Читать книгу Der Fall des verschlüsselten Briefes - Nancy Springer - Страница 6

Juli 1889

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»Mister Sherlock, ich bin ja so froh, Sie zu sehen, das können Sie mir glauben! Und Ihnen so verbunden …« Mrs Lane, die treue Angestellte im Hause Holmes, die den großen Detektiv schon als kleinen Buben in kurzen Hosen gekannt hat, kann sich weder das Zittern in der Stimme noch die Tränen in den trüben alten Augen verkneifen. » … so verbunden, dass Sie gekommen sind …«

»Unfug.« Sherlock Holmes, der wie üblich vor jeder Zurschaustellung von Gefühlen zurückschreckt, mustert die dunklen Holzvertäfelungen von Ferndell Hall. »Ich freue mich über die Gelegenheit, mein Geburtshaus wieder einmal aufzusuchen.« Gekleidet in Garderobe, die sich für einen Sommer auf dem Land ziemt (beiger Leinenanzug, leichte beige Lederstiefel und Handschuhe, Deerstalker-Mütze), legt er Handschuhe und Mütze, ebenso seinen Gehstock auf den Tisch des Empfangszimmers und macht sich augenblicklich an die Arbeit. »Mr Lanes Telegramm war recht geheimnisvoll. Himmel, was hat dieses Päckchen denn so Ungewöhnliches an sich, dass Sie sich nicht trauen, es zu öffnen?«

Bevor sie darauf eine Antwort geben kann, kommt ihr Gatte, der weißhaarige Butler, ins Empfangszimmer geeilt, und zwar mit reichlich wenig seiner gewohnten Würde. »Mister Sherlock! Oh, haben Sie vielen Dank!« Und noch einmal muss der große Detektiv so ziemlich dieselbe Leier über sich ergehen lassen. » … Trost für meine alten Augen … so ungeheuer gut von Ihnen … ein sehr warmer Tag – darf ich davon ausgehen, Sir, dass Sie im Freien Platz nehmen möchten?«

Also platziert man Sherlock Holmes gastfreundlich auf die schattige Terrasse, wo eine Brise in dieser Hitze für Abkühlung sorgt, während Mrs Lane eisgekühlte Limonade und Makronen serviert. Erst dann gelingt es Holmes, die Sprache wieder aufs Wesentliche zu bringen.

»Lane«, fragt er den altehrwürdigen Butler, »was genau finden Sie und Mrs Lane an dem Paket, das Sie erhalten haben, denn nun so alarmierend?«

Jahrzehntelang darin geübt, Ordnung in einen chaotischen Haushalt zu bringen, antwortet Lane mit Methode: »Zunächst und vor allem, Mister Sherlock, aufgrund der Art und Weise, wie es bei uns ankam, nämlich mitten in der Nacht, ohne dass wir wissen, wer es überbrachte.«

Zum ersten Mal macht der große Detektiv keinen vollkommen gelangweilten Eindruck und beugt sich in seinem gepolsterten Korbstuhl vor. »Wo wurde es abgestellt?«

»Vor der Küchentür. Wäre Reginald nicht gewesen, hätten wir es überhaupt erst am nächsten Morgen gefunden.«

Der zottelige Collie, der ganz in der Nähe auf der Seite liegt, hebt den Kopf, als er seinen Namen hört.

»Wir lassen ihn jetzt drinnen schlafen«, erklärt Mrs Lane, während sie sich mit ihrer ausladenden Figur auf einem anderen Stuhl niederlässt, »immerhin kommt er allmählich in die Jahre, genau wie wir.«

Reginald legt den Kopf wieder ab und klopft mit dem wedelnden Schwanz auf die Holzdielen der Terrasse.

»Vermutlich hat er gebellt?« Allmählich verliert Sherlock Holmes die Geduld.

»Oh, wie ein Tiger hat er gebellt, und wie!« Mrs Lane nickt bekräftigend. »Trotzdem hätten wir ihn wahrscheinlich nicht gehört, hätte ich nicht auf dem Sofa in der Bibliothek geschlafen – Sie verzeihen, Mister Sherlock. Nur sind die Stufen für meine Knie so eine Plage.«

»Ich war allerdings in unserem ordentlichen Quartier«, sagt Lane betont, »und bekam von all dem nichts mit, bis Mrs Lane mir läutete und mich zu sich rief.«

»Hat die Küchentür angesprungen und wie ein Löwe gebellt, der Gute!« Vermutlich redet Mrs Lane von dem Hund. Ihre aufgeregten Kommentare stehen in auffälligem Kontrast zu dem bedächtigen Bericht ihres Gatten, vor allem, wenn man bedenkt, dass weder Tiger noch Löwen überhaupt bellen. »Ich hatte Angst, etwas zu unternehmen, bis Mr Lane runterkam.«

Sherlock Holmes lehnt sich in seinen Stuhl. Seine greifvogelartigen Gesichtszüge nehmen den typischen Ausdruck von Enttäuschung über die Torheit der Menschen an. »Als Sie also schließlich nach dem Rechten sahen, fanden Sie ein Päckchen, aber keine Spur von der mysteriösen Person oder den Personen, die es dort zurückgelassen hatten, um … Wie spät war es?«

Lane antwortet: »Zwanzig nach drei am Donnerstagmorgen, oder so in etwa, Mister Sherlock. Ich ging nach draußen und habe mich umgesehen, aber es war finstere Nacht, bewölkt und nichts zu entdecken.«

»Natürlich. Also holten Sie das Päckchen ins Haus, öffneten es aber nicht. Warum nicht?«

»Diese Freiheit würden wir uns nie erlauben, Mister Sherlock. Außerdem ist dieses Päckchen in mehrerlei Hinsicht merkwürdig, wenngleich es sich schwer in Worte fassen lässt.«

Mr Lane ist drauf und dran, dennoch den Versuch zu wagen, es in Worte zu fassen, doch Sherlock Holmes hebt herrisch eine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. »Ich werde mir ein eigenes Bild machen. Seien Sie so gut und bringen Sie mir dieses geheimnisvolle Päckchen.«

Weniger ein Päckchen als vielmehr ein flacher, übergroßer Umschlag aus schwerem braunem Papier, das man zusammengeleimt hat, ist es so leicht, dass sich im Innern nichts zu befinden scheint. Doch was darauf abgebildet ist, bringt sogar Sherlock Holmes zum Staunen. Jeder Zentimeter der Umschlagvorderseite ist bedeckt von grobschlächtigen Verzierungen, ganz in Schwarz. Alle vier Kanten des Rechtecks sind mit dicken Linien eingefasst, zickzack-, spiral- und schlangenlinienförmig. Schräg in den Ecken sitzen intensiv umrandete mandel- und kreisförmige Ornamente, die den Betrachter wie primitive Augen anstarren.

»Machen mir eine Gänsehaut, die Dinger«, sagt Mrs Lane dazu und bekreuzigt sich.

»Höchstwahrscheinlich ist eben dies ihr Zweck. Doch wer …?« Sherlock Holmes lässt die Frage auf seinen Lippen ersterben, während er die anderen Muster auf dem Umschlag betrachtet: grobschlächtige Zeichnungen von Vögeln, Schlangen, Pfeilen, Tierkreiszeichen, Sternen, Mondsicheln und strahlenden Sonnen füllen jeden Fleck Papier, als hätte der Künstler Angst gehabt, Platz für etwas anderes zu lassen – abgesehen von einem großen Kreis, direkt in der Mitte des Umschlags. Scharf umgrenzt von mehreren Reihen aus überkreuzten Linien, erscheint dieser Teil auf den ersten Blick leer. Doch Sherlock Holmes, der seine Lupe hervorgeholt hat, um den Umschlag Millimeter für Millimeter zu untersuchen, konzentriert sich auf dieses Zentrum mit einer Intensität, die selbst für ihn bemerkenswert ist.

Nach einer Weile legt er die Lupe beiseite, scheinbar ohne zu merken, dass er sie auf dem Teller mit Makronen platziert, und setzt sich mit dem Umschlag im Schoß hin. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet, auf die Eichenwälder von Ferndell.

Sherlock Holmes blinzelt, beäugt den schlafenden Hund und wendet sich dann an den Butler und dessen Frau. »Hat einer von Ihnen beiden«, fragt er, »die Bleistiftzeichnung bemerkt?«

Merkwürdig formell, ja direkt vorsichtig, antwortet Mr Lane: »Ja, Sir, haben wir.«

»Meine alten Augen haben sie völlig übersehen«, sagt Mrs Lane, als würde sie eine Sünde beichten, »bis Mr Lane sie mir im Morgenlicht gezeigt hat. Auf dem braunen Papier ist sie schwer zu erkennen.«

»Ich vermute, es war leichter, bevor jemand sie so krude mit den Kohlezeichnungen eingefasst hat.«

»Kohle?«, rufen Butler und Köchin gleichzeitig.

»Unverkennbar. Bei näherer Betrachtung sieht man die Körnung und wo sie verschmiert wurde. Kohlepulver hat die Zeichnung, die meiner Überzeugung nach zuerst angefertigt wurde, fast gänzlich ausgelöscht. Und was die Zeichnung selbst angeht – was halten Sie davon?«

Mr und Mrs Lane wechseln einen betretenen Blick, bevor Mr Lane antwortet: »Eine äußerst hübsche, feine Darstellung einer Blume –«

»Eines Stiefmütterchens«, wirft Sherlock recht schroff ein.

»… inmitten eines grünen Kranzes.«

»Efeu«, sagt Sherlock noch barscher. »Und erkennt einer von Ihnen rein zufällig die Hand des Künstlers?«

Schweigen. Beide Lanes wirken äußerst unglücklich.

»Nun«, sagt Mrs Lane schließlich, »es erinnert mich an …« Doch woran, das scheint sie nicht über die Lippen zu bringen.

»Das zu entscheiden steht uns kaum zu, Mister Sherlock«, sagt Mr Lane flehend.

»Ach, nun kommen Sie.« Sherlocks Tonfall offenbart einen höchst launischen Geisteszustand. »Sie beide wissen so gut wie ich, dass dieses Bild von meiner Mutter gezeichnet wurde.«

Er redet von Lady Eudoria Vernet Holmes, die nun seit beinahe einem Jahr vermisst wird, obwohl man nicht davon ausgeht, dass ein Verbrechen vorliegt. Scheinbar ist die ältliche Exzentrikerin einfach ausgebüxt.

Und kurz nach ihr lief auch ihre Tochter, Sherlocks wesentlich jüngere Schwester Enola Eudoria Hadassah Holmes fort, die gerade erst vierzehn Jahre alt ist.

Nach einer beträchtlichen Pause fragt Mrs Lane zögerlich: »Mister Sherlock, hören Sie hin und wieder etwas von Lady Holmes oder Miss Enola?«

»Ah.« Sollte der große Detektiv bei Erwähnung des Namens seiner Schwester eine seltsame Konstellation von Gefühlen verspüren, so zeigt sich zumindest keines davon in seinem habichtartigen Gesicht. »Ja, ich habe Enola mehrere Male in London getroffen, jedoch nie zu meiner Zufriedenheit.«

»Doch es geht ihr gut?«

»Es geht ihr unerhört gut. Und zu Anfang schien sie mit ihrer Mutter unter einer Decke zu stecken. Sie kommunizierten mithilfe verschlüsselter Botschaften in den Kleinanzeigen der Pall Mall Gazette

Mrs Lane blickt zu Mr Lane, der sich räuspert, bevor er einen Vorstoß wagt. »Sie haben diesen Code entschlüsselt?«

»Mehrere Codes. Selbstverständlich habe ich sie entschlüsselt. Das heißt, alle außer einem, aus dem ich einfach nicht schlau werde.« Dieses Eingeständnis verschärft den Tonfall des großen Detektivs. »Dennoch kann ich unmissverständlich versichern, dass der Codename meiner Mutter Stiefmütterchen und der meiner Schwester Ivy ist, was Efeu bedeutet.« Mit ausgestrecktem Finger tippt er auf die blasse Bleistiftzeichnung auf dem Umschlag in seinem Schoß.

Mr Lane und Mrs Lane schnappen beide so heftig nach Luft, dass Collie Reginald sein Schläfchen aufgibt, sich auf seine vier weißen Pfoten erhebt und den schlauen Kopf reckt, die Ohren spitzt und die Nase schnuppernd in die Luft hält.

»Reginald.« Sherlock spricht den Hund so voller Ernst an, als würde er den Fall Watson darlegen. »Monatelang gab es keinerlei Nachricht von Lady Holmes. Warum meldet sie sich ausgerechnet jetzt, noch dazu auf diese Art?« Seine schlanken Finger vollführen einen Trommelwirbel auf dem braunen Papierpäckchen. »Und was befindet sich darin?«

Mr Lane bietet an: »Soll ich einen Brieföffner holen, Sir?«

»Nein. Ich kann es nicht öffnen.« Ein Gentleman würde sich im Traum nicht einfallen lassen, in der Post eines anderen zu schnüffeln. »Es ist für Enola bestimmt.« Sherlock Holmes steckt seine Lupe ein und erhebt sich, ebenso wachsam wie der Hund an seiner Seite. Ganz wie ein Bluthund, der eine Fährte wittert. »Ich werde es mit nach London nehmen und ihr überbringen.«

Mr Lane und Mrs Lane, die ebenfalls aufgestanden sind, blicken ihn an. Der Butler bringt ihre Zweifel zum Ausdruck: »Aber Mister Sherlock, wissen Sie denn, wie Sie sie finden können?«

»Ja.« Mit einem Funkeln in den Augen lässt sich der Detektiv beinahe zu einem Lächeln herab. »Ja, ich glaube schon.«

Der Fall des verschlüsselten Briefes

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