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Kapitel 1

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Als ich an jenem schicksalhaften Morgen mein Büro betrat (genauer gesagt, das Büro von Dr. Leslie T. Ragostin, Wissenschaftlicher Perditor, meinem erdachten Arbeitgeber), trug ich ein maßgeschneidertes Prinzesskleid aus gerippter Seide in Mistelzweig-Grün mit einem breiten Kragen aus Organzaseide. Auf meiner geschmackvollen rotbraunen Frisur (Perücke) saß ein passender Hut und am üblichen Finger ein Ehering.

»Guten Morgen, Mrs Jacobson!«, rief der Hauspage, der mir die Tür aufhielt.

»Guten Morgen, Joddy!« Ich lächelte, ja strahlte sogar. Endlich, nach einem Monat, hatte der schlichte Bursche es geschafft. Was für ein Unterschied zum ersten Morgen, als ich in einem maßgeschneiderten Kleid (pflaumenfarbener Musselinstoff mit Besätzen aus Filethäkelei) und mit dem Ring erschienen war!

»Von nun an haben Sie mich Mrs Jacobson zu nennen«, hatte ich »Dr. Ragostins« versammelten (und verblüfften) Angestellten streng erklärt: Mrs Fitzsimmons, der Haushälterin, Mrs Bailey, der Köchin, und Joddy. »Mrs John Jacobson.« Ich streckte ihnen die linke Hand hin, damit sie meinen Ehering in Augenschein nehmen konnten, den ich in der Nacht zuvor in einer Pfandleihe erstanden hatte.

»Verdammt!«, platzte Joddy heraus und machte unter dem lächerlichen Hütchen, das Pagen zu tragen hatten, große Augen. »Gold, nich wa? Echtes Gold?«

»Äh, Glückwunsch«, sagte Mrs Fitzsimmons. »Verzeih’n Sie uns die Überraschung, aber Sie ham uns ganz schön kalt erwischt.«

Nicht halb so kalt, wie es mich erwischt hatte. Doch selbstverständlich konnte ich ihnen nicht erklären, wie ich über Nacht aus dem East End hatte fliehen und alle von Ivy Meshles Kleidern von der Stange zurücklassen müssen, mitsamt den vulgären blonden Haarteilen und dem billigen Schmuck, weil mein Bruder Sherlock während der Affäre um Lord Whimbrel und den rätselhaften Reifrock zu viel über mich erfahren hatte. Ich wusste, ich musste in eine neue Identität schlüpfen.

»Sie haben keins der üblichen, äh, Anzeichen an den Tag gelegt«, führte Mrs Fitzsimmons weiter aus.

»Blödsinn!«, entfuhr es der wesentlich direkteren Köchin, Mrs Bailey. »Ihr Mr Jacobson, der is doch vom selben Schlag wie Ihr Dr. Ragostin, oder nich?«

Die anderen zwei sahen sie mit offenem Mund an. Dies war das erste Mal, dass einer von ihnen es gewagt hatte, mir so etwas ins Gesicht zu sagen und auf die Größenordnung meiner Erfindungen anzuspielen, das weiße Lügengespinst, auf dem meine Karriere aufgebaut war. Gewiss hätte ich sie einen Kopf kürzer machen sollen. Doch wie sie so dastand, wie ein aufgeplusterter Igel, amüsierte sie mich derart, dass ich in schallendes Gelächter ausbrach.

Die drei glotzten mich an, was kein Wunder war. »Wahr und tapfer gesprochen, Mrs Bailey«, krähte ich, noch immer lachend, während ich mich langsam erholte. »Nun sagen Sie mir: Bezahlt man Sie hier gut? Werden Sie gut behandelt? Arbeitet es sich gut hier?«, fragte ich sie der Reihe nach und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Jeder nickte eifrig, vielleicht, weil sie an den außerordentlich großzügigen Weihnachtsbonus denken mussten, den ich in der Weihnachtszeit verteilt hatte.

»Nun dann«, fuhr ich fort und schaute diesmal vor allem Mrs Bailey an, »wie lautet mein Name?«

Zweifellos im Nachhinein dankbar dafür, dass ihr Ausbruch ihr keine Kündigung eingehandelt hatte, antwortete sie wie eine Mitverschwörerin: »Sicher, ja doch. Und Sie heißen … heißen … Himmel, ich hab’s vergess’n!«

»Mrs John Jacobson.« Ein Allerweltsname, sodass mein frei erfundener Gatte keinesfalls derselbe John Jacobson sein musste, den jemand derer, die meinen Weg kreuzten, kennen mochte.

Sie knickste sogar vor mir. »Ja, Ma’am, Mrs Jacobson.«

»Sehr gut. Mrs Fitzsimmons?«

»Meinen herzlichst’n Glückwunsch, Mrs Jacobson.«

»Ich danke Ihnen.« Nicht nur mein Erscheinungsbild hatte sich verändert, ich gestattete mir zudem einen aristokratischeren Akzent. »Joddy?«

»Äh, was immer Sie sagen, gnäd’ge Frau. Mrs Jacobson.«

»Gut. Und zufälligerweise bin ich nicht länger Dr. Ragostins Sekretärin, sondern seine Assistentin.«

»Ganz recht, Mrs Jacobson«, stimmten sie alle meiner eigenmächtigen Beförderung zu.

»Eigentlich wird es keinen Unterschied machen«, gab ich zu. »Gehen Sie einfach wie gewohnt Ihren Pflichten nach.«

Und ohne Weiteres taten sie genau das. Mir war bewusst, dass sie mit den anderen Dienstboten der Nachbarschaft tratschen würden. Zum Glück jedoch lag diese Nachbarschaft weit entfernt, sowohl von Sherlock als auch von Mycroft, und was ein noch größeres Glück war: Keiner meiner Brüder beschäftigte Dienstboten. Dennoch seufzte ich auf, besorgt darüber, eine geflüsterte Bemerkung könnte deren unerwünschte Aufmerksamkeit wecken.

Als jedoch der Juni dem Juli wich, wurde meine Sorge kleiner. Der einzig denkwürdige Vorfall war, dass ich in meiner neuen Unterkunft tatsächlich einmal ausreichend aß, sodass mein Gesicht und andere Teile meines Körpers etwas rundlicher ausfielen und ich auf einige der üblichen Polster verzichten konnte. Ich hatte mir ein teures Zimmer im Club für Arbeitende Frauen genommen, in dem ich Mitglied war und auf dessen Grund und Boden Männer unter keinen Umständen Zutritt hatten. Ich fühlte mich dort sicher. Dies und mein verändertes Aussehen wiegten mich in einer Behaglichkeit, die schon bald auf ihr selbstgefälliges kleines Hinterteil purzeln sollte.

Jedoch erst, als es zu einem interessanten Ereignis kam.

Der Fall des verschlüsselten Briefes

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