Читать книгу Der Bastard, mein Herz und ich - Nancy Salchow - Страница 8

Kapitel 5

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Es ist der perfekte Ausblick. Perfekt für frisch vermählte Brautpaare, für die diese Suite eigentlich bestimmt ist. Und perfekt für ein Foto.

Die hauchdünnen Vorhänge, die an den Seiten des wandbreiten Fensters zurückgebunden sind, lassen das zarte Violett der untergehenden Sonne nur erahnen, doch durch das freigelegte Fensterglas in der Mitte bietet sich mir ein unverstellter Blick auf das Meer.

„Es ist einfach ...”, ich lasse meine Hand mit der Kamera sinken, „... wunderschön.”

„Was habe ich Ihnen gesagt?”

Er schließt die Tür hinter mir und kommt zu mir ans Fenster.

„Von hier aus hat man die beste Sicht auf das Meer”, sagt er. „Frei und unverstellt.”

„Sie haben nicht zu viel versprochen.” Ich hebe meine Kamera und beginne zu fotografieren.

„Genau deshalb ist dies hier auch die Hochzeitssuite”, antwortet er. „Nirgends kommt die besondere Atmosphäre der Umgebung so zur Geltung wie hier.”

Während ich meine Fotos schieße, ist der Stolz in seiner Stimme nicht zu überhören. Fast so, als wäre er höchstpersönlich für den Sonnenuntergang verantwortlich.

„Deswegen wird dieses Hotel wohl auch immer mein liebstes bleiben“, sagt er. „Hier hat alles angefangen. Hier ist die Wurzel von allem.“

Er steht mit den Händen in den Hosentaschen vor dem Fenster, während sein Blick in die Ferne wandert.

Durch die Linse ist es mir möglich, ihn unauffällig zu beobachten.

Da ist er wieder, der abenteuerlustige Junge, den ich in jedem seiner Züge erkennen kann. Aber wie passt dieser Junge zu dem erfolgreichen Geschäftsmann, der sich so gewählt ausdrückt? Und warum gibt mir seine Persönlichkeit solche Rätsel auf?

Nur das übliche Interesse an dem Objekt des Artikels, das wird es sein. Und wenn nun mal dieser Mann Thema des Artikels ist, ist es eben auch er, der mich beschäftigt.

Richtig?

„Was sehen Sie, wenn Sie durch die Linse schauen?“, fragt er plötzlich.

„Wie bitte?“

„Na ja, wenn Sie fotografieren, die Ostsee, das Hotel, mich – was sehen Sie da?“

Ich packe die Kamera wieder ein, während ich über seine Worte nachdenke.

„Ich weiß nicht genau, ob es eine Antwort auf diese Frage gibt“, sage ich.

„Es gibt auf jede Frage eine Antwort“, sagt er. „Nur vielleicht nicht immer eine, die uns gefällt.“

„Ich sehe alles“, antworte ich nach einem kurzen Zögern. „Manchmal sogar mehr, als mir lieb ist.“

„Wie meinen Sie das?“ Er reißt seinen Blick vom Fenster los und betrachtet mich mit einem Interesse, das mir wieder diesen kleinen, unerwarteten Ruck versetzt.

„Es hängt vielleicht mehr mit meiner Persönlichkeit als mit dem Fotografieren zusammen, aber es war schon immer so, dass ich mehr in Dingen und Menschen gesehen habe als andere. Ich weiß nicht, ob diese Gabe zuerst da war und mich zum Fotografieren gebracht hat oder ob sie erst so richtig durch das Fotografieren zum Vorschein gekommen ist. Aber“, ich schlucke, während ich über meine eigenen Worte nachdenke, „ich kann mich nicht mehr daran erinnern, jemals ohne sie gewesen zu sein. Sie ermöglicht mir vieles, aber manchmal ist sie auch ein Fluch.“

„Ein Fluch?“ Er kommt einen Schritt auf mich zu.

„Na ja, ich würde manchmal einfach nicht alles so bewusst wahrnehmen. Manchmal ist es einfach angenehm, wenn gewisse Nebensächlichkeiten unentdeckt bleiben, sodass ich mich besser auf das Wesentliche konzentrieren kann.“

„Und was wenn es genau diese Nebensächlichkeiten sind, die das Leben lebenswert machen?“ Er neigt den Kopf zur Seite, den Blick noch immer fest auf mich gerichtet. „Was, wenn die wahre Leidenschaft, das wahre Leben, eben nicht in den grauen Fakten steckt, sondern eben“, er lächelt, „zwischen den Zeilen?“

„Zwischen den Zeilen“, wiederhole ich leise, während ich seinen intensiven Blick erwidere.

Ob das die Erklärung dafür ist, dass ich mehr in ihm sehe, als mir lieb ist? Die Erklärung dafür, dass schon in so kurzer Zeit ein Interesse in mir geweckt wurde, das weit über die für eine Reportage wie diese übliche Neugier hinausgeht? Und auch die Erklärung dafür, warum ich eben nicht den Frauenheld in ihm sehe, der er zweifellos ist?

Ich sehe ihn näher kommen. So nahe, dass es keinen vernünftigen Grund mehr gibt, der diese Nähe rechtfertigt.

„Sie dürfen über mich herausfinden, was auch immer Sie möchten“, sagt er mit einem Lächeln, das keinen Zweifel daran lässt, dass sein Interesse an mir kein berufliches ist.

Und – zack – da ist er doch, der Frauenheld, den ich für einen Moment nicht sehen wollte oder konnte – oder was auch immer. Und endlich bin ich wieder wach.

„Ich würde jetzt gern für heute Schluss machen“, sage ich mit fester Stimme. „Wenn ich die Fotos gleich zu Hause auf den Laptop ziehe, kann ich mit dem Bearbeiten noch heute Abend beginnen.“

„Natürlich.“ Alwin räuspert sich. „Was auch immer Sie wollen.“

*

8. August 2001

Ihr Lieben,

ich habe mich gut bei den Grahams eingelebt. Besonders dir würde ihr kleines Hotel auf dem Hügel wahnsinnig gut gefallen, Papa.

Und ja, es geht mir gut. Wirklich. Zum ersten Mal seit Monaten ist es mir gelungen, mich ein bisschen abzulenken.

Du wärst stolz, wenn du sehen würdest, wie oft ich mich mit Mrs. Graham über ihre Arbeit unterhalte. Vermutlich hast du mir doch mehr Geschäftssinn in die Wiege gelegt, als du gehofft hattest.

Ich weiß noch nicht, wann ich wiederkomme. Aber ihr seid die Ersten, die es erfahren werden.

Euer Alwin

*

Ich stütze mein Kinn gelangweilt auf meine Hand und starre auf den Bildschirm.

Die hochgeladenen Fotos warten förmlich darauf, von mir gesichtet zu werden, doch schon seit fünf Minuten gelingt es mir nicht, sie wirklich wahrzunehmen.

Ich schaue auf die Laptop-Uhr.

Kurz nach halb zehn. Zu früh, um schlafen zu gehen. Aber irgendwie auch zu spät, um noch etwas Sinnvolles zustande zu bringen.

Die Türklingel reißt mich aus der Lethargie.

Sanjo? Aber selbst er würde um diese Zeit nicht mehr auftauchen, um mir von seinem neuesten Flirt zu berichten.

Ich greife nach meiner Strickjacke und ziehe sie über meiner Jogginghose und dem T-Shirt zusammen.

Lustlos schleiche ich zur Tür. Als ich sie öffne, zucke ich unweigerlich zusammen.

„Herr Teschner? Woher wissen Sie, wo ich … was machen Sie hier?“

„Ich komme einfach nicht zur Ruhe, Sina.“

Seit wann duzen wir uns? Habe ich irgendetwas verpasst?

Ich starre ihn mit offenem Mund an, doch mir will einfach keine passende Antwort einfallen.

„Ich habe so etwas noch nie erlebt“, sagt er. „Glaub bitte nicht, dass ich so etwas öfter tue und Adressen von Frauen ausfindig mache, die ich eigentlich gar nicht kenne. Aber der heutige Tag und auch die Zeit mit dir am Meer ... da war etwas in der Luft, das mich seitdem verfolgt. Und ich kann einfach nicht in den Alltag übergehen, ohne dass ich dich gefragt habe, ob …“, er verstummt. Nervös greift er sich an die Stirn und schiebt die Hände schon im nächsten Moment wieder in die Hosentaschen. Ist das wirklich derselbe selbstbewusste Geschäftsmann, mit dem ich den Tag verbracht habe?

„Sag mir jetzt“, sprudelt es schließlich aus ihm heraus. „Sag mir jetzt, jetzt sofort, dass ich mir das alles nur einbilde. Dass es da keine besondere Atmosphäre zwischen uns gibt. Dass wir uns nicht ohne Worte verstanden haben und es vom ersten Moment an so war, als würden wir uns kennen. Sag es mir, Sina, bitte! Nur ein Wort von dir und ich verschwinde auf der Stelle wieder.“

Seine Worte treffen mich mitten ins Herz. Ich möchte schreien, weinen, lachen, die Tür zuschlagen und ihm gleichzeitig um den Hals fallen – alles zur selben Zeit.

Augenblicklich fallen mir die Telefonate mit den Frauen ein und das peinliche Theater mit dieser Tanja im Restaurant. Was, wenn es eine ganz einfach Erklärung für all das gibt? Was, wenn er gar kein Frauenheld ist?

Du redest dir die Dinge schön, Sina. Du willst, dass er ehrenwert ist, weil er dich auf eine Weise reizt, die du nicht einordnen kannst.

„Sina?“

Der Blick, mit dem er mich mustert, ist ängstlich und hoffnungsvoll zugleich.

„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll“, beginne ich vorsichtig.

„Sag einfach, dass ich mich irre“, antwortet er. „Und ich verschwinde wieder.“

Doch ich kann ihm weder antworten, noch bin ich in der Lage, ihn wegzuschicken. Allein die Tatsache, dass er hergekommen ist, sollte mir Angst machen oder mich zumindest irritieren. Doch die Wahrheit ist, dass es mich, je mehr ich darüber nachdenke, überhaupt nicht überrascht. Ob es ihm auch so geht? Ob er meine Blicke, mein Auftreten, eher entschlüsselt hat als ich selbst und deshalb etwas getan hat, das in jeder anderen Situation einfach nur unpassend und lächerlich wäre? Hat er etwas verstanden, das ich selbst nicht wahrhaben wollte und ist genau deshalb hergekommen?

Meine Hand liegt noch immer auf dem Türgriff, während sich meine Kehle langsam zuschnürt.

„Ich“, er hält kurz inne, „ich glaube, ich gehe besser wieder. Bitte entschuldige, dass ich hier einfach so aufgetaucht bin. Das war dumm von mir. Dumm und peinlich. Ich wollte nur reden, aber selbst das … das …“, er schluckt, „vergiss es einfach, okay?“

Gerade als er sich abwendet, finde ich endlich meine Stimme wieder.

„Du hast dich nicht geirrt“, rufe ich ihm nach und erschrecke im selben Augenblick über meine mutigen Worte.

Mit dem Rücken zu mir bleibt er regungslos stehen. Erst nach einigen Momenten des Schweigens dreht er sich schließlich zu mir um.

Er kommt einen Schritt auf mich zu. Wortlos schauen wir einander an, bis er sich vorsichtig zu mir herunterbeugt und meine Lippen so sanft und flüchtig mit seinen berührt, dass ich schon kurz darauf glaube, mir das alles nur eingebildet zu haben.

„Das war alles, was ich wissen wollte“, sagt er so leise, dass ich ihn kaum hören kann.

Ich möchte etwas antworten, doch kein einziges Wort findet seinen Weg in meinen wie leergefegten Kopf, geschweige denn auf meine Lippen.

Mit einem Lächeln, das alles und gleichzeitig nichts bedeutet, wendet er sich von mir ab.

Noch immer in der offenen Tür stehend, schaue ich ihm nach, wie er die Treppen herunterläuft. Schritt für Schritt. Stufe für Stufe. Herzschlag für Herzschlag.

Der Bastard, mein Herz und ich

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