Читать книгу Der Bastard, mein Herz und ich - Nancy Salchow - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеDie Wellen streicheln den Sand wie Blätter, die an einer mächtigen Baumkrone ihre unsichtbaren Linien im Wind ziehen.
Auf und ab.
Hin und her.
In einer anderen Situation, an einem anderen Tag, hätte ich vermutlich meine Schuhe ausgezogen, um barfuß durch den feuchten Sand zu laufen, hätte mich hier und da von einer Welle berühren lassen und dabei vergnügt aufgeschrien.
Doch hier und heute ist Professionalität gefragt.
„Den Kopf ein klein wenig mehr nach links. Entspannen Sie sich. Ja genau so.“
Alwin steht neben einem alten Ruderboot, das umgedreht im Sand liegt und folgt meinen Anweisungen.
Während ich meine Fotos schieße, flackern Bilder in mir auf, wie sie mich immer heimsuchen, wenn ich am Strand fotografiere. Bilder längst vergangener Tage mit Hannes und mir am Meer – und mit ihnen die Erinnerungen an unsere erste Liebesnacht in genau so einem alten Ruderboot im Schilf.
Hannes. Meine erste Liebe.
Und meine bisher längste, mit der keine der nachfolgenden Beziehungen konkurrieren konnte.
Was er wohl inzwischen macht? Ob er die Fesseln der Provinzlangeweile, wie er sie immer so abfällig nannte, inzwischen abgelegt hat und in Berlin glücklicher geworden ist? Und ob er mich und unsere vier Jahre inzwischen vergessen hat?
„Wissen Sie, dass ich mir ziemlich dämlich vorkomme?“, ruft er mir zu.
„Dämlich?“ Ich komme ein paar Schritte aus dem Wasser heraus auf ihn zu. „Aber warum denn?“
„Weil nichts unnatürlicher ist als ein gestelltes Foto“, antwortet er, während er die Arme sinken lässt. „Es wäre mir wesentlich lieber, wenn Sie mich bei der Arbeit fotografieren. Am besten so, dass ich es nicht mitbekomme.“
„Sie arbeiten aber nun mal am Meer“, verteidige ich meine Strategie. „Da müssen wir zumindest ein wenig Flair in die Sache bringen. Langweilige Schreibtisch-Fotos kann doch jeder. Ich bin auf der Suche nach dem ganz besonderen Schnappschuss.“
„Trotzdem muss eine kleine Fotopause erlaubt sein.“ Er entfernt sich vom Boot und kommt auf mich zu. „Wie wäre es, wenn wir zurück zum Hotel gehen? Ich erwarte einen wichtigen Anruf aus München. Es wäre mir lieb, wenn ich dabei in meinem Büro wäre.“
„Natürlich.“ Ich stecke meine Kamera zurück in die Tasche. „Das Ziel ist ja, Sie bei einem ganz normalen Arbeitstag zu begleiten.“
„Eben.“ Er neigt den Kopf zur Seite und betrachtet mich, als würde er in meinen Augen die Antwort auf eine bestimmte Frage suchen. „Wer weiß, vielleicht erfahren Sie auf diese Weise ja etwas Interessantes für Ihren Bericht?“
„Was mich viel mehr interessieren würde“, entgegne ich, während wir langsam zurück zur Strandpromenade gehen, „ist Ihr Werdegang, Herr Teschner.“
„Mein Werdegang?“
„Ja. Wir sind Sie überhaupt zu Ihrem ersten Hotel gekommen? Sie sind doch noch so jung, wenn ich das so sagen darf.“
„Danke. Aber mein erstes Hotel hat weniger mit Erfolgsgespür zu tun als mit Glück. Mein Vater ist vor sieben Jahren in den Ruhestand gegangen und hat mich in seine Fußstapfen treten lassen, nachdem ich eine Ausbildung zum Hotelfachmann in ebendiesem Ursprung all meiner Hotels absolviert hatte.“
„Im Möwenzauber?“
Er nickt. „Dort fing alles an. Und von da an haben wir alles getan, um das Hotel zu dem zu machen, was es heute ist.“
„Wir?“
„Mein Bruder und ich.“
„Sie haben einen Bruder?“
„Clemens. Wobei er sich mehr auf Restaurants spezialisiert hat. In unseren Hotels, aber auch darüber hinaus. Das ist sein Steckenpferd. Er ist der beste Koch, den Sie sich vorstellen können. Die Gemüselasagne, die Sie heute gegessen haben, verdanken Sie ihm.“
„Tatsächlich? Sie war großartig.“
„Clemens hat es einfach drauf. Das Geschäftliche hingegen überlässt er lieber mir.“ Ein geheimnisvolles Lächeln schleicht sich auf seine Lippen. „So wie einige andere Dinge.“
„Verstehe.“
„Na ja, und die anderen beiden Hotels in Wismar“, fährt er fort, „das hat sich einfach durch Zufall ergeben. Eines stand zum Verkauf, weil die Besucherzahlen im Sturzflug waren. Das andere war das Opfer einer bösen Scheidung. Die Besitzer waren verheiratet – bis sie ihn mit einem Zimmermädchen in flagranti erwischt hat. Und dann ging es um alles oder nichts. Sie wissen schon: Kann ich das Hotel nicht haben, kriegst du es auch nicht.“
„Beängstigend, wie schnell sich Liebe doch wandeln kann.“
„Beängstigend, ja.“ Er stupst mir mit dem Ellenbogen in die Hüfte. „Das mit dem Zimmermädchen behalten Sie aber bitte für sich, ja? Es soll mich ja niemand für eine männliche Tratschtante halten.“
„Natürlich. Das sind ohnehin nicht die Details, die mich interessieren. Ich bin ja keine Klatschreporterin.“
Alwin schiebt die Hände in seine Hosentaschen. Wie ruhig er wirkt, während wir nebeneinander den Strand entlanggehen. So ruhig und ausgeglichen. Und dann, wie aus dem Nichts, blitzt wieder dieser jugendliche Charme auf, wann immer sich unsere Blicke treffen.
„Es ist sehr ruhig heute“, stellt er beim Blick über das Meer fest. „So kurz nach dem Regen ist mir der Strand am liebsten. Keine Touristen. Nur hier und da ein melancholischer Spaziergänger. Der perfekte Zeitpunkt, um seine Gedanken zu ordnen.“
Nicht weit von uns, direkt im feuchten Sand neben einem Steg, sitzen mehrere Möwen.
Durch eine sanfte Berührung bringt er mich zum Stehen und zieht mich langsam zu sich in die Hocke.
„Schauen Sie“, sagt er leise. „Sind das nicht faszinierende Tiere?“
Schweigend folge ich seinem Blick zu den Vögeln im Sand.
„Ich könnte ihnen stundenlang zusehen“, sagt er. „Wussten Sie, dass Möwen ganz furchtbare Taucher sind? Hin und wieder werden sie deshalb sogar zu Mundräubern und stehlen anderen Vogelarten die Beute aus dem Schnabel, die sie selbst niemals fangen könnten.“
„Nein, das wusste ich nicht.“ Eine Erinnerung wird in mir wach. „Mein Bruder und ich haben früher immer am Strand gespielt und den Möwen Namen gegeben. Ich weiß noch wie heute, dass bei mir jede Möwe Elwira hieß.“
„Tatsächlich? Das ist witzig. Mich haben diese Tiere auch schon von Kindesbeinen an begeistert.“
Ich weiß nicht, ob ich unbewusst eine Bewegung mache, die in seinen Augen zu hektisch ist. Irgendetwas jedoch bringt ihn dazu, meine Hand mit sanftem Druck festzuhalten, sodass ich neben ihm regungslos innehalte, um den Vögeln zu zuzuschauen.
„Schon als Kind“, sagt er, „gab es für mich nichts Beruhigenderes, als die Möwen zu beobachten. Sie sind so im Einklang mit sich selbst und ihrer Umgebung. Finden Sie nicht auch?“
„Um ehrlich zu sein, habe ich als junges Mädchen nie so genau darüber nachgedacht. Ich fand sie einfach nur niedlich. Aber jetzt, wo Sie es erwähnen … Möwen sind vermutlich irgendwie … na ja … so etwas wie ein Symbol. Ein Symbol des Meeres und der damit verbundenen Freiheit.“
„Der Freiheit“, antwortet er, ohne den Blick von den Vögeln abzuwenden „aber auch der Melancholie.“
„Melancholie“, wiederhole ich beinahe lautlos.
„Faszinierende Tiere“, sagt er. „Immer noch und immer wieder aufs Neue.“
Langsam wendet er sich von den Vögeln ab und schaut mich erneut mit diesem seltsam suchenden Blick an. Erst jetzt wird mir bewusst, dass meine Hand noch immer in seiner liegt.
Irgendetwas scheint in der Luft zu schweben. Für einen Moment schauen wir einander wortlos an. Niemand von uns wagt ein Wort, geschweige denn eine Bewegung.
Täusche ich mich oder liegt irgendetwas Ungreifbares zwischen uns? Kein anzügliches Lächeln, keine fragwürdigen Blicke – einfach nur eine unerklärliche Atmosphäre, die sich nicht in Worte fassen lässt.
Plötzlich durchschneidet ein hartnäckiges Vibrieren die Stille.
„Verdammt.“ Er zieht sein Handy aus der Hosentasche. „Der Anruf aus München. Und ich habe die Unterlagen nicht dabei.“
Doch die Art, wie er auf sein Display schaut, macht deutlich, dass es doch nicht der erwartete Anruf ist.
Nach einem kurzen Zögern nimmt er schließlich ab.
„Susanna … Nein. Es ist gerade etwas …“, er schaut mich an, „ungünstig.“
Ich erhebe mich aus der Hocke und tue so, als hätte ich etwas an meiner Kamera zu prüfen. Nur nicht den Eindruck erwecken, als würde ich lauschen.
„Aber ich habe dir doch gesagt, dass es nicht um mich geht.“ Er wendet mir den Rücken zu. „Und auch nicht um uns. Nein, da habe ich keine Zeit … Nein, Susanna … das hat nichts mit Lügen zu tun. Du wusstest von Anfang an, dass … nun hör mir doch mal zu … es gibt nicht den geringsten Grund, warum du … Susanna!“
Beim letzten Ausruf ihres Namens zucke ich zusammen.
Meine Güte, erst diese Tanja im Restaurant, nun dieser Anruf einer gewissen Susanna. Auf wie vielen Hochzeiten tanzt dieser Mann eigentlich?
Ich schiebe meine Kamera zurück in die Tasche.
Unbehagen überkommt mich. Noch vor wenigen Augenblicken haben wir nebeneinander im feuchten Sand gesessen und die Möwen beobachtet. Ein stiller Moment, der mir so besonders erschien, dass es beinahe schon unheimlich war.
Und jetzt? Jetzt telefoniert er mit einer Frau, die sich – wie schon die Frau aus dem Restaurant – scheinbar mehr von ihm erhofft hat, als er zu geben bereit ist.
Und ausgerechnet ich soll eine Story über ihn schreiben? Eine Story über einen Frauenhelden, wie er im Buche steht?
Ruhig bleiben, Sina. Ganz ruhig. Du bist beruflich hier.
Er schiebt das Handy zurück in seine Hosentasche und strahlt mich an, als wäre nichts geschehen – und im Grunde stimmt das ja auch. Was gehen mich schon seine Privatangelegenheiten an?
„Also?“ Er kommt auf mich zu. „Wo waren wir stehengeblieben?“
*
17. Juli 2001
Mama, Papa,
ich weiß, ihr seht die Welt im Moment mit anderen Augen als noch vor wenigen Monaten. Und ich weiß, dass das auch der Grund dafür ist, warum ihr Clemens und mich am liebsten rund um die Uhr in eurer Nähe haben möchtet.
Aber eben diese Nähe ist es, die ich im Moment nicht ertrage.
Es ist inzwischen vier Monate her und trotzdem vergeht kein einziger Tag, eigentlich nicht mal eine Stunde, in der ich nicht an Jessica denken muss. Ich weiß, wir alle vermissen sie und wir alle quälen uns noch immer ununterbrochen mit der Frage, ob dieses schreckliche Drama hätte verhindert werden können, wenn jemand von uns bei ihr gewesen wäre. Wenn sie nicht allein am Meer gewesen wäre. Wenn …
Aber es hat keinen Sinn, sich mit diesen Fragen zu quälen.
Und genau darum geht es. Wenn ich hier bleibe, wo mich alles an sie erinnert, kann ich diesen Fragen einfach nicht entkommen. Ich muss raus aus dieser ständigen Erinnerung an Jessica. Wenigstens für eine Weile. Weg von diesen Schuldgefühlen, die wir alle mit uns herumschleppen.
Und ihr könnt mir tausendmal sagen, dass ich keine Schuld daran trage. Als ihr großer Bruder habe ich mich für sie verantwortlich gefühlt. Gerade an diesem Tag. Und genau das kann ich vermutlich niemals vergessen.
Ja, ich werde die Lehre als Hotelfachmann beginnen. Das habe ich euch versprochen, vor allem dir, Papa. Nur ich weiß im Moment einfach noch nicht, wann. Und vor allem auch nicht, wie.
Ich weiß nur eins: Ich will diese Reise nach Schottland machen. Dass sich mir jetzt die Chance dazu bietet, kann kein Zufall sein.
Bitte betrachtet es nicht als Wegrennen. Ich komme wieder. Ganz sicher. Nur jetzt, jetzt habe ich das Gefühl, dass mich alles hier erdrückt. Vor allem der Gedanke an Jessica.
Bitte versucht nicht noch einmal, es mir auszureden. Ich fliege schon am Montag und nichts und niemand kann mich davon abhalten. Ich bin jetzt volljährig – bitte behandelt mich auch so.
Euer Alwin