Читать книгу Der Bastard, mein Herz und ich - Nancy Salchow - Страница 11
Kapitel 8
Оглавление18. August 2001
Mama, Papa,
ich lebe noch. Das ist es doch, was ihr euch fragt, wenn ich mich länger als zwei Tage nicht melde, richtig? Die Sorgen aller Eltern, die Gott sei Dank (meistens) unbegründet sind.
Die Wahrheit ist: Ja, es ging mir besser. Und der Abstand tut mir auch nach wie vor gut, aber ich weiß jetzt auch, dass ich vor etwas davongelaufen bin. Etwas, das nun schmerzhaft in mir hochkriecht wie eine heimtückische Krankheit, die ich erfolglos bekämpfen wollte.
Vielleicht ist es nur ein unwichtiges Detail, das im Nachhinein keine Rolle mehr spielt, und sicher würdet ihr alles versuchen, um mir auch diese Schuldgefühle auszureden. Aber die Wahrheit ist, dass dieses Detail bis heute diesen tragischen Abend umso schlimmer für mich macht. Noch kann ich euch nicht davon erzählen. Noch bin ich nicht stark genug.
Letztendlich muss ich allein damit fertigwerden, ganz egal, wie sehr ihr versuchen würdet, mir zu helfen.
Ich werde versuchen, beim nächsten Mal nicht wie ein verwirrter Professor zu schreiben. Das ist vermutlich dein Einfluss auf mich, Papa. Mama sagt oft, dass ich genauso klinge wie du. Viel zu hochtrabend, aber auch viel zu durcheinander für mein Alter. Jetzt merke ich es irgendwie selbst.
Alles, was ihr wissen müsst: Ich kämpfe mich durch, lese viel, lenke mich ab – und schon bald werde ich hoffentlich über alles reden können.
Bitte gebt mir noch etwas Zeit.
Euer Alwin
*
Die abendliche Aussicht von meinem Balkon lässt das Meer nur erahnen. Von hier oben aus kann man Felder sehen und das Dach einer alten Scheune – die Ostsee jedoch zeigt sich nur in ihrem typischen Geruch und dem geheimnisvollen Rauschen. Beides hängt vom Wind und dessen Richtung ab.
Ich umklammere mein Rotweinglas, während ich meine Füße auf dem Klappstuhl vor mir übereinanderschlage.
Habe ich wirklich über vier Stunden schlafend in diesem Bootshaus verbracht? Mit einem Mann, den ich kaum kenne?
Trotzdem schleicht sich allein bei der Erinnerung, dass ich mit dem Kopf in seiner Armbeuge aufgewacht bin, ein verträumtes Lächeln auf meine Lippen.
„Und du hast echt kein Bier im Haus?“ Sanjo betritt den Balkon mit einem Alster in der Hand.
„Wenn du Bier willst, solltest du dich vorher anmelden, Bruderherz. Oder dir selbst welches mitbringen.“
„Eigentlich hätte ich gedacht, dass du immer auf meinen Besuch vorbereitet bist.“
„Nun setz dich schon hin und hör auf zu jammern.“
Missmutig zieht er einen der Stühle von dem kleinen runden Tisch ab und setzt sich ans andere Ende des Balkons.
„Ich verzeihe dir nochmal.“ Er stellt seine Flasche auf den Rand des Balkons. „Wenn du mir sagst, warum du schon seit meiner Ankunft wie ein debiles Honigkuchenpferd grinst.“
Ich spüre das Blut in meinen Kopf schießen. „Ich? Wie ein Honigkuchenpferd? Selten so einen Blödsinn gehört.“
Sanjo nimmt einen Schluck aus seiner Flasche und mustert mich mit wissendem Grinsen. „Ja genau, Schwesterchen. Das bilde ich mir selbstverständlich nur ein.“
Ich versuche, seinen durchleuchtenden Blick zu ignorieren und nippe an meinem Glas. „Keine Ahnung, was du dir da wieder einredest. Ich hatte einfach nur einen langen Tag.“
„Ein langer Tag, so so. Sag schon, wie heißt er?“
Manchmal bin ich dann doch lieber von Leuten umgeben, denen ich ein Rätsel bin.
„Hör auf, Sanjo.“
„Womit? Damit, mir Sorgen um meine Schwester zu machen?“
Bei diesem Satz muss ich unweigerlich an Alwin und das tragische Schicksal seiner kleinen Schwester denken.
„Es ist nichts“, antworte ich mit dünner Stimme. „Echt nicht. Ich hatte einfach nur einen erfolgreichen Arbeitstag, das ist alles.“
„Ach ja richtig.“ Plötzlich scheint es ihm wie Schuppen von den Augen zu fallen. „Die Vorbereitungen für das Porträt dieses Hotelgurus, oder?“
„Er heißt Alwin Teschner – und er ist kein Guru.“
„Dann ist er also der Grund für dein Dauergrinsen!“ Seine Antwort ist mehr eine Feststellung als eine Frage.
„Sanjo.“
„Komm schon, Sina, wie lange wollen wir noch so tun, als wüsstest du nicht, dass ich längst weiß, was Sache ist? Du konntest noch nie lügen, zumindest nicht in meiner Gegenwart.“
Er hat recht. Er hat immer recht, wenn es um so etwas geht.
„Also gut.“ Ich ziehe meine Füße vom Klappstuhl und stelle das Glas auf den Tisch. „Bevor du mich noch den ganzen Abend damit nervst: Ja, ich mag ihn. Und er mag mich. Zufrieden?“
„Ho ho, na sieh mal einer an. So schnell wird aus dem Frauenhelden und Macho der tollste Typ der Welt.“
„Ich sagte nicht, dass er der tollste Typ der Welt ist. Ich sage nur, dass wir einen netten Tag hatten. Außerdem ist er kein Frauenheld. Es gab für alles eine Erklärung.“
Eine Erklärung, die zwar so richtig keine war, aber das behalte ich lieber für mich.
„Eine Erklärung.“ Er legt seine Stirn in Falten. „Verstehe.“
„Mir egal, ob du es verstehst. Wir hatten eine gute Zeit, das ist alles.“
Vielleicht ist es besagtes Honigkuchenpferdgrinsen, das mich verrät oder die Tatsache, dass ich imaginäre Haarsträhnen hinter mein Ohr schiebe, wie ich es immer tue, wenn ich nervös werde.
„Oh mein Gott.“ Er legt seine Hand auf meine. „Ihr hattet Sex!“
Ich schweige verlegen.
„Sina.“ Er springt auf. „Was zum Teufel ist denn mit dir plötzlich los?“ In seinen Worten liegt viel eher Staunen als Empörung. „Du lässt dir doch sonst ewig Zeit, bevor du einen Kerl auch nur deine Hand halten lässt.“
„Also, weißt du, zum Händchenhalten hatten wir nicht wirklich die … ähm … Gelegenheit.“ Ich kichere.
Mit ungläubigem Grinsen lässt er sich wieder zurück auf seinen Stuhl fallen. „Ich glaube es nicht. Ausgerechnet meine dramatisch-romantische Schwester lässt sich auf ein Abenteuer mit einem Kerl ein, den sie kaum kennt.“
„Na, und wenn schon.“ Ich zucke mit den Schultern. „Wir hatten unseren Spaß. Du sagst doch selbst immer, dass ich viel zu spießig bin. Ich hatte einfach die Nase voll davon, immer erst alles zu zerdenken und stundenlang zu grübeln, bevor ich auch nur den nächsten Schritt in Erwägung ziehe. Das mit Alwin und mir, das hat einfach gepasst.“
„Und wann ist es passiert? Heute?“
„Heute Mittag. Und dann, dann sind wir irgendwie eingeschlafen.“
„Nicht zu glauben.“ Er hält sich an seiner Flasche fest, als könnte sie ihm dabei helfen, die Frau zu verstehen, die vor ihm sitzt und die so wenig mit seiner Schwester gemeinsam hat wie sein Alster mit Bier.
„Und wo ist er jetzt?“, will er wissen.
„In seinem Elternhaus. Er ist heute Abend mit seinem Bruder und seinen Eltern zum Essen verabredet. Er hat sogar gefragt, ob ich mitkommen möchte, aber das fand ich dann doch etwas zu früh.“
„Zu früh? Heißt das, du planst schon weiter?“
„Ich … ich plane gar nichts, okay? Ich sage nur, dass ich … na ja … dass wir unseren Spaß hatten. Und das meine ich nicht nur aufs Körperliche bezogen.“
„Oh Mann.“ Sanjo nimmt einen endlosen Schluck, als bräuchte er Hilfe beim Realisieren. „Wer hätte gedacht, dass es dir noch gelingen würde, mich zu überraschen?“
Das Handy neben meinem Glas blinkt auf.
Das Vorhaben, möglichst gelassen auf das Display zu schauen, halte ich jedoch nur wenige Sekunden durch.
ALWIN:
Meine Mutter hat gerade Vanilleeis zum Nachtisch serviert – dabei ist mir eingefallen, dass du mir noch eine Antwort schuldig bist.
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Er scheint genau zu wissen, welche Knöpfe er nach diesem besonderen Tag bei mir zu drücken hat. Keine peinlichen Fragen, keine dramatischen Liebesschwüre. Aber vor allem – und das ist der Hauptgrund für mein Grinsen – keine Ignoranz. Verrückt, dass er sich immer noch an die Frage vom Strand erinnern kann.
„Alles okay?“, fragt Sanjo. „Ist er das?“
„Ja, alles okay.“
Mehr sage ich nicht. Mehr gibt es auch nicht zu sagen. Zumindest nicht zu Sanjo.
SINA:
Walnuss-Karamell :-)