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Kapitel 3

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Als ich Duque Luis Orlando del Campos Residenz in der Oakley Street zum ersten Mal erblickte, blinzelte ich überrascht. Höchst unerwartet handelte es sich dabei um orientalisierende Architektur, und das in dieser exklusiven Nachbarschaft nahe dem Themse-Uferdamm. In nahezu ganz London konnte man neogriechische, georgianische, italienisch anmutende, französische, schweizerische, bayerische Bauten ad infinitum vorfinden – häufig auch bedauerliche Mischungen –, doch kaum trifft man je auf Orientalistik. Das aus gelben Ziegeln erbaute Haus scheute geschmackvollerweise Töne von Ocker, Oliv oder Rostrot und bevorzugte stattdessen zinnoberrote Zierleisten und pfauenblaue Dächer. Rubinrote und smaragdfarbene Buntglasfenster funkelten unter rotweiß gestreiften Spitzbögen. Übergroße Fliesen im Schachbrettmuster bedeckten die Eingänge und die Erkerfenster, Türmchen et cetera wurden nicht nur von gewöhnlichen Schindeln überdacht, sondern von bronzenen Kuppeln, wie etwa aus Tausendundeine Nacht. Während ich mich der Eingangstür näherte und einen Türklopfer in Form eines grinsenden Dschinn betätigte, bereitete ich mich mental auf so ziemlich alles vor. Vielleicht ein Butler mit Turban?

Nein. Ein vollkommen gewöhnliches Zimmermädchen in einem geblümten Kleid öffnete mir die Tür, um mich einzulassen, und hielt mir das obligatorische Silbertablett für Dr. Ragostins Karte hin, die ich handschriftlich um meinen neuen Alias ergänzt hatte: Mrs John Jacobson.

»Ist Mr Sherlock Holmes ebenfalls anwesend?«, fragte ich das Zimmermädchen.

»Noch nicht, Madam. Wir erwarten ihn in Kürze.«

Oh weh. Wenn Sherlock auftauchte, würde ich einen Weg finden müssen, mich rasch in Luft aufzulösen.

Das Mädchen brachte meine Karte zu den Hofdamen. Keine Zofen, wohl gemerkt, oder gar Gesellschafterinnen, sondern Hofdamen, nicht weniger. Hmm. Das könnte interessant werden, überlegte ich, während ich in einer faszinierend bogenförmigen Eingangshalle wartete, die erfüllt war von geschnitztem Rankenwerk und durchlocht von Nischen. Hier gab es nicht das übliche Meissner Porzellan zu sehen, sondern eine Sammlung seltsamer Gefäße aus Ton und Bronze, die wie alle möglichen Tiere geformt waren: Elefanten, Löwen, Störche, kämpfende Hähne, Delfine, Krokodile, Katzen – nein, erkannte ich einigermaßen erschrocken, die Katzen waren echt. Schlanke, schmucke, orientalisch anmutende Hauskatzen fläzten sich inmitten der Kuriositäten und liefen mit unbekümmerter Balance über die schwungvollen Zierden des geschnitzten Holzes. Alles in allem ergab dies eine solch exotische Atmosphäre, dass ich halb erwartete, in einen Harem geführt zu werden, als das Zimmermädchen erneut erschien, um mich nach oben zu bringen.

Das Boudoir enttäuschte mich nicht. Die Wände waren oberhalb ihrer elfenbeinfarbenen Vertäfelungen vollständig bedeckt von herrlich bunten, sternförmigen Fliesen, die man geschickt zusammengesetzt hatte. Entlang der niedrigen Deckenwölbungen verlief eine Borte aus dicken, stilisierten gescheckten Pferden. An einem Teil der Wand hingen persische Miniaturen in Elfenbeinrahmen. Am Boden lag ein überaus weicher türkischer Teppich mit einem prächtigen Muster. Insgesamt war der Effekt erfreulich fremdländisch.

Die beiden Damen jedoch, die mich empfingen, entstammten unverkennbar sittenstrengem, schmallippigem, blassäugigem britischem Adel, höchstwahrscheinlich die jüngeren Töchter eines Vizekönigs oder Barons. Eine der jungen Ladys wurde mir als Mary Hambleton vorgestellt, die andere als Mary Thoroughcrumb. Die erste trug türkisfarbenen hochfeinen Satin, durchzogen von kupfergoldenen Fäden, und die zweite pfirsichfarbenen, bestickten Seidentaft, besetzt mit rosa Mousselin – beide Gewänder zwar geschmackvoll, aber derart luxuriös, dass ich in meinem Prinzesskleid aus gerippter Seide regelrecht schlicht wirkte. Die Frage drängte sich auf: Wenn sich die Hofdamen der Duquessa so zu Hause anzogen, wie, in aller Reichtum Namen, mochte Blanchefleur selbst sich kleiden, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigte?

Jedoch hob ich mir diese Frage für später auf, da die beiden Marys sich setzten und mir gleichmütig einen dritten Stuhl zuwiesen. Trotz ihres reichen Aufzugs schienen sie recht armseliger Stimmung, waren ihre Augen doch rot und geschwollen.

»Wir sind schrecklich niedergeschlagen«, sagte die Mary-in-Satin, sobald man uns mit Tee versorgt hatte. Mir hatte das Hausmädchen zuletzt eingeschenkt, zudem gaben mir beide Hofdamen durch ihre übertrieben aufrechte Körperhaltung unmissverständlich zu verstehen, wie über die Maßen glücklich ich mich schätzen durfte, überhaupt von ihnen empfangen zu werden.

»Wir haben bereits mit der Polizei gesprochen«, ergänzte Mary-in-Taft verstimmt. »Was ist es denn, was Ihr, äh, Dr. Ragostin noch wissen möchte?«

Gemäß meiner Rolle öffnete ich einen kleinen Handkoffer, den ich mitgebracht hatte, zog mir die Sommerhandschuhe aus Nankingbaumwolle von den Fingern und warf sie hinein, bevor ich einen Schreibblock hervorholte und mich mit gezücktem Stift bereitsetzte. »Zunächst einmal fragt er sich, welches Unterfangen Euch und Eure geschätzte Herrin nach Marylebone führte?«

»Unterfangen trifft es kaum«, keifte Türkissatin. »Unsere liebe Blanchefleur benötigt keinen Grund, um dorthin zu gehen, wohin es ihr beliebt.«

Unsere liebe Blanchefleur? Nicht unsere liebe Lady oder unsere liebe Herrin? Allem Anschein nach stand die Duquessa ihren Hofdamen außergewöhnlich nah.

»Ihro Gnaden war … ich meine, sie ist …« Die Hofdame geriet ins Stammeln und schien kaum in der Lage fortzufahren. »… ein rastloser Geist …«

»Jung«, warf die andere Mary ein, obwohl sie selbst kaum älter als zwanzig sein konnte, »und auf harmlose Art abenteuerlustig. Ihr behütetes Leben kommt ihr häufig schrecklich öde vor, wenn also eine spontane Laune verspricht, sie glücklich zu machen …«

Tränen traten in ihre auffallend eng stehenden Augen. Sie scheinen ihre Herrin wahrhaft zu mögen, machte ich mir einigermaßen überrascht eine geistige Notiz.

»Eine Laune?«, hakte ich nach.

»Ja. Sie wollte die ganze Stadt erkunden, abgesehen von den Orten, die besonders abschreckend sind. Irgendwo hatte sie gehört, man könne die Bezirke anhand der verschiedenen Straßenlaternen voneinander unterscheiden …«

Vollkommen richtig – auch ich fand es einigermaßen faszinierend, mir die Zeit damit zu vertreiben, einen lächerlich dekorierten Laternenpfahl vom anderen zu unterscheiden. Allmählich verspürte ich für die junge Gattin des Duque Luis Orlando del Campo eine gewisse Zuneigung.

»… jedenfalls hat sie sie gern begutachtet, daher haben wir an den meisten Tagen die Kutsche hierhin oder dorthin genommen, um spazieren zu gehen.«

»Ein durchaus normaler und interessanter Zeitvertreib«, versicherte ich ihnen. »Und der gestrige Ausflug führte Euch in die Baker Street? Zum Untergrundbahnhof?«

»Ja, aber natürlich würde keine von uns jemals dort hinuntersteigen.« Der Himmel bewahre! Nicht dorthin, wo einem ein Wölkchen Zigarrenrauch, Bier oder gesalzener Heringe ins feine Näschen steigen könnte. »Wir wollten lediglich daran vorbeilaufen, doch am Eingang lungerte eine jämmerliche alte Gestalt …«

»Schniefte und wimmerte, sie wäre lahm und hätte Wassersucht, würde es allein nicht die Treppe hinunter schaffen und sicher ihren Zug versäumen. Inzwischen bin ich sicher, dass all dies nur vorgetäuscht und Teil eines schmählichen Plans war«, warf die lebhaftere türkise Mary ein. »Doch zu diesem Zeitpunkt dachten wir uns selbstredend nichts Schlimmes dabei, als die liebste Blanchefleur …«

Augenblicklich richteten beide den Blick an mir vorbei auf die gegenüberliegende Wand, so abrupt, dass ich mich ebenfalls in diese Richtung umdrehte und dort ein lebensgroßes Porträt einer wirklich liebreizenden jungen Frau entdeckte. Ihr blonder, zerbrechlich wirkender Kopf, vor allem ihre sensiblen, mitfühlenden Augen standen in krassem Gegensatz zu der reichen und schweren roten Samtrobe , die übertrieben mit Perlen aus Gold besetzt war.

»Ist sie das?«, rief ich unwillkürlich, denn nachdem ich den Duque kennengelernt hatte, hatte ich mir irgendwie vorgestellt, seine Gattin wäre ebenso exotisch und temperamentvoll wie er, obwohl ich ja wusste, dass sie die Tochter eines britischen Earl und dessen französischer Frau war.

»Ja, das ist unsere liebe Herrin, wobei es sie nicht annähernd trifft«, sagte Taft-Lady in gänzlich neuem Tonfall, zart, beinahe anhimmelnd. »Sie hat das Gesicht eines Engels und das Herz eines lieben, traurigen Kindes. Eine freundlichere, sanftere Seele …«

»… hat es nie gegeben«, unterbrach Satin. »Ein geduldigeres, heiligeres Lamm …« Und sehr zu meinem Unbehagen begann diese arrogante junge Frau zu weinen.

»Aber, aber, ist ja gut«, sagte die andere zu ihr. »Woher hätten wir das ahnen sollen? Und wie hätten wir es verhindern können?«

An mich gewandt erklärte sie: »Wir machen uns Vorwürfe, dennoch geschah alles so schnell und so selbstverständlich …«

»Diese zahnlose Hexe mit den Borsten am Kinn!«, würgte Satin schluchzend hervor.

»Sie rief unserer Herrin zu«, Tafta gab sich Mühe, einen Cockneyakzent nachzuahmen: »Oh, gesegnet süße Madonna, die zur Erden runtergestiegen is, Se werd’n ner alten lahmen Frau doch helf’n, nich? Die steil’n Stuf’n – würd ich die runterfall’n, wär’s mein Ende, aber wenn ich in Ihre Engelsaug’n schau …«

»Es reicht«, befahl die andere gepresst.

»An mehr kann ich mich ohnehin nicht erinnern«, erwiderte Mary-in-Taft, »denn da war die liebe, impulsive Blanchefleur schon dabei, der alten Bettlerin die Treppe hinunterzuhelfen, und wir haben sie nicht mehr gesehen.«

Obwohl die Hofdamen es nicht aussprachen, bin ich sicher, sie standen wie vom Blitz getroffen auf dem Gehsteig. Um ihnen auf die Sprünge zu helfen, fragte ich: »Wie sah diese alte Frau aus?«

»Wie eine Kröte unter einer abgrundtief hässlichen, alten Strohhaube«, antwortete Satin barsch, als sie sich von ihren Tränen erholt hatte. »Ich sagte zu Mary: Ihr geht Blanchefleur nach und ich bleibe hier, um auf sie zu warten, solltet ihr aneinander vorübergehen.«

Gewiss hatte es über diesen Punkt einigen Zank gegeben, worauf wir jedoch nicht eingingen. Einige Augenblicke mochten verstrichen sein, bevor eine der Hofdamen sich die Treppe hinuntergetraut hatte, während die andere oben wartete.

»Ich habe gesucht und gesucht, inmitten des schändlichsten und heruntergekommensten Gesindels, das man sich vorstellen kann! Die Gleise auf und ab, den gesamten Bahnsteig entlang, doch sie war nicht da! Selbst in einer Besenkammer hinter den Metallstufen sah ich nach …«

»Die Blanchefleur nicht wieder heraufkam, was ich für meinen Teil beschwören kann«, keifte die andere, »also müsst Ihr sie übersehen haben!«

»Aber ich habe überall gesucht!«

»Und die alte Frau?«, fragte ich, bevor sie einen Streit vom Zaun brechen konnten.

»Verschwunden, als hätte es sie nie gegeben! Wie vom Erdboden verschluckt! Genau wie unsere liebe Blanchefleur.«

Der Fall des verschlüsselten Briefes

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