mir mein Baby wegnahm und es wegtrug. Ich wollte sie aufhalten, ihr mein Kind entreißen. Aber ich war festgeschnallt auf der Liege. Und wie jedes Mal wachte ich mit rasendem Herzen und Tränen in den Augen auf. Ich fragte mich immer wieder, ob der Traum eine Erinnerung war, die sich im Schlaf bei mir meldete, oder ob es meine Fantasie war, die mir diesen Streich spielte. Ich wusste schon gar nicht mehr, was wirklich war und was nicht.
Zitternd setzte ich mich im Bett auf und schaltete die kleine Lampe auf meinem Nachttisch an. Das Licht brannte in meinen Augen, und ich bekam stechende Kopfschmerzen. Ich sah die Uhrzeit und war erstaunt darüber, wie wenig Zeit erst vergangen war. Gerade einmal eine halbe Stunde. Mein Blick fiel auf das Glas Wasser, welches der Pater dort hatte stehen lassen. Als ich die klare Flüssigkeit sah, musste ich mir unwillkürlich über die Lippen lecken. Nur konnte ich sie nicht befeuchten. Ich hatte gar keine Flüssigkeit mehr in mir übrig. Sie war mit den unendlichen Tränen aus meinem Körper geschwemmt und bisher nicht wieder aufgefüllt worden.
Plötzlich war ich wahnsinnig durstig und schnappte mir das Glas. Meine Hand zitterte, als ich es anhob. Ich hatte kaum Kraft, diese einfache Tätigkeit auszuführen. Schließlich hatte ich seit Tagen nichts gegessen, was mir hätte Energie geben können. Ich musste beide Hände nehmen, damit ich das Gefäß an meinen Mund führen konnte. Aber irgendwie schaffte ich es und nahm einen ersten zaghaften Schluck. Es war wunderbar, die Flüssigkeit an den Lippen zu spüren und wie sie meinen Mund befeuchtete. Die Kühle rann meine Kehle hinunter, und ich spürte, wie sie in meinem Magen landete. Ich setzte das Glas erneut an und leerte es in einem Zug. Aber mein Durst war noch nicht gestillt.
Ich kletterte aus meinem Bett und schwankte in mein Badezimmer. Immer wieder füllte ich das Glas voll und leerte es umgehend. Ich weiß nicht, wie viel ich trank, aber ich fühlte mich erfrischt und nicht mehr dem Wahnsinn nahe wie jemand, der kurz vor dem Verdursten ist. Zufrieden ging ich zurück in mein Bett und legte mich hin. Der Kopfschmerz war schon weniger, und ich schlief schnell ein.
Als ich erwachte, hatte ich wieder Kopfschmerzen. Es war ein Druck, als würde jemand meinen Kopf zerquetschen wollen. Da mir das Wasser schon in der Nacht geholfen hatte, dachte ich, ich müsste vielleicht einfach nur wieder etwas trinken. Somit ging ich ins Bad und trank direkt vom Wasserhahn. Es war mir egal, ob ich mich bekleckerte. Ich wollte nur schnell diesen Schmerz in meinem Kopf loswerden. Leider brachte es mir dieses Mal keine Linderung. Der Schmerz war immer noch genauso schlimm wie vorher. Ich sackte vor dem Waschbecken zu Boden und versuchte nachzudenken, was ich tun konnte. Aber es gab nur eines, was mir dabei helfen konnte, mich besser zu fühlen: etwas zu essen.
Ich hoffte darauf, dass der Pater bald kommen würde, um mir etwas hinzustellen. Doch als ich über seinen letzten Besuch nachdachte, war ich mir nicht sicher, ob er jemals wieder kommen würde. Vielleicht hat er die Schnauze voll von mir und lässt mich jetzt einfach verhungern, dachte ich. So etwas darf er nicht tun, schoss es mir durch den Kopf. Er ist schließlich ein Mann der Kirche. Selbst Gott würde ihm das nicht verzeihen. Oder vielleicht doch?
Mühsam rappelte ich mich auf und kehrte zurück in mein Bett. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis er zu mir kam. Ich konnte ja nicht hinaus.
Das Aufschließen meiner Zimmertür weckte mich auf, und ich sah, wie Pater Michael hereinkam. Sofort entdeckte ich das Tablett auf seinen Händen. Langsam kam er herüber und stellte es neben mein Bett. „Guten Morgen, Ada”, sagte er zaghaft. Er wirkte etwas verunsichert. Vielleicht tat ihm sein Benehmen von gestern leid, als er mir meine Zähne beinahe eingeschlagen hatte? Er beobachtete mich noch einen Moment, und ich wartete darauf, dass er noch etwas sagte. Statt Worten entrann seiner Kehle nur ein betrübter Seufzer. Und mit Erstaunen sah ich zu, wie er den Schlüssel zu meiner Schlafzimmertür auf die Bettdecke legte.
Ich blickte fragend zu ihm auf. Es war das erste Mal seit Tagen, dass wir uns in die Augen sahen. Ohne ein Wort zu sagen, wandte er sich um und ging hinaus. In diesem Moment spürte ich, wie sehr wir uns entfremdet hatten. Ich konnte mich an das letzte Mal, als ich zu ihm etwas gesagt hatte, nicht mehr erinnern. Und er schien mir ebenfalls nichts mehr zu sagen zu haben. Aber ganz aufgegeben hatte er mich anscheinend noch nicht. Schließlich hatte er mir eine weitere Mahlzeit gebracht. Und er hatte mir meine Freiheit wiedergegeben. Dennoch nagte die Frage an mir, was das zu bedeuten hatte. Ich war froh und wahnsinnig dankbar für seine Geste, ja. Aber woher kam dieser plötzliche Sinneswandel?
Während ich weiter nachgrübelte, vertilgte ich mit großem Appetit das Frühstück. Es war die beste Mahlzeit, die ich je gegessen hatte. Es war ein einfaches Sandwich mit Erdbeermarmelade gewesen, und es war einfach himmlisch! Schade, dass es nur ein Sandwich war. Ich hätte am liebsten eine ganze Packung Toastbrot mit Marmelade verdrückt. Aber es war wohl gesünder, wenn ich meinem entwöhnten Magen nicht gleich zu viel zumutete.
Danach fühlte ich mich gleich viel besser. Der Zuckerschub hatte mir genug Energie geliefert, um aufzustehen und mich anzuziehen. Durch meine Essensverweigerung hatte ich mir die Schwangerschaftskilos wieder runtergehungert, sodass mir meine Kleidung immer noch passte. Der Pullover spannte nicht und die Jeans blieb nicht auf halbem Wege stecken, weil der Hintern zu breit und der Bauch zu rund waren. Selbst meine Schuhe glitten leichter über meine Füße als zuvor. Konnte man an dieser Körperstelle abnehmen? Nun ja, ich beschwerte mich nicht. Es gab wichtigere Dinge als überschüssiges Gewicht an den Zehen. Schließlich hatte ich mich dazu entschieden, zum Pater zu gehen, damit wir reden konnten. Er hatte einen versöhnenden Schritt auf mich zu gemacht. Nun war es an der Zeit, dass ich auf ihn zuging.