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Kapitel 2

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Kaum, dass ich an dem bereits erwähnten schicksalsschweren Tag, an dem ich das mistelzweiggrüne Kleid trug, in Dr. Ragostins Büro ankam, klingelte es an der Tür. Es klingelte und klingelte und klingelte weiter, als handelte es sich um einen Feueralarm. »Hilfe! Um Himmels willen, so helfe mir doch jemand!«, rief ein Mann mit aristokratischem, melodramatischem, ja beinahe opernwürdigem Tonfall. Mit britischer Zurückhaltung hatte dies nun wirklich nichts zu tun. »Beeilung!« Entdeckte ich in seiner tiefen Stimme nicht den Anklang eines fremden Akzents?

»Meine Güte, Joddy«, wies ich den erschrockenen Jungen von meinem Schreibtisch aus an, »nun öffnen Sie schon die Tür!«

Sobald er dies getan hatte, konnte ich den brüllenden Mann auch sehen. Sein verzerrtes, hochrotes Gesicht erschien lächerlich eingeklemmt zwischen seinem glänzenden Zylinder und dem gestärkten Kragen, der Seidenkrawatte und dem Ausgehmantel. Als er in mein Büro und auf mich zu marschierte, während ich aufstand, um ihn zu begrüßen, brachte der Fremde mit offensichtlicher Mühe Mäßigung in sein Gesicht. Ein durchaus attraktiver junger Lord war er, wenn auch auf eine wilde Art und Weise, sodass ich unwillkürlich an Brontës Heathcliff denken musste. »Ist Dr. Ragostin da?«, wollte er wissen wie jemand, der zwar beinahe seinen Verstand, nicht jedoch seine Manieren verloren hatte: Er zog den Hut, wobei er Haare zum Vorschein brachte, die nahezu so schwarz waren wie die eines Raben.

»Leider nicht. Und wir erwarten ihn auch nicht in naher Zukunft zurück.« Mein damenhaftes Kleid aus gerippter Seide und Organza machte deutlich, dass ich mehr als eine einfache Angestellte war, was mir entsprechendes Selbstbewusstsein verlieh. »Als Dr. Ragostins persönliche Assistentin kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen. Bitte nehmen Sie Platz.«

Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, als wäre er am Rande der Erschöpfung. Auf beinahe wundersame Weise, bedachte man seine übliche Unfähigkeit, kam Joddy mit einer Karaffe eisgekühlten Wassers auf einem Tablett herbei. Ich goss ein und der Mann nahm sein kaltes Getränk dankbar an, zweifellos sowohl um sich zu beruhigen als auch um seiner heiseren Kehle etwas Gutes zu tun. In der Zwischenzeit nahm ich meinen Platz hinter dem Schreibtisch wieder ein.

»Ihr Name, wenn ich bitten darf?«, begann ich, Stift und Papier im Anschlag.

Seine Augenbrauen, schwarze Rabenflügel, schossen in die Höhe. »Meine Gattin, keine Geringere als die dritte Tochter des Earl von Chipley-on-Wye, ist auf unerklärliche Weise und unter höchst seltsamen Umständen verschwunden. Die Polizei besteht aus unfähigen Tölpeln und ich weigere mich, auch nur eine weitere Sekunde mit lächerlichem Firlefanz zu vergeuden. Ich würde viel lieber mit Dr. Ragostin persönlich sprechen.«

»Selbstverständlich. Nichtsdestotrotz bin ich auf ganzer Linie autorisiert, in Notfällen die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Also bitte, ich muss die Fakten notieren. Ihr Name?«

Kerzengerade richtete er sich auf seinem Stuhl auf, wie eine Fahne, die gehisst wurde. »Ich bin Duque Luis Orlando del Campo von königlichem katalanischem Blut.«

Ah! »Du-ke« ausgesprochen – ein spanischer Herzog! »Es freut mich, Ihnen zu Diensten sein zu dürfen, Euer Gnaden«, rezitierte ich automatisch. Wie jedes britische Schulkind waren auch mir die Ränge des Adels eingebläut worden: König, Herzog, Marquess, Earl, Baron. Angeredet werden diese: Euer königliche Hoheit, Euer Gnaden, Lord, Lord und Lord. Für Seltsamkeiten wie Kaiser, Grafen, Ritter, jüngere Söhne und dergleichen zog man ein Buch über Etiquette zurate. »Und was –?«

»Meine Duquessa«, unterbrach er mich mit noch mehr Eindringlichkeit, »ist die edle Lady Blanchefleur, weltbekannt für ihre zarte Schönheit, eine zierliche Blüte auf einem zerbrechlichen Staubfaden der Weiblichkeit.«

»Sehr wohl«, murmelte ich, reichlich sprachlos über seine poetische Beschreibung, auch wenn der Name seiner Frau auf Französisch tatsächlich »weiße Blume« bedeutete. »Und das Unglück von Euer Gnaden ist es, dass die Duquessa vermisst wird?«

»Sie wurde auf unerklärliche Weise entführt, zumindest glauben wir das, als sie mit ihren Hofdamen ihren täglichen Spaziergang genoss.« Nun war seine Haut unter dem schwarzen Haar recht blass geworden.

»Und in etwa zu welchem Zeitpunkt ereignete sich dieser grässliche Vorfall?«

»Etwa um zwei Uhr, gestern Nachmittag.«

Dann hatte er höchstwahrscheinlich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Kein Wunder, dass er etwas überreizt erschien. »Und wo kam es dazu?«

»Als sie sich in der Nachbarschaft von Marylebone die Füße vertraten. Baker Street, glaube ich.«

»Ah«, brabbelte ich. »Hm.« Baker Street! Wo mein geliebter und vortrefflicher Bruder Sherlock residierte, womit ich ihm im Rahmen dieses Falls gefährlich nahe kommen könnte. »Äh. Baker Street. So, so. Und wo in der Baker Street genau?«

»Am Dorsett Square …«

Oh weh. Schrecklich nah an Sherlocks Wohnung.

»… wo es angeblich eine Haltestelle der Untergrundbahn gibt.« Der Duque sprach das Wort Untergrundbahn mit der typischen Abneigung eines Gentlemans aus, der von dieser neumodischen, dunklen und ungesunden Art der Fortbewegung nichts hielt, da für gewöhnlich nur die niedrigen Klassen Londons billigste Transportform nutzten. Obwohl die Lokomotiven ihren Rauch in Kammern hinter den Triebwerken lagerten und nur in Belüftungsschächten abließen, die zu eben diesem Zweck angelegt worden waren, stank es im Untergrund nicht nur nach Qualm und Abgasen, sondern obendrein überwältigend nach ungewaschener Menschheit.

Nutzte mein Bruder Sherlock je die Untergrundbahn? In keinem von Dr. Watsons Berichten hatte ich gelesen, dass der große Detektiv einmal einen Fuß in den Untergrundbahnhof gesetzt hätte, der so praktisch nur einen halben Block von seiner Unterkunft entfernt gelegen war.

»Bitte, Euer Gnaden«, drängte ich meinen aristokratischen Klienten, »erzählt mir genau, was sich zugetragen hat.«

»Lächerlich und unnütz!« Duque Luis Orlando del Campo hob abwehrend beide Hände, die in hellem Ziegenleder steckten. »Ich kann diese Geschichte unmöglich länger wie ein Papagei wieder und abermals wiederholen. Ich verlange, dass Sie Dr. Ragostin rufen!«

Ich will dem geneigten Leser die zahlreichen Schmeicheleien, Beruhigungsversuche, Wassergläser und die Zeitverschwendung ersparen, die es mich kostete, bis ich ihm einen verwirrenden Bericht entlockt hatte. Zusammenfassend soll genügen, dass seine Gattin, Ihro Gnaden, die Duquessa, aus unbekannten Gründen in die Unterwelt des Baker-Street-Untergrundbahnhofs hinabgestiegen war. Eine ihrer Hofdamen hatte den Mut, sie zu begleiten. Die andere wartete oben am Eingang. Schließlich war die erste Hofdame höchst verstört die Treppen wieder hinaufgerannt. Wo war die Duquessa? Anschließend gingen beide hinunter, um sie zu suchen, jedoch ohne Ergebnis. Die hochwohlgeborene Schönheit Blanchefleur del Campo war wie vom Erdboden verschluckt.

Wie überaus faszinierend. »Die Polizei hat die Suche aufgenommen, vermute ich?«

Er hob das wild entschlossene, verzweifelte Gesicht. »Ja, sie haben nach ihr gesucht, aber keine Spur von ihr gefunden.«

»Könnte sie einen anderen Ausgang genommen haben?«

»Man hat mir versichert, dass es keinen zweiten gibt. Es ist lächerlich anzunehmen, sie könnte auf den Gleisen spazieren gegangen sein.«

Lächerlich, in der Tat, würde man nicht nur in den Genuss der Gesellschaft von Ratten kommen, sondern auch das Risiko eingehen, von einem herannahenden Zug überfahren zu werden. »Könnte sie aus irgendeinem Grund in einen der Züge gestiegen sein?«

»Als sie verloren ging, passierte kein einziger Zug den Bahnhof. Was das angeht, schwören es beide Hofdamen hoch und heilig, und der Fahrplan der Untergrundbahn bestätigt es.«

»Dennoch, wäre die Duquessa am Bahnsteig geblieben oder die Treppe heraufgekommen, hätten die beiden sie gesehen.«

»Ganz genau! Es ist ein Ding der Unmöglichkeit! Ich weiß nicht mehr ein noch aus.«

»Haben Sie eine Lösegeldforderung erhalten?«

»Noch nicht. Ich wage zu behaupten, dass dies noch eintreten wird. Nicht nur ich bin gut gestellt, auch ihr Vater, der Earl – sehr reich –, dennoch ist solch eine bizarre Entführung unvorstellbar. Unvorstellbar! Wie hat man sie fortgebracht? Ohne gesehen zu werden? Wo doch niemand sich hätte denken können, dass sie einen solchen Ort überhaupt betreten würde – allein eine fixe Laune kann sie dazu bewogen haben!«

»Was für eine Laune könnte das gewesen sein, Euer Gnaden?«

»Das hat mir bisher niemand zu meiner Zufriedenheit erklären können. Die Hofdamen der Duquessa verfallen in Hysterie, sobald ich sie befrage, und der Polizeiinspektor hat ebenso wenig etwas Vernünftiges aus ihnen herausgebracht. Die ganze Welt ist verrückt geworden. Ich glaube, ich verliere selbst noch den Verstand! Ich habe mich bereits an Mr Sherlock Holmes gewandt …«

Welchen Satz mein Herz tat!

»… doch er befindet sich derzeit an irgendeinem lächerlichen Ort auf dem Lande und wird erst heute zurückerwartet. Genau genommen …«

Der verstörte Duque Luis Orlando del Campo zog eine prächtige Golduhr aus seiner Weste und warf einen Blick darauf. »Er sollte in diesem Moment bereits auf mich warten. Ich muss los.« Er stand auf. »Wenn Sie Dr. Ragostin bitte ausrichten –«

»Euer Gnaden, ich bin gewiss, der Doktor«, unterbrach ich ihn mit fester Stimme, wenngleich meine Gedanken Purzelbäume schlugen, »wird mit den Hofdamen Eurer Gattin sprechen müssen.«

»Beide stehen vollkommen neben sich.«

»Absolut verständlich. Dennoch muss man sie befragen. Doch wenn sie sich schon nicht Euch oder dem Polizeiinspektor anvertrauten, werden sie erst recht nicht mit einem fremden Mann reden.«

»Wahr. Wie wahr«, murmelte er verzweifelt, während seine wilden Blicke im Zimmer umherschweiften und schließlich an mir hängen blieben, als hätten sie Erleuchtung gefunden. »Vielleicht wäre es besser, wenn Sie, eine Frau, sie befragen würden? Wären Sie damit einverstanden?«

»Selbstverständlich.« Ich unterdrückte es, ihm dazu zu gratulieren, so schlau auf die Lösung gekommen zu sein, auf die ich ihn hatte stoßen wollen. »Eure Adresse, Euer Gnaden?«

Der Fall des verschlüsselten Briefes

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