Читать книгу Dattans Erbe - Nancy Aris - Страница 17

Regentin des Lesesaals

Оглавление

Die Lesesaalchefin schaute etwas desinteressiert von ihrem Buch auf. Offenbar hatte ich sie beim Lesen gestört.

„Ihren Passierschein bitte! Und“, sie zeigte auf eine aufgeschlagene Kladde an der Seite ihres Tisches, „tragen Sie sich ins Benutzerbuch ein.“ Sie verschwand in den Hinterraum, holte meine Akten und legte sie genau auf den Tisch, an dem ich vorgestern gesessen hatte. Dann ging sie wieder zu ihrem Platz und sagte fast lautlos: „So dringend scheint es ja doch nicht zu sein …“

Sollte ich darauf reagieren? War sie im Selbstgespräch? Wer wollte dabei schon ertappt werden? Natürlich war es kein Selbstgespräch, sondern ein Seitenhieb, weil ich gestern nicht da war. Ich musste was sagen, denn ich wollte nicht als faul oder unzuverlässig dastehen.

„Ich musste mich gestern um eine Unterkunft kümmern. Das hat sich hingezogen. Tut mir leid.“

Ljudmila saß mittlerweile wieder hinter ihrem Buch und schaute nur kurz auf. Ihr Blick galt jedoch nicht mir, sondern einem imaginären Punkt neben der Eingangstür. Diese gespielte Ignoranz … Ich wusste ganz genau, dass sie zu gern wüsste, was die Neue aus Deutschland zu berichten hatte. Aber auch ich konnte ignorant sein. Also setzte ich mich wortlos an meinen Tisch und begann zu blättern. Die Akten nahmen mich mit in eine andere Welt. Allein das steife Papier, die aufwendigen Briefbögen und die verschnörkelte, mit Federkiel zu Papier gebrachte Schrift, begeisterten mich. Man sah, dass dieser Art Korrespondenz eine hohe Wertschätzung entgegengebracht wurde. Trotzdem war es kompliziert, das alles zu entziffern. Ich war langsam, verstand fast nichts. Erst nach und nach fuchste ich mich ein. Und obwohl ich kaum etwas fand, das mich weiterbrachte, durchblätterte ich mit Vergnügen einen Folianten nach dem anderen. Notizen machte ich kaum welche. So saß ich bis zum Nachmittag da. Nur einmal ließ ich mir ein Findbuch geben, um neue Akten zu bestellen. Mir dämmerte, dass ich auf diese Weise das Tagebuch nie finden würde. Aber ich verstand mehr und mehr, worum es eigentlich ging. Adolph Dattan war jemand, der in der Bürgerschaft der Stadt einen zentralen Platz innehatte. Er war in unzähligen Gremien, engagierte sich für dieses und jenes, hatte Geld und Einfluss. Die dicken Bände verrieten, dass er angesehen war und die Geschicke der Stadt wesentlich mitbestimmte. Was er nicht alles gefördert hatte … Die Universität hätte es ohne sein Zutun sicher so nicht gegeben. Doch war er nicht nur geachtet, sondern auch beliebt. Die Menschen schätzten ihn – nicht nur seine Geschäftspartner, auch seine Mitarbeiter, ja sogar die Kunden.

Ljudmila schaute ab und an hinter ihrer Brille zu mir rüber, immer unauffällig, aber doch wachsam prüfend. Ich war ein Fremdkörper in diesem Lesesaal und sie wusste nicht, wie sie mit mir umgehen sollte. Eine Historikerin, die nichts aufschrieb, die nur blätterte, manchmal schmunzelte, zuweilen sogar lachte. Ja, einmal musste ich wirklich laut lachen. Dattan war zum Schweizer Honorarkonsul berufen worden und hatte zudem einen Verdienstorden erhalten. Nun befand er es als vordringliche Angelegenheit, die Gouvernementverwaltung über diesen Sachverhalt zu informieren, damit diese die Titel bei künftigen Einladungsschreiben bitte entsprechend verwenden möge.

Dass so jemandem von heute auf morgen fast alles genommen wurde, nicht nur der Besitz, sondern vor allem die Ehre, muss ein Schock gewesen sein. Einen kurzen Moment dachte ich an Olga. Auch sie hatte offenbar viel verloren, aber von ihr wusste ich noch viel weniger. Ich hing in Gedanken ihrer Geschichte nach, dann schaute ich wieder in die Akten. Nein, ich durfte mich nicht verzetteln. Nachher würde ich Tatjana sehen, vielleicht würde ich dann mehr erfahren.

Als ich meine Arbeit beendet hatte und die Akten zum Tisch brachte, kam ein kurzes: „Zurück?“. Ich wusste, dass das im Archiv ausgesprochene „Zurück?“ eigentlich ein: „ganz zurück, ins Depot?“ bedeutete. Keiner gab gern Akten „ganz zurück“. Man konnte nie wissen, ob nicht doch noch etwas nachgeschaut werden musste. Ich brauchte aber keine Nachschlagesicherheit und hatte deshalb zwei Stapel vorbereitet. Der Große links konnte ganz zurück, den Kleinen rechts wollte ich behalten.

„Ja.“

„Das alles hier soll zurück? Haben Sie das überhaupt sorgfältig gelesen? Sie hatten den Stapel gerade mal einen Tag. Ich bezweifle, dass Sie das hinreichend gründlich durchgearbeitet haben.“

Diese graue Maus ging mir schon jetzt auf den Geist. ‚Hinreichend gründlich …‘ Aber ich hatte das untrügliche Gefühl, dass es sie am meisten ärgern würde, wenn ich gar nicht erst darauf reagierte.

„Ich glaube schon“, sagte ich deshalb, lächelte sie an und nahm meinen Passierschein. Das heißt, ich wollte es, denn nun schlug die Regentin zurück.

„Erwähnten Sie nicht vorhin, dass Sie eine neue Adresse haben? Da müssen wir einen neuen Passierschein ausstellen.“ Oje, das konnte dauern …

Dattans Erbe

Подняться наверх