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Kapitel 1

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Jan ist das, was man perfekt nennt. Okay, sein Sixpack ist eher ein Vierer-Pack mit weichem Übergang zur Sechs, die klischeehaften blauen Augen sind grau und die dunklen Haare eine Spur zu kurz für den morgendlichen Wuschel-Look, den ich bei Männern so anziehend finde, trotzdem: für mich könnte er nicht perfekter sein.

Jan. Allein sein Name ist perfekt, denn er hat die ideale Herzchen-Größe – oder haben Sie schon mal versucht, Wolfgang oder Alexander in ein Herz zu schreiben? Probieren Sie’s ruhig, es sieht einfach nur blöd aus. Jan hingegen passt wie angegossen, nicht nur in ein gemaltes Herz, sondern auch in mein eigenes – und das schlägt für ihn seit unserer ersten Begegnung.

Unsere erste Begegnung. Ist die denn wirklich schon wieder drei Monate her?

Ich weiß es noch wie heute. Ich hatte mich von meiner Schwester Sabrina dazu überreden lassen, ehrenamtlich beim Tierheimfest auszuhelfen und Kuchen zu verkaufen. Sabrina arbeitet dort und weiß alles über Tiere, was es zu wissen gibt. Meine Erfahrung hingegen geht nicht über den Vogelfuttereinkauf im Winter hinaus, wenn mich Jahr für Jahr mütterliche Gefühle für die Kohlmeisen auf meinem Balkon überkommen.

Aber Erfahrung brauchte ich auch nicht, um da zu sein, wo ich an jenem Mainachmittag stand, als plötzlich dieser unverschämt attraktive Kerl mit einem sibirischen Husky an der Leine vor mir auftauchte, um mich mit Dahinschmelzblick um ein Stück Pflaumenkuchen zu bitten.

Ich lehne mich mit verklärtem Blick in meinem Kinosessel zurück, als mir genau diese Anekdote in den Sinn kommt. Auf der Leinwand rettet gerade irgendein glatzköpfiger Muskelprotz die Welt, doch alles, was ich wahrnehme, ist die Hand, die neben meiner in einer überdimensionalen Popcorntüte steckt.

Flüchtig streifen sich unsere Finger. Ist es möglich, dass mir selbst eine inzwischen vertraut gewordene Berührung wie diese noch immer ein Bauchflattern beschert?

Seine Augen suchen meine in der Dunkelheit des Saals.

Langsam nähert er sich zum Kuss.

Da ist es wieder, das Kribbeln, das blitzschnell von meinem Bauch über Arme und Schenkel bis in die Knie wandert, die so weich werden, dass mich lediglich der Kinosessel davor bewahrt umzukippen.

Ich übertreibe schon wieder.

Aber Jan bringt mich dazu. Noch immer und immer wieder.

„Hab ich dir schon gesagt, wie hübsch du heute aussiehst?“, flüstert er mir zu.

Ich nicke. „Aber du kannst es gern noch ein paar Mal wiederholen.“

Zum zweiten Mal an diesem Abend bin ich dankbar dafür, auf Sabrinas Rat gehört und das dunkelblaue Top gekauft zu haben. Mir war es etwas zu eng, um den leichten Rettungsring-Ansatz an meiner Taille zu kaschieren, Sabrina hingegen vertrat die Meinung, dass kein Mann auch nur eine Ahnung von Rettungsringen haben wird, wenn er das Dekolleté sieht, das dieses Top zu zaubern imstande ist. Und überhaupt, wer braucht schon einen Rettungsring, wenn er stattdessen in den Tiefen eines Dekolletés versinken kann?

Sabrinas Worte, nicht meine.

Aber auch wenn sie seltsame Vergleiche macht, mit einem hatte sie recht: So ein Dekolleté ist wirklich imstande zu zaubern. Zumindest Jans Blick zufolge.

Er wickelt eine meiner roten Locken um seinen Finger. Noch so eine gute Idee, das Haar heute offen zu tragen.

„Ich bin dafür, dass wir heute bei mir übernachten.“ Ich lächele vielsagend. „Ich habe deinen Lieblingswein gekauft und eine Lasagne im Ofen, die nur noch aufgewärmt werden muss.“

„Aber Neo“, beginnt er.

„Neos Lieblingsfutter steht schon lange im Schrank“, komme ich seinen Ausflüchten zuvor. „Wir müssen ihn nur noch abholen und einem gemütlichen Abend steht nichts mehr im Wege.“

Zwei winzige Falten schieben sich zwischen seine Augenbrauen, während er sich in seinem Sessel zurücklehnt und zur Leinwand starrt.

„Alles okay?“, frage ich.

„Eigentlich schon“, murmelt er. „Es ist nur …“

Ich kenne seine Antwort, bevor er weiterspricht.

„Kannst du sie nicht anrufen“, komme ich ihm zuvor, „und ihr sagen, dass sie Neo morgen besuchen kann?“

„Im Grunde schon, aber sie wollte heute noch zum Tierarzt und die Ohrentropfen für ihn abholen. Die braucht er heute Abend. Eine Dosis nimmt sie mit, der Rest bleibt bei uns.“

„Ohrentropfen“, wiederhole ich, während ich in die Popcorn-Tüte greife. „Verstehe.“

„Bist du sauer?“

„Du weißt, dass ich Neo liebe“, antworte ich diplomatisch. „Ich will, dass es ihm gut geht.“

„Das war keine Antwort auf meine Frage.“ In seinem Lächeln liegt der Hauch eines schlechten Gewissens.

„Und du weißt auch“, fahre ich fort, „dass es mir nicht zusteht, über die Abmachung zwischen dir und deiner Ex zu urteilen. Es ist nun mal euer gemeinsamer Hund und jeder Blinde sieht, wie sehr Neo nach wie vor an ihr hängt.“

„Das stimmt schon, aber was soll das heißen, es steht dir nicht zu, darüber zu urteilen?“ Er zieht meine Hand aus der Popcorntüte und umfasst sie liebevoll mit seinen Fingern. „Du bist immerhin meine Freundin und ich möchte nicht, dass du irgendetwas in dich hineinfrisst.“

Schweigend bemühe ich mich um ein Lächeln, das ihm einmal mehr meine Toleranz und Unkompliziertheit demonstrieren soll, doch vermutlich weiß er ohnehin, wie es in Wirklichkeit in mir aussieht. Drei Monate sind mehr als genügend Zeit, um eine Fassade zu durchschauen – besonders wenn ich diejenige bin, die entsprechende Fassade erschaffen hat. Und wenn es etwas gibt, das ich absolut nicht beherrsche, dann ist es das Vortäuschen falscher Tatsachen.

„Das mit Katja und mir ist schon fast ein Jahr her“, sagt er. „Und ich bin froh, dass wir es trotz der Trennung geschafft haben, einigermaßen vernünftig miteinander umzugehen.“

Ich nicke. „Mach dir keine Gedanken um mich. Ich verstehe das. Wirklich.“

Mühsam versuche ich, das rote Sommerkleid mit dem tiefen Ausschnitt aus meinem Kopf zu verbannen, das Katja beim letzten Mal getragen hat.

„Abgesehen davon hätte es auch alles ganz anders ablaufen können“, fährt Jan fort. „Ich bin einfach nur froh, dass Neo bei mir wohnt. Da nehme ich es lieber in Kauf, dass sie ihn alle paar Tage zum Spaziergang abholt.“

„Wirklich, Jan“, ich gebe mir jetzt etwas mehr Mühe mit meinem toleranten Lächeln, „es ist alles gut. Glaub mir. Ich hatte mich nur eben auf einen schönen Abend mit dir gefreut.“

„Der ja trotzdem stattfinden wird“, fällt er mir mit gewohntem Unschuldsblick ins Wort, „nur eben bei mir. Wir können den Wein und die Lasagne ja nachher noch abholen. Es sei denn, dir ist es lieber, Katja holt Neo in deiner Wohnung ab. Ich meine, wenn ich sie anrufe, dann würde sie vielleicht …“

„Nein nein.“ Allein der Gedanke, dass sie mit ihrem elfengleichen Gang durch meine Wohnung schwebt, beschert mir eine Gänsehaut. „Alles gut. Und jetzt lass uns lieber den Abend genießen, anstatt uns mit Banalitäten aufzuhalten.“

Banalitäten. Ein Wort, das Jan nur allzu gern in Bezug auf Themen wie diese verwendet. Und jetzt benutze ich es? Fange ich etwa an, ihm nach dem Mund zu reden?

Vermutlich sollte ich das Ganze wirklich etwas entspannter betrachten und mich stattdessen lieber darüber freuen, dass sie keine gemeinsamen Kinder haben. Andere teilen sich das Sorgerecht für ein Kind, bei Jan und seiner Ex ist es eben ein sibirischer Husky.

Na und?

Der Muskelprotz auf der Leinwand trägt gerade eine Frau aus einem brennenden Haus, die dankbar seinen Hals umklammert.

Was für ein Klischee, möchte ich brüllen und frage mich im selben Moment, ob ich damit mich oder den Film meine.

Teilzeitküsse

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