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Kapitel 4

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Angesichts ihrer Trauer erschien es mir herzlos, sie noch länger zu strapazieren. Also packte ich meine Notizen ein und war gerade aufgestanden, um zu gehen, als von unten der Klang einer Stimme an meine Ohren drang, die zunehmend zornig und laut wurde.

»… Schlagzeilen in sämtlichen Zeitungen: ‚Schönheit der feinen Gesellschaft entführt‘, ‚Schockierendes Verschwinden von Earl-Tochter‘, ‚Gattin eines katalanischen Adligen verschleppt‘ …«

Unverkennbar, diese Stimme …

Mein Bruder Sherlock!

»… und doch behauptet Ihr, Ihr hättet mit der Morgenpost nichts erhalten?«

Die Antwort war zwar nicht hörbar, aber offensichtlich negativ.

»Ich befürchte, das ganze Tamtam in der Presse könnte sie verschreckt haben.« Sherlock klang deutlich verärgert. »Und solange wir keine Lösegeldforderung vorliegen haben, gibt es reichlich wenig, was wir unternehmen können.«

Ihn das sagen zu hören überraschte mich, denn mir waren allerdings verschiedene Dinge eingefallen, die ich tun wollte – doch solange er im Haus war, musste ich mich im Ankleidezimmer versteckt halten. »Äh, mmh«, wandte ich mich an die beiden Marydamen, »könntet Ihr mir wohl beschreiben, was Ihro Gnaden zu jenem schicksalsschweren Ausflug anhatte, als Ihr sie zuletzt gesehen habt?«

Erfreut beantworteten sie mir meine Frage in allen Details. »Oh, sie trug ihre neue Flanierrobe von Redfern mit Ärmeln nach der allerneuesten Pariser Mode!«

»Bauschig, wissen Sie«, erklärte die andere Mary herablassend, als hätte ich keine Ahnung: Während die Hinterteile weiblicher Garderoben an Volumen einbüßten, schwollen Schultern und Oberärmel auf groteske Ausmaß an. Ohne Puff-irgendwas ging es scheinbar nicht.

»Aus Moiréseide, schillernd in allen Farben einer Taubenbrust, mit Kellerfalten vorn und einer breiten Gürtelapplikation aus weißen Perlen in einem wirklich hinreißenden Design nach der Art Nouveau …«

Art Nouveau? Möglich, dass ich ratlos wirkte, denn schon rief sie: »Einen Augenblick, ich glaube, wir haben eine Fotografie!«

Ich sah zu, während beide Marys Schubladen voll von prächtiger Unterwäsche durchsuchten. Ein Stapel makellos gebügelter Taschentücher fiel zu Boden. Ich hob sie auf und bewunderte die luxuriösen Randverzierungen aus venezianischer Spitze und die dicht gestickten scharlachroten Monogramme, eingefasst mit Gold: DdC.

»Duquessa del Campo?«, riet ich, als ich die Taschentücher der Taft-Mary reichte.

»Ganz recht. Wo steckt nur dieses Foto?«, jammerte Satin.

Da ich glücklicherweise bereits auf den Beinen war, während sie suchten, nahm ich mir die Freiheit heraus, im Gemach umherzuspazieren und den reichhaltigen Luxus zu bestaunen: ein prächtiger Farngarten, gut bestückte Bücherregale mit Glastür, enorme exotische Vasen, in denen Pfauenfedern steckten, als wären es Blumen, ein absolut herrlicher Schreibtisch mit Intarsien aus Rosenholz …

Auf dem Schreibtisch lag ein halb fertiggestellter Brief, geschrieben mit blauer Tinte auf einem Papier herausragender Güte mit dem DdC-Monogramm darauf. Dieser Brief interessierte mich über alle Maßen, obwohl ich darauf achtgab, den Anschein zu erwecken, als würde ich rein zufällig in seine Richtung schlendern. Anhand der Handschrift einer Person kann ich allerlei über sie ableiten, und Blanchefleurs Schrift erschien außergewöhnlich viel Bescheidenheit auszustrahlen: keinerlei Schnörkel, jeder Buchstabe schlicht und behutsam geformt. In der Tat unterschied sie sich allein durch die Größe von der eines Kindes.

Auch der Inhalt des Briefs war bemerkenswert. Vielleicht sollte ich erklären, dass ich eine Seite mit nur einem Blick vollständig lesen und begreifen kann, womöglich weil ich es als Kind auf mich genommen hatte, die gesamte Encyclopaedia Britannica zu lesen, wodurch ich sehr geübt und schnell wurde. Auch wenn ich es vermutlich nicht Wort für Wort exakt im Gedächtnis abspeicherte, stand im Brief der Lady sinngemäß Folgendes:

Liebste Mama,

ich hoffe, Euch und meinem liebsten Papa geht es gut. Ich vertraue darauf, dass er im warmen Sommerwetter weniger mit seinem Rheuma zu kämpfen hat. Danke, dass Ihr mir Euer Rezept zur Zubereitung von Aal in Minzsoße mit Kürbisgemüse geschickt habt. Ich habe es der Köchin in allen Einzelheiten beschrieben und gewiss werden wir es bald kosten dürfen. Meine größten, und tatsächlich auch einzigen, Neuigkeiten sind mein neues Kleid von Redfern, das mir mein lieber Gatte auf Drängen von Mary T. und Mary H. bestellt hat. Natürlich ist es hinreißend und schon in ein oder zwei Seiten werdet Ihr ausführlich darüber lesen können, versprochen – doch Mama, als Nächstes wollen sie mich nach Paris bringen, um mich von Worth einkleiden zu lassen, und gerade Ihr wisst, wie schrecklich ich mich bei so viel Extravaganz fühle. Was habe ich in meinem Leben je Gutes oder Nützliches getan, um so viel Reichtum zu verdienen? Ich weiß, Papa hat mir immer erzählt, dass wir so gut gestellt sind, weil Gott es so vorgesehen hat, und dass die Armen aus demselben Grund oder aber weil sie faul sind, eben arm sind. Aber damit kann ich mich nicht zufriedengeben. Ich sehe die Armen auf der Straße – hier in London kann man keinen Schritt vor die Tür tun, ohne auf sie zu treffen, die blinden Bettler, verkrüppelten Soldaten, kraushaarigen Frauen, die kleine Blumensträußchen verkaufen, die Kinder in ihren Lumpen – und sie tun mir so schrecklich leid. Ich schenke ihnen Pennys und meine Hofdamen schelten mich dafür, obwohl sie natürlich so gut sind, meinem Gatten nichts davon zu berichten – der liebe Luis. Ihr wisst, wie leidenschaftlich er auf jede Kleinigkeit reagiert, entweder brüllt er wie ein Drache oder bedeckt mich mit so lauten Küssen, dass es mir peinlich ist. Ich hatte angenommen, sein Überschwang würde im Laufe der Jahre abnehmen, da ich mich so unwürdig fühle, seine Frau zu sein, habe ich ihm doch noch immer keine Kinder schenken können, aber nein. Selbstverständlich darf man weder verzagen noch undankbar sein, doch wie ein Kleid von Redfern die Dinge in Ordnung bringen soll, ist mir ein Rätsel. Vergebt mir, sollte ich undankbar erscheinen. Ich weiß kaum, wie ich den Aufruhr meiner Gefühle in Worte fassen soll.

Offenbar entsprach das der Wahrheit, denn an dieser Stelle brach der Brief ab. Tatsächlich ging es mir ganz ähnlich, auch ich wusste meine Gefühle nicht recht einzuordnen. Ich hatte erwartet, Blanchefleur würde sich als verwöhnte und verachtenswerte Aristokratin erweisen, doch sie zeigte offenkundig Gewissen und Bewusstsein, wodurch ich mich fragte, ob ich sie vielleicht sogar mögen würde, sollte ich sie je persönlich kennenlernen.

»Ah! Da ist es ja!«, rief Mary Satin.

Ich eilte zu ihr und sie zeigte mir eine große Fotografie im Klapprahmen, den ich öffnete.

Der Fall des verschlüsselten Briefes

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