Читать книгу Dem Feind versprochen - Natalie Bechthold - Страница 10
Der tote Graf
ОглавлениеGräfin Stephania und Elene gingen mit gerafften Röcken an alten Gräbern vorbei.
„Siehst du dort das kleine Gebäude?“, fragte Stephania nach einer Weile.
„Ja.“
„Das ist ein Mausoleum. Dort liegt meine Familie begraben.“
„Wirklich?“ Elene war erstaunt, wie schön das Gebäude war. Seine dunkelgraue Steinwand war an vielen Stellen moosig grün. Dunkelgrüner Efeu schlang sich um das achteckige Gebäude mit runder Kuppel. Der Anblick dieses Gebäudes wirkte alt, ein wenig ungepflegt und dennoch schön.
„Es hat irgendetwas … Stilles, beinahe Geheimnisvolles“, sprach Elene ihren Gedanken laut aus, ohne es zu merken.
Stephania blieb stehen.
„Mein Ururgroßvater beteiligte sich am Kreuzzug gegen die Muslimen. Und als er nach mehreren Jahren aus dem Krieg zurückkehrte ließ er diese Grabstätte für sich und seine Familie errichten. Er nannte es Mausoleum. Er erzählte, dort im Nahen Osten werden die Herrscher auf diese Weise begraben. Er war so fasziniert davon, dass er auf seiner Burg ein kleineres errichten ließ.“
Sie machte eine kurze Pause.
„Aber ich denke nicht, dass die Raubritter den Leichnam meines Vaters dort begraben haben“, fügte Stephania traurig hinzu.
„Das glaube ich auch nicht, nachdem sie seine Burg erobert haben.“
„Lass uns weiter gehen.“
Sie gingen von Grab zu Grab.
„Die Gräber im Freien gehören den Handwerkern und ihren Familien.“ Jedes Grab wurde mit einem Grabstein gekennzeichnet. Auf jedem stand ein Name, doch Elene konnte sie nicht lesen. Keine einzige Blume wuchs auf den Gräbern, nur Gras.
Stephania fand nirgendwo das Grab ihres Vaters.
Am Rande des Burgfriedhofs schaufelte ein alter Mann Erde auf einen Haufen. Stephania drehte sich im Gehen zu Elene um.
„Das ist unser Totengräber Reinhard. Er könnte wissen, wo der Leichnam meines Vaters ist.“
Elene nickte. Sie gingen auf den Totengräber zu. Reinhard warf noch die letzte Schaufel Erde auf den Haufen und wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn. Dann stützte er sich auf den Stiel der Schaufel und sah traurig auf das frische Grab.
„Reinhard?“
Überrascht drehte er sich um. Ein Lächeln zog über sein Gesicht, als er seine Herrin vor sich erkannte.
„Guten Tag, Gräfin. Ich freue mich, Euch zu sehen.“ Er beugte seinen Kopf zum Gruß.
Obwohl seine Herrin ein schwarzes Trauerkleid trug, fand er, die Farbe stand ihr sehr gut.
„Ist hier mein Vater begraben?“ Sie zeigte auf den großen Erdhaufen.
Sofort verschwand sein freundliches Lächeln.
„Nein, darin ruht der Sohn des Burgfleischers. Er war über einen Monat krank. Klagte über starke Schmerzen in der Brust, bis er schließlich starb.“
Seine Stimme wurde immer leiser. Das Letzte murmelte er vor sich hin.
Stephania nickte stumm. Sie kannte ihn. Er war ein freundlicher und sehr fleißiger Junge. Half seinem Vater immer bei der Arbeit, bis er schließlich erkrankte. Der Heiler sah ihn sich zwar an, konnte ihm aber nicht helfen.
„Gestern ist er gestorben“, fügte der Totengräber noch traurig hinzu. Er biss sich auf die Unterlippe und sah sie mit verengten Augen an.
„Aber wenn Ihr Euren toten Vater sucht, dann werdet Ihr ihn auf dem Burgfriedhof nicht finden.“
Stephanias Augen begannen zu glänzen.
„Sie haben alle Tote hinter der Burg in ein Massengrab geworfen und begraben.“
Noch konnte sie ihre Tränen zurück halten.
„Ist mein Vater auch darunter?“
Der alte Totengräber nickte. Stephania hielt die Hand vor den Mund. Ihr Kinn bebte. Tränen rollten über ihre Wangen. Elene legte vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter. Doch diese schüttelte sie ab, drehte sich um und rannte weg.
Elene nickte dem Totengräber dankend zu und rannte Stephania nach. Sie erreichte sie außerhalb des Burgfriedhofes am ersten Gebäude mit der Stirn gegen die Wand gelehnt. Stephania weinte bittere Tränen und schlug gleichzeitig mit der Faust gegen das Gestein. Elene näherte sich ihr leise und umarmte sie tröstend von hinten. Sie legte ihre linke Wange gegen Stephanias Rücken. Elene wusste nicht, mit welchen Worten sie sie trösten konnte, deshalb stand sie da und hielt sie einfach nur fest.
Es vergingen viele Minuten, bis sich die Gräfin von der Wand löste. Elene kam es wie eine gefühlte Ewigkeit vor. Sie ließ Stephania los.
„Geht es wieder?“, fragte sie vorsichtig und reichte ihr ein Taschentuch.
Sie trocknete sich damit das Gesicht und nickte stumm. In ihrer Nähe ertönten Stimmen. Sie kamen immer näher. Hin und wieder fiel auch ein Lachen. Es kam von den Gästen, die die Tribüne verlassen hatten und sich mit hungrigen Mägen in die Speisehalle begaben. Die Ritter und einige der Edelmänner, die gegeneinander gekämpft hatten, folgten ihnen. Stephania zwang sich eine neutrale Miene aufzusetzen. Sie lächelte nur dann freundlich, wenn sie zuerst von einem der Vorbeigehenden angelächelt wurde.
„Ich muss zum König“, sagte Elene leise zu ihr und ergriff ihre Hand. „Tue so, als ob du nichts von dem Graben wüsstest.“
Stephania sagte nichts, stattdessen erwiderte sie ihren Händedruck als eine stumme Antwort. Und dann tauchte ihre Freundin unter die Gäste. Sie holte den König ein, der sich gerade mit einem Ritter unterhielt, schob ihre Hand in die seine und begleitete ihn.
Kaum war ihre Freundin weg, da fühlte sich Stephania so trostlos, mit ihrem Schmerz allein.
„Schön Euch wieder zu sehen“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich sagen. Inzwischen kannte sie sie. Er. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Ihr Blick wurde ernst. Sie sah zu Boden, immer noch schweigend.
„Darf ich Euch in die Halle begleiten?“ Balthasar bot ihr seinen Arm an. Doch sie achtete nicht auf seine Gebärden. Auf seinen Zügen zeichnete sich ein angespanntes, unsicheres Lächeln ab. Sein dunkelbraunes Haar war feucht von Schweiß und klebte an den Schläfen.
Stephania presste die Lippen zusammen und schloss für einen winzigen Moment ihre Augen. Sie verachtete diesen Mann. Doch was blieb ihr anderes übrig, als mit diesem Mann für immer eine Bindung einzugehen? Des Königs Wort war für seine Untergebenen Gesetz und daran konnte auch sie nichts ändern. Dann öffnete sie wieder ihre Augen und hakte sich widerwillig bei ihm ein.
Gemeinsam gingen sie in die Speisehalle.
***
Am Abend, als die Gäste erneut die Speisehalle aufsuchten, ließ Stephania dem Burgherrn eine mündliche Entschuldigung überbringen. Sie fühle sich nicht wohl und wollte das Abendessen auf ihre Kammer bringen lassen. Balthasar zog eine Augenbraue hoch, als ihm die Kammerfrau diese Nachricht überbrachte, doch er erhob keine Einwände.
***
Zwei Stunden später klopfte jemand an ihre Tür. Stephanias Kopf schoss in deren Richtung. Wer kann es sein?, fragte sie sich. Sie saß unter einer Decke im Himmelbett und rief: „Herein.“
Leise öffnete sich die Tür. Elene kam herein. Sie lächelte trotz ihrer Sorge um ihre Freundin und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Stephania war erleichtert, dass sie es war und erwiderte ihr freundliches Lächeln.
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Geht es dir sehr schlecht?“
Stephania zögerte zuerst mit der Antwort. Sollte sie sie belügen? Nein, das wollte sie nicht. Elene war ihre Freundin. Sie verdiente die Wahrheit.
„Eigentlich geht es mir ganz gut.“ Stephania senkte ihren Blick auf die himmelblaue Bettdecke. Sie fühlte sich ertappt.
„Warum bist du dann nicht zum Abendessen erschienen?“ Das Lächeln war aus Elenes Gesicht gewichen.
Stephania zögerte erneut mit der Antwort, aber dann gestand sie: „Ich wollte nicht. Ich konnte nicht.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Warum nicht?“, bohrte Elene weiter.
Stephania hob ihren Blick und sah zur Decke ihres Himmelbettes. Sie erinnerte sich an den Moment nicht gern.
„Als du zum König gegangen bist, da ist er zu mir gekommen.“
„Wer, dein Verlobter?“
„Mh-hm.“
„Und?“
„Er wollte mich zur Speisehalle begleiten und bot mir seinen Arm an.“ Stephania drehte das Gesicht zu ihrer Freundin. „Ich wollte nicht, verstehst du? Nicht mit ihm.“
Elene legte ihre Hand auf die ihre und nickte bejahend.
„Aber er ist nicht irgendwer, sondern dein zukünftiger Gemahl“, sagte sie, um sie daran zu erinnern.
„Ich weiß, aber er ist auch der Mörder meines Vaters.“ In ihren Augen sammelten sich Tränen. „Er hat seine Burg eingenommen. Es war das Erbe meines zukünftigen Ehegatten.“ Stephania schlug verbittert mit der Faust auf ihre Brust.
Mitfühlend strich Elene Stephania eine schwarze Strähne aus dem Gesicht und legte anschließend die Hand auf ihre Schulter.
„Ich weiß - und ich weiß auch, dass der große Verlust sehr schmerzhaft ist. Aber jetzt geht es um dein Leben! Lass dich von deinem Schmerz nicht erdrücken. Wenn du die Verlobung mit ihm auflöst, wird er dich töten. Glaub mir! Denn du bist die einzige Überlebende, die das Blut des vorherigen Burgbesitzers in sich trägt. Verstehst du?“ Elene sah ihr durchdringend in die Augen. Dann schüttelte sie selbst den Kopf. „Er darf dich nicht am Leben lassen. Denn eines Tages könnte dein Sohn versuchen an ihm Rache zu nehmen, um sein gestohlenes Erbe wieder zurück zu erobern.“ Elene hoffte, dass sie sie jetzt verstand.
„Wenn ich das tun muss, dann will ich nicht mehr länger leben.“ Trotzig rutschte Stephania tiefer unter die Decke und drehte sich von ihrer Freundin weg. Zusammengekauert lag sie da und rührte sich nicht.
„Nein, das darfst du niemals sagen, hörst du?“, erhob Elene ihre Stimme.
Stephania spürte Elenes festen Griff an ihrem Oberarm, rührte sich aber trotzdem nicht.
„Stephania, auch wenn er dir alles genommen hat, so lass nicht zu, dass er dir auch noch das Leben nimmt. Auch wenn es durch deine Hand geschieht, geht er als Sieger hervor. Lass es bitte nicht zu.“ Elenes Stimme wurde leiser, klang flehentlich.
In Stephanias Auge glitzerte eine Träne. Sie dachte über jedes Wort ihrer Freundin nach. Dann setzte sie sich wieder auf und suchte Trost in Elenes Armen, legte ihre Wange an ihre Schulter und Elene reagierte, indem sie sie fester an sich zog.
„Weißt du“, begann sie zu erzählen, „als ich mich bei ihm einhakte, da verspürte ich so ein starkes Gefühl ...“ Sie suchte nach den richtigen Worten, um es ihr besser beschreiben zu können. „… der Ablehnung. Und Wut gegen ihn, dass meine Hand eine Faust formte.“ Balthasar hatte ihre verkrampfte Faust bemerkt, aber mit keinem Wort erwähnt.
Elene ließ ihre Freundin los und sah ihr durchdringend in die Augen. Stephanias saphirblauen Augen nahmen einen dunkleren Ton in dem langsam dunkel werdenden Zimmer ein.
„Stephania, wenn du überleben willst, musst du die Vergangenheit hinter dir lassen, egal wie frisch sie noch ist. Verzeih ihm.“
„Du weißt nicht, was du da sagst.“ Überrascht und gleichzeitig empört rutschte Stephania von ihrer Freundin weg. Sie sah sie mit großen Augen an und schüttelte heftig mit dem Kopf.
„Doch! Das weiß ich, ganz sicher“, schwang eine Schärfe in ihrer Stimme.
Stephania seufzte laut.
„Der Hass und die Wut wird dein Leben mit der Zeit kaputt machen, wenn du sie in dein Herz lässt.“
Stephania dachte einen kurzen Augenblick nach.
„Ist dein Mann auch ermordet worden?“, versuchte sie sein trauriges Schicksal zu erraten.
Elene drehte den Kopf zur Seite. Ihre Gesichtszüge trugen die Spuren einer tiefen Trauer. Es vergingen etliche Sekunden, bis sie sie es wagte, Stephania wieder anzusehen.
„Ja“, antwortete sie mit einer erstickten Stimme.
„Und hast du dem Mörder vergeben können?“, fragte sie ganz vorsichtig.
Doch Elene schüttelte gegen Stephanias Erwartung den Kopf.
„Nein.“
Stephania biss sich auf die Unterlippe. Elene senkte ihren Blick auf die Bettdecke.
„Manchmal denke ich, ich hätte ihm leichter vergeben können, wenn ich nicht gesehen hätte, wie er ihn getötet hat.“ In Elenes Stimme schwang ein leichtes Zittern. „Jeden Morgen, wenn ich neben ihm erwache, verspüre ich denselben Schmerz, den er mir damals zugefügt hat, indem er meinen geliebten Gatten töten ließ. Tagtäglich wünsche ich mir, an ihm Rache zu nehmen, aber …“, Elene hob ihren Blick und sah Stephania erneut an, „er ist der König. Ich kann doch nicht den König töten?!“ Sie lachte kurz auf. In ihrem Lachen schwang Hoffnungslosigkeit mit. Stephania machte ein fassungsloses Gesicht. Der König – ein Mörder?
„Warum hat der König das getan?“, fand sie bald ihre Sprache wieder.
„Eifersucht.“ Zwei Tränen hinterließen feuchte Spuren auf ihren Wangen.
„Möchtest du mir davon erzählen?“
Elene schloss ihre Augen und schüttelte den Kopf. „Nicht heute.“
Als sie ihre Augen nach einer Weile wieder öffnete sagte sie zu ihrer Freundin: „Es lässt sich sehr, sehr schwer an der Seite des Feindes leben, der dir das größte Übel zugefügt hat, wenn man ihm nicht vergeben kann. Du wirst aber vergeben müssen, denn du wirst bald die Gattin eines Burgherrn sein. Ich dagegen bin nur eine Mätresse. Wenn der König von mir genug hat, dann holt er sich eine andere. Bei dir ist es jedoch anders.“
Stephania sah ein, dass Elene recht hatte. Sie rutschte nach vorne und setzte sich neben ihr auf die Bettkante. Dann nahm sie Elenes Hand und hielt sie mit einem leichten Händedruck fest. Elene legte ihren Kopf auf die Schulter ihrer Freundin und spürte bald wie Stephanias Arm sich um ihre Taille legte. Diese einfache Geste spendete beiden Trost.
***
Die Nacht war kühl. Stephania warf sich einen Umhang über, der ihr bis zur Taille reichte und verließ auf leisen Sohlen ihre Schlafkammer. Im Flur flackerte das Fackellicht an der Wand, als sie an ihm vorbei ging. Leise schlich sie sich an den bewohnten Kammern vorbei. Hinter manchen Türen vernahm sie fröhliches Gelächter oder Stimmen, die miteinander sprachen. Am Ende des Flures öffnete sie eine Tür und trat hinaus in den Hof. Es war dunkel. Stephania raffte ihre Röcke und ging, um nicht gesehen zu werden, unter der Bedachung des Palas. Es war das Hauptgebäude der Burg mit Rittersaal, den Räumen vom Burgherren und der Küche. Als sie eine Treppe erreichte, sah sie kurz hinauf. Ein Wächter ging mit einer Fackel die Mauer entlang, ihr entgegen. Schnell machte sie einen Schritt zurück und versteckte sich unter der Bedachung. Sie wartete bis er vorüber gegangen war. Dann stieg sie leise und unerschrocken die schmale Treppe hinauf, bückte und drückte sich gegen die kalte Mauer. Sie musste unentdeckt bleiben. Als der Wächter sich weit genug entfernt hatte, ging sie in gebückter Haltung in die entgegengesetzte Richtung, wo sie den Graben vermutete. Schließlich stand sie auf und reckte sich vorsichtig über die Mauer. Sie versuchte trotz der Dunkelheit den Boden des Grabens zu erkennen. Hier unten sollten die Raubritter das große Loch ausgehoben und die Toten hineingeworfen haben, bevor sie es mit Erde wieder zugeschüttet hatten. Alle Toten, ohne Unterschied.
Stephania stützte sich mit beiden Armen auf, lehnte sich nach vorne und beugte ihren Oberkörper über den Abgrund. Doch sie konnte nichts in der Schwärze erkennen. Es war einfach viel zu dunkel, um überhaupt etwas erkennen zu können.
Stephania presste die Hand vor den Mund. Ein dumpfes Schluchzen ließ ihren Körper erzittern. Vater, mein lieber Vater …, klagte sie innerlich. Was haben sie bloß mit dir gemacht! Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich erneut über die Mauer. Sie fühlte ihre Kälte auf ihrem Bauch. Heiße Tränen flossen über ihre Wangen.
Eine dunkle Gestalt löste sich aus dem Schatten der Mauer. Stephania erschrak, als sie hinter sich Schritte hörte und drehte sich schnell zu der Gestalt herum.
„Wer ist da?“, fragte sie. Kaum hatte sie der Gestalt die Frage gestellt, da stand er schon vor ihr.
„Ich“, antwortete er nur.
Balthasar, erkannte sie ihn an seiner Stimme. Es war viel zu dunkel, um ihn zu erkennen, doch sie spürte seine Nähe und erbleichte aus Scham, von ihm ertappt worden zu sein.
„Was macht Ihr hier?“, fragte er diesmal streng. Sorge schwang in seiner Stimme mit.
Stephania verschränkte ihre Arme vor der Brust und antwortete mit einer Gegenfrage: „Wonach sieht es denn aus?“ Sie war wütend auf ihn.
„Selbstmord.“ Der Ton seiner Stimme blieb unverändert.
Sie wand das Gesicht von ihm ab und sah in den dunklen Horizont.
„Und hatte ich Recht?“
Er trat leise neben sie, ohne dass sie es merkte.
„Nein, das habt Ihr nicht.“
„Was habt Ihr dann hier gemacht?“ Erst jetzt fiel ihr auf, wie nahe er ihr gekommen war. Trotz ihrer Wut fürchtete sie sich vor ihm. Eine dicke Wolke verdeckte den Mond. Balthasar sah zu ihr herab, glaubte in ihr Gesicht zu sehen. Stephania holte aus der Tasche ihres Morgenmantels ein Gänseblümchen, das sie schnell auf dem Weg hierher aus einem Blumenkübel gepflückt hatte, und warf es rückwärts über die Mauer. Mit einem stummen und kurzen Gebet verabschiedete sie sich von ihrem Vater. Die Wolke zog weiter. Silberner Mondschein erhellte ein wenig ihr Gesicht. Balthasar sah glitzernde Tränen auf ihren Wangen. Stephania hielt ihre Augen geschlossen. Er hob seine rechte Hand und strich ihr mit dem Daumen eine Träne weg. Stephania erschauderte. Blitzartig öffnete sie ihre Augen und wollte seine Hand wegschlagen, doch in diesem Moment erinnerte sie sich an Elenes Worte und erstarrte zu einer Säule. Sie traute sich nicht zu rühren, aus Angst, in diesem Moment etwas Falsches zu tun. Balthasar spürte ihre Anspannung. Dann legte er seine starken Hände auf ihre zarten Schultern und sagte mit einer ruhigen Stimme: „Ich weiß, Ihr könnt mich im Moment nicht ausstehen. Vielleicht … wünscht Ihr mir sogar den Tod. Aber vergessen Sie eins nicht, bald werden wir ein Ehepaar sein. Es wäre für uns beide leichter, wenn wir miteinander Frieden schließen könnten. Hmmm?“
„Frieden“, erwiderte sie verächtlich. „Wie stellt Ihr Euch das vor? Ihr habt meinen Vater auf dem Gewissen.“
„Wir haben gegeneinander gekämpft. Es ist vollkommen normal, wenn einer dabei umkommt.“
Sie riss sich aus seinen Händen los und tat einen Schritt zur Seite. Der nächtliche Schatten legte sich über ihr Gesicht.
„Für Euch mag es ein Zweikampf gewesen sein. Für mich war er mein Vater.“
Balthasar konnte nicht sehen, wie ihr Kinn bebte. Aber er hörte das Beben aus ihrer Stimme heraus.
Er wusste nicht, was er ihr entgegnen sollte. Stephania kehrte ihm den Rücken zu.
„Der König hat entschieden, dass wir vermählt werden“, sagte er schließlich nach einigem Nachdenken. „Ich habe mir immer gewünscht aus Liebe zu heiraten.“
„Dann seid Ihr bei mir falsch!“, antwortete sie schroff mit verschränkten Armen vor der Brust.
Seine rechte Hand griff nach ihrem Oberarm.
„Gebt mir eine Chance Euch zu beweisen, dass ich kein Unmensch bin.“
„Da kommt Ihr zu spät.“ Wenn es doch nur um die Burg ginge, dann wäre ihr das leichter gefallen.
Sein Griff wurde fester.
„Weist mich nicht zurück!“ Sein Ton verschärfte sich.
„Wieso nicht?“, fragte sie auf dieselbe Art zurück, ohne vorher überlegt zu haben.
„Weil …“, begann er und brach wieder ab. Er hatte vorher noch nie mit jemandem über seine Gefühle gesprochen. Doch er musste es ihr sagen.
„Weil ich etwas für Euch empfinde.“
Stephania versuchte seine Hand von ihrem Arm zu streifen, doch er ließ es nicht zu. Stattdessen drehte er sie zu sich herum und zwang sie somit, ihm ins Gesicht zu sehen.
„Ich kann Euch niemals zur Liebe zwingen, aber Euch die nötige Zeit geben, mich lieben zu lernen.“ Seine Stimme war sanft und doch so scharf wie ein Schwert, dass ihr durch das Herz drang. Wie kann dieser Mensch auf der einen Seite so liebevoll und auf der anderen brutal sein?, fragte sie sich im nächsten Augenblick.
Der Mond schien ihm ins Gesicht. Aus seinen Augen strahlte ehrliche Liebe. Und bevor sie reagieren konnte, zog er sie in seine starken Arme. Stephania fühlte das kalte Metall seines Kettenhemdes an ihrer Wange, glaubte darunter sein Herz schlagen zu hören. Roch den leichten Geruch von Schweiß des harten Trainings. Alles um sie herum war still. Wie angewurzelt stand Stephania da. Ihre Abwehr versagte.
Balthasar hielt Stephania in seinen Armen. Er wünschte sich, sie würde seine Umarmung erwidern oder wenigstens den Blick heben und ihn anlächeln, doch es geschah nichts dergleichen. Stattdessen verspürte er einen leichten Stich in seinem Herzen.
Und in diesem Moment wurde Stephania klar, ob sie es nun wollte oder nicht, sie war sein.