Читать книгу Dattans Erbe - Nancy Aris - Страница 16
Erste Begegnungen im Block
ОглавлениеIch wollte gerade das Fenster schließen, als ich ein sanftes Klopfen an der Tür hörte. Erst dachte ich, dass die Geräusche vom Nachbarn kämen, aber dann wurde das Klopfen energischer. Und ich hörte eine Stimme.
„Olga, bist du es?“
Was sollte ich machen? Ich hatte gerade erst den Schlüssel bekommen, Nadezhda hatte mich indirekt vor den Nachbarn gewarnt und ich war nicht Olga. Aber was sollte mir eine Frau mit solch zarter Stimme schon antun? Leider hatte ich keinen Spion. Egal, ich schloss auf. Vor mir stand eine zierliche Frau um die dreißig. Sie sah blass und kränklich aus, fast ein bisschen abgemagert. Ihre krumme Haltung ließ sie älter wirken. Sie war in eine dicke Strickjacke gewickelt, die ihr eindeutig zu groß war. Darunter kam eine graue Jogging-Hose zum Vorschein. Die Haare trug sie kurz, einfach abgeschnitten, ohne erkennbare Frisur. Ihr Äußeres entsprach nicht dem Standard der sonst eher schicken und rausgeputzten Russinnen.
„Ach, Sie sind ja gar nicht Olga. Wie schade. Ich hatte die Sluchina unten gesehen und gehofft, dass sich alles wieder eingerenkt hätte.“
Eingerenkt? Die Sluchina? Marina hatte in ihrem Brief angedeutet, dass die Vormieterin lange hier gewohnt hatte und unerwartet ausgezogen war. Das Zimmer sah dementsprechend aus. Aber was hatte das „eingerenkt“ zu bedeuten? Vor mir stand eine verzweifelt wirkende Frau, der ich gerade eine Hoffnung genommen hatte. Bei meinem Anblick wurde sie gleich noch krummer.
„Entschuldigen Sie, ich möchte Sie nicht belästigen. Es ist nur so, dass wir gute Freundinnen sind. Plötzlich war Olga weg. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich mache mir einfach Sorgen. Und als die Sluchina, also ich meine Nadezhda Walentinowna, mir über den Weg lief, hatte ich gehofft, alles wäre wieder beim Alten. Aber entschuldigen Sie, ich habe mich ja nicht einmal vorgestellt. Ich heiße Tatjana, Tatjana Petrowna.“
Sie hielt mir ihre Hand hin und ich erwiderte den zarten, fast lapprigen Händedruck. ‚Die bräuchte mal ein richtiges Steak‘, war mein erster Gedanke …
„Und ich bin Anna. Ich habe die Wohnung hier gerade vor einer halben Stunde gemietet, da wusste ich nichts von einer Olga. Und Nadezhda Walentinowna hat auch nichts erwähnt. Nur ihre Nichte hatte angedeutet, dass die bisherige Mieterin Hals über Kopf ausgezogen ist. Was für Probleme gab es denn? Aber setzen Sie sich doch. Wir stehen hier an der Tür herum wie die Möbelpacker … Leider kann ich Ihnen nichts anbieten, nicht einmal einen Tee.“
Tatjana lachte. „Sie sind nicht von hier, stimmt’s? Bei uns sagt das keiner – „herumstehen wie die Möbelpacker“.
Bei uns auch nicht, dachte ich, aber mir fiel gerade nichts Besseres ein. „Ich bin aus Deutschland, aus Berlin. Zuerst habe ich im Hotel gewohnt, im Versal, aber das ist nichts für mich. Ich bin erst seit ein paar Tagen in Wladiwostok. Im Hotel habe ich Marina kennengelernt. Sie arbeitet an der Rezeption und hat mir das Zimmer hier vermittelt.“
„Im Versal?“
Tatjana musterte mich: Schuhe, Fingernägel, Frisur. Wahrscheinlich hätte ich das nicht sagen sollen. Eigentlich war das Hotel nichts Besonderes, aber sein Ruf aus alten Zeiten hing ihm noch an. Jeder, der Versal hörte, dachte Kempinski. Seine Gäste konnten nur reiche Schnösel sein.
„Es war ein Geschenk, eine sentimentale Geste eines älteren Herrn, der besondere Erinnerungen mit dem Haus verbindet. In seinem Auftrag bin ich auch hier.“
Nun hellte sich das Gesicht wieder auf, vielleicht auch, weil ihr taxierender Blick und die Analyse von Schuhwerk, Zwirn und Haarstyling keinen Anhaltspunkt für überbordenden Reichtum geliefert hatten.
„Das hört sich ja aufregend an. Vielleicht mögen Sie mit zu mir kommen. Dann koche ich uns einen Tee und Sie erzählen mir von Ihrer Mission. Ich habe ganz ausgezeichnete Pasteten. Die hat meine Mutter selbst gemacht und heute Morgen erst vorbeigebracht. Sie ist zu Besuch hier. Mögen Sie Pilze? Sie werden sie lieben!“
Ich dachte an das Archiv, an den Rucksack im Hotel, an Nadezhda – keine Gespräche auf dem Flur bitte … Alles sprach dagegen, diese spontane Einladung anzunehmen. Andererseits … Es war genau das, was ich an Russland so mochte.
„Gern, aber ich kann nicht lange bleiben, weil ich einiges zu erledigen habe. Mein Gepäck ist noch im Hotel.“
Zwei Stunden später saßen wir schon beim Cognac – die bürgerliche Alternative zum Wodka. Ich mochte keine harten Sachen, wollte aber nicht unhöflich sein. Früher wurde mir das oft zum Verhängnis. Heute war ich schlauer und nippte nur ab und zu mal am Glas. Tatjanas Wohnung lag gegenüber, nur zwei Türen weiter. Dass sie komplett anders wirkte, lag daran, weil sie zwei Wohnungen zusammengelegt hatte. Die Trennwand war bis zur Mitte herausgerissen, sodass man direkt in einen großen Raum trat, die Küche. Eigentlich ganz gemütlich, wenn es nur ein Fenster gäbe. Von der Küche kam man in ein Schlaf- und Wohnzimmer. Dort waren neue Wände eingezogen. Die zweite Wohnungstür war mit einem Regal zugestellt. Ein Bad konnte ich nicht entdecken. Man sah, dass viel Arbeit im Umbau steckte. Ich fragte mich, ob Tatjana das alles selbst bewerkstelligt hatte oder ob es einen Mann im Haus gab.
Bisher hatte Tatjana nur von Olga erzählt – wie sie ins Haus gekommen war, was sie beruflich machte und warum es Probleme gab. Für mich hörte sich das alles ein bisschen unheimlich an. Wäre Tatjana mir heute beim Frühstück begegnet und hätte ich erfahren, was hier alles passiert war, wäre ich wahrscheinlich nicht eingezogen. Jetzt war es zu spät. Ich tröstete mich damit, dass vielleicht nur die Hälfte ihrer Geschichten stimmte. Um nicht noch mehr zu erfahren, drängte ich zum Aufbruch. Die Arbeit im Archiv konnte ich abhaken, vielleicht würde ich noch kurz vorbeischauen, um wenigstens ein Findbuch durchzugehen. Aber sicher würde man den Cognac riechen. Nein, das konnte ich nicht riskieren. Trotzdem wollte ich los. Obwohl ich aufstand, legte mir Tatjana noch eine Pastete auf den Teller und redete einfach weiter.
„Jetzt habe ich Ihnen so viel von uns hier erzählt, Anna. Dabei habe ich ganz vergessen, Sie auszufragen, was Sie hierher verschlagen hat. Das holen wir nach, ganz bestimmt. Sie müssen unbedingt wieder zu mir kommen. Jetzt, wo Olga weg ist. Und bitte seien Sie nicht allzu besorgt. Hier wohnen ganz anständige Leute. Man muss sie nur zu nehmen wissen.“ Dann zeigte sie auf den Teller. „Und hier nehmen Sie die Pastete mit auf den Weg.“
‚Zu nehmen wissen‘ – ich kannte ihre Sprache nicht einmal richtig, wie sollte ich wissen, wie wer richtig zu nehmen war. Tatjana kam mir ganz recht. Sie könnte mich in die Hausregeln einweihen und mir erklären, wer welche Macke hatte. Wenn ich recht darüber nachdachte, fand ich es eigentlich ganz spannend. Ich war von meinem Heimatstern in ein mir fremdes Universum geknallt und bekam sogar eine Übersetzerin zur Seite gestellt. Alles würde sich fügen.
„Vielleicht haben Sie am Wochenende Zeit und kommen zu mir zum Tee, Tatjana Petrowna? Da habe ich ein paar Tage, um die Wohnung etwas auf Vordermann zu bringen. Wissen Sie, ich würde die Wände gern streichen. Es sieht alles so alt und abgenutzt aus. Vielleicht finde ich irgendwo auch einen Schrank oder ein Regal. Ich möchte es etwas netter machen, habe nur keine Ahnung, wo hier ein Baumarkt in der Nähe ist. Vielleicht ist es Quatsch, den Aufwand zu betreiben. Und Geld kostet es auch. Aber eigentlich ist es schnell gemacht. Nur ein Tag und danach ist es sicher schöner und ich fühle mich wohler.“
Tatjana sprang vom Stuhl auf und klatschte in die Hände, fast wie ein Kind.
„Ich liebe streichen, das erinnert mich an meine Kindheit, als wir selbst gebastelte Zeitungshüte trugen. Lassen Sie mich Ihnen helfen. Hier hat auch garantiert noch jemand die nötigen Utensilien. Das brauchen Sie nicht kaufen, völlig unnötig. Ich höre mich morgen mal um bei den Nachbarn. Und dann gehen wir mit Wolodja runter in den Keller. Wissen Sie, er ist so etwas wie ein Hausmeister, allerdings ein selbst ernannter. Früher wurde er von der Genossenschaft bezahlt, aber nachdem der Block privatisiert wurde, wollte man dafür kein Geld mehr ausgeben. Trotzdem kommen alle, wenn sie etwas zu reparieren haben oder was brauchen. Und er hilft, weil er es nicht anders kennt. Außerdem hat er Zeit, denn er ist Rentner. Dafür bekommt er von jedem etwas geschenkt: Kartoffeln von Irina, Fisch von Wadim und ich fülle ihm Formulare aus, wenn er Ärger mit den Ämtern hat.
Immer wenn jemand auszieht und Möbel dalässt, schaut Wolodja, was noch zu gebrauchen ist. Dann schafft er das Zeug in seine Schatzkammer – im wahrsten Sinne ein Labyrinth. Sie müssen sich das unbedingt ansehen. Ganz hinten ist das Herzstück, seine Werkstatt, wo er Sachen repariert oder ausbessert. Oft sitzt er aber nur da und hört Radio oder löst Kreuzworträtsel. Wolodja hat mir viel geholfen, als ich eingezogen bin, Sie werden ihn mögen. Lassen Sie uns morgen zu ihm gehen, ich stelle Sie ihm vor.“
Hier lief alles in Zeitraffer. Ich dachte daran, dass ich vor wenigen Stunden nicht einmal wusste, wo ich die Nacht verbringen sollte. Jetzt hatte ich eine Wohnung, eine nette Nachbarin, die offenbar der Schlüssel zu einem mir fremden Mikrokosmos war.
Besser hätte es nicht sein können. Wenn da nicht die Geschichte mit Olga gewesen wäre. „Gern. Aber morgen habe ich zu arbeiten. Ich kann erst am Nachmittag, so gegen fünf.“
„Sehr gut, klopfen Sie einfach bei mir, wenn Sie da sind. Rechts neben Wolodja. Ich bin zu Hause. Meist bin ich da, weil ich von zu Hause aus arbeite. Ich bin Übersetzerin.“
Auch darüber hatten wir kein Wort gesprochen. Nachdem ich mich verabschiedet hatte, ging ich noch einmal in mein neues Domizil. Ich setzte mich aufs Fensterbrett und staunte über den Ausblick. Ja, ich hatte mich richtig entschieden und ich hatte Glück, denn das Hochhaus vor „unserem“ Block lag links von mir. Ich konnte aufs Meer blicken, aber meine Nachbarn fünfzig Meter weiter links schauten auf den Zwanziggeschosser. Wer kam nur auf so eine Idee?
Dann fuhr ich zum Hotel. Im Bus dachte ich die ganze Zeit an Olga. Mir ging die Geschichte nicht aus dem Kopf. Eigentlich war es ja gar keine Geschichte, sondern nur Fragmente und Fetzen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob das, was Tatjana mir erzählt hatte, überhaupt stimmte.
Marina saß immer noch an der Rezeption, offenbar im Dauerdienst rund um die Uhr. Kein Wunder, dass ihre Freundlichkeit irgendwann erschöpft war.
„Und, wie finden Sie die Wohnung? Ist es nicht ein Schmuckstückchen? Ein richtiges kleines Liebesnest, nicht wahr?“
Ich wunderte mich über ihre Offenherzigkeit, denn heute Morgen lautete die Anweisung noch strikt „im Hotel kein Wort!“.
„Man könnte sicherlich Einiges daraus machen, der Ausblick ist toll“, antwortete ich nicht allzu diplomatisch. Ich hatte keine Lust auf das ewige Süßholzraspeln, bei dem jeder wusste, dass der andere ihm etwas vorlog und trotzdem mitmachte. Mir ging Olga nicht aus dem Kopf, darüber wollte ich mehr erfahren.
„Wissen Sie, warum die Vormieterin ausgezogen ist? Kennen Sie sie vielleicht?“
Marina schaute etwas erschrocken auf. Gleichzeitig überspielte sie ihre Unruhe mit einer etwas zu schnell ausgesprochenen Floskel. „Heute die, morgen jene. Wenn ich mir das alles merken wollte, bräuchte ich einen Elefantenkopf.“
Ich wollte so schnell nicht aufgeben, denn heute Morgen hatte Marina erwähnt, dass Olga drei Jahre dort gewohnt hatte. Nichts Flüchtiges. „Olga, sie hieß Olga. Sie selbst haben mir doch in Ihrem Brief geschrieben, dass sie sehr lange dort gewohnt hat. Und jetzt wissen Sie plötzlich gar nichts von ihr?
Marina schaute nach unten. Das alles war ihr furchtbar unangenehm. Das Gespräch war damit beendet.
Eine Stunde später war ich wieder in meinem Block. Da ich nichts zu essen hatte, zog ich gleich wieder los. Kein zweites Mal wollte ich ohne Tee und Gebäck dastehen, wenn Tatjana käme. Gleich hinter unserem Haus gab es ein Lädchen, wo sich die Studenten mit Wodka, Zigaretten und den nötigsten Lebensmitteln eindeckten. Ich fand, was ich brauchte.
Mir gefiel der weitläufige Campus der Meeres-Universität, überall junge Leute – die Studenten mit ihren Freundinnen, grüppchenweise Matrosen, mal in blauer, mal in weißer Uniform. Mein erster Tag fern der Borneckerschen Obhut ging langsam zu Ende und ich fand, dass er gar nicht schlecht verlaufen war.