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Auf Burg Rosenstein

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Eine Kutsche rollte über die feuchte Erde des Waldes von Rosenstein. Gräfin Stephania roch den feuchten Regen und hörte das laute Prasseln auf dem Kutschendach.

„Oh, wie ich dieses regnerische Wetter hasse“, jammerte ihre Zofe. „Wie lange wir noch fahren müssen ...“, in dieser engen Kutsche?, dachte sie den Satz zu Ende, weil sie sich nicht traute ihn laut vor ihrer Herrin auszusprechen.

„Wenn wir den Fuß des Berges erreichen, dann nicht mehr lange“, wusste die junge Gräfin ihre Zofe nicht anders zu vertrösten.

Die Zofe, eine ältere und jungfräuliche Baronin, sah für einen kurzen Moment entsetzt hinauf zur Decke und streckte anschließend ihre geschwollenen Beine aus, so gut sie es konnte, und klagte als sie mit der Hand über das eine Bein strich: „Ich halte die Schmerzen nicht mehr lange aus.“

„Sie müssen, Fräulein Netta. Denn ich kann sie hier im Wald nicht alleine lassen.“ Die junge Gräfin schüttelte den Kopf.

„Ach, mein Kind", seufzte die Zofe.

Gräfin Stephania ergriff die Hand der älteren Frau und strich mitfühlend mit dem Daumen über den Handrücken. Weil das junge Fräulein keine Mutter hatte, liebte sie diese Frau über alles.

„Ich bin viel zu alt für diese langen Reisen.“

„Ich weiß“, lächelte die Gräfin, „und trotzdem kommen Sie immer mit, obwohl Sie nicht müssen.“ Es war nicht als Vorwurf gemeint.

„Jemand muss doch auf Sie aufpassen.“

„Sie opfern sehr viel, wenn Sie mich begleiten, und dafür danke ich Ihnen wirklich sehr, aber … das müssen Sie nicht tun.“ Sie wollte noch weiter sprechen, doch die Zofe unterbrach.

„Ach“, winkte sie ab. „Ich habe Ihrer Mutter am Sterbebett geschworen auf Sie aufzupassen. Und deshalb lasse ich Sie nicht alleine reisen. Solange ich noch lebe, werde ich mein Versprechen halten.“ Dann entzog sie der Gräfin ihre Hand und strich mit beiden Händen über ihre geschwollenen Oberschenkel.

„Ich werde Ihnen immer und überall folgen, selbst wenn ich nicht mehr gehen kann und getragen werden muss.“

Die Gräfin unterdrückte ein Grinsen. Auch ins Ehebett?, fragte sie sich.

Die Kutsche holperte über den Waldweg. Und irgendwo von Ferne hörten die beiden Frauen ein Donnergrollen. Gräfin Stephanias Blick schoss erschrocken zum zugezogenen Fenster. Sie zog den nassen Vorhang zur Seite und spähte hinaus. Hohe Bäume und grüne Sträucher zogen an ihnen vorbei. Plötzlich geschah etwas, was sie gar nicht erwartet hatte. Ein vom Regen nasses Gesicht tauchte vor ihrem auf. Die Gräfin erschrak. Doch bevor sie ihren Kopf zurückziehen konnte, öffnete der Fremde schon die Tür und verschwand unauffällig in ihrer Kutsche. Im selben Moment holperte und rüttelte die Kutsche heftig. Der Fremde verlor sein Gleichgewicht und landete versehentlich auf Fräulein Nettas Schoß. Sie wollte empört aufschreien, doch er verschloss mit der Hand ihr noch rechtzeitig den Mund.

„Kein Ton und es wird Ihnen nichts geschehen.“ Sie spürte seine scharfe Klinge an ihrem Hals. Sie schloss ihre Augen und zwang sich zur Ruhe. Ihr Atem verlangsamte sich. Dann setzte sich der Fremde neben die erstarrte Gräfin.

„Was fällt Ihnen ein unerlaubt in eine fremde Kutsche zu steigen!“, wagte die Zofe ihn zu schimpfen, nachdem er seinen Dolch von ihrem Hals genommen hatte. „Haben Sie denn gar keine Manieren?“

Weil er ihr jetzt gegenüber saß war sie gezwungen ihre Beine wieder anzuziehen. „Ich bitte um Entschuldigung, die habe ich glatt vergessen“, grinste der Fremde die Zofe frech an. Seine Dolchspitze funkelte jetzt trotz des grauen Regenwetters an Gräfin Stephanias schlankem Hals. Sie spürte das kalte Metall auf ihrer Haut.

„Geld oder ihr Leben.“ Seine Zähne blitzten weiß, während er noch immer lächelte. „Ach Gottchen“, holte die Zofe tief Luft und presste die Hand gegen die Brust. „Das können Sie doch nicht tun. Haben Sie denn gar kein Gewissen?“

Der Fremde lachte, aber nicht so laut, damit ihn der Kutscher und die beiden Ritter nicht hören konnten, die zum Schutz der Gräfin einige Meter vorausritten. Gräfin Stephania gefiel sein Lachen. Es klang ... so tief und männlich, frei und unbeschwert. Ein Lachen, dass sie vorher noch nie bei einem Jüngling in der obersten Schicht gehört hatte.

Als er den Kopf zu der jungen Gräfin neigte, fing er für einen kurzen Augenblick ihren Blick auf. Diese Augen. Sie sind so … einzigartig. Wie … zwei tiefblaue Saphire. Ihre roten Lippen öffneten sich leicht, als ob sie ihm etwas sagen wollte.

„Nein, ein Gewissen habe ich in der Tat nicht. Aber ...“ Er machte eine gekünstelte Pause und kam mit seinem Gesicht dem der jungen Gräfin näher, „das Verlangen dich zu küssen.“

„Das wagen Sie nicht!“ Zornesröte färbte die Wangen der Zofe. Ihre Augen funkelten ihn böse an. Dann zog sie schnell den Vorhang zur Seite, streckte ihren Kopf aus dem Fenster und rief nach den beiden Rittern. Sofort hielt die Kutsche an. Die beiden Ritter wendeten ihre Pferde und eilten schnell zur Kutsche. Der Fremde drückte schnell und dennoch sanft seine Lippen auf die der jungen Gräfin und schnitt gleichzeitig die goldene Kette durch, die sie um ihren Hals hängen hatte, ohne dass sie es bemerkte. Gräfin Stephania schloss ihre Augen und vergaß alles um sich herum. Mit einem großen Entsetzen starrte die Zofe zu dem Fremden, der gerade einen Kuss von ihrer Herrin stahl. Leider konnte sie wegen ihrer starkgeschwollenen Beine gegen ihn nichts ausrichten.

„Das nächste Mal wiederholen wir das“, konnte der Fremde sein Grinsen nicht unterdrücken, als sich ihre Lippen wieder trennten, und zwinkerte der Gräfin verschwörerisch zu. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln.

Als die Ritter die Tür der Kutsche öffneten, war der Fremde durch die andere verschwunden. Geblieben war der jungen Gräfin nur die süße Erinnerung eines Kusses mit einem Fremden mit blondem, nackenlangem Haar. Gräfin Stephania lächelte, als sie mit den Fingern ihre noch feuchten Lippen berührte.

Die Zofe sah ihre Herrin mit einem besorgten Blick an, sagte aber nichts. Stattdessen wand sie sich an die beiden Ritter, um ihnen zu erklären, was vorgefallen war. Dieses Mal hatten sie wirklich großes Glück, dass der Fremde nicht mehr wollte. Aber das nächste Mal könnte viel schlimmer für sie beide enden. Mit einer Vergewaltigung oder Entführung, nichts konnte man ausschließen.

Die Kutsche nahm wieder ihre Reise auf. Und diesmal ritt nur ein Ritter voraus, der andere hinter der Kutsche her, bis sie am frühen Abend den von Bäumen und Sträuchern bewachsenen Berg erreichten.

***

Der graue Himmel wurde von Stunde zu Stunde immer dunkler und der voranreitende Ritter konnte bei Anbruch der Nacht die von Fackellichtern beleuchtete Burgmauer von weitem erkennen. Bald sind wir da, dachte er und freute sich auf ein warmes Bad. Die zweiwöchige und beschwerliche Reise hatten sie fast hinter sich. Und schon bald würde ihre Mühe belohnt werden. Plötzlich schoss jemand von der Mauer einen Pfeil ab und traf den Ritter mitten ins Herz. Der Ritter fühlte einen starken Schmerz in der Brust, aber bevor er verstehen konnte, was mit ihm geschehen war, fiel er langsam und leise vom Pferd. Das Pferd ging weiter, ohne auf seinen gefallenen Reiter zu achten. Erst der dritte Pfeil, der den anderen Ritter im Hals getroffen hatte, und dieser mit einem merkwürdigen Laut, das seiner Kehle entfuhr, vom Pferd fiel, bäumte sich das Pferd erschrocken und wiehernd auf. Sofort steckte Gräfin Stephania ihren Kopf aus dem Fenster und sah hinaus. Im Fackellicht ihrer Kutsche konnte sie erkennen, dass der Kutscher die Zügel verloren hatte und sein lebloser Körper langsam vom Kutschbock fiel. Das reiterlose Pferd kam vom Waldweg ab und verschwand erschrocken zwischen den Bäumen.

„Ist etwas geschehen?“, wollte die ältere Zofe von ihrer Herrin wissen, als Gräfin Stephania noch immer versuchte im Dunkeln zu erkennen, was geschehen war. Die junge Gräfin sah nach hinten, aber auch dieser Ritter war verschwunden, samt seinem Pferd. Sie war sich sicher, sie hörte noch ein verschrecktes Wiehern. Das Pferd musste also noch in der Nähe sein. Als sie ihren Kopf wieder einsteckte scheuten die Pferde und die Kutsche geriet in ein heftiges Schaukeln. Die Zofe hielt sich krampfhaft an der Sitzfläche und Wand fest. Viel zu schnell raste die Kutsche über den Waldweg auf die Burg zu.

„Wir müssen springen“, versuchte die Gräfin das laute Rattern der Kutsche zu übertönen.

„Springen …?“, wiederholte die Zofe überrascht.

Gräfin Stephania öffnete die Tür und stellte sich davor.

„Schnell!“, rief sie und sprang ohne etwas zu erklären aus der Kutsche. Sie landete auf der Erde mit grünem Moos bewachsen, zwischen zwei hohen Tannen. „Aber … Gräfin?“, rief die Zofe ängstlich und steckte den Kopf hinaus. Sie sah, wie die Gräfin auf dem Boden lag und dabei immer kleiner wurde, bis sie bald von der Dunkelheit verschluckt wurde. Dann richtete sie den Blick nach vorn. Die Kutsche raste auf die Burg zu. Es war ihr Reiseziel. Aber das Tor blieb verschlossen. Ich muss springen, sagte sie sich. Bäume, Sträucher, hin und wieder auch Felsgestein zogen an ihr vorbei. Fräulein Netta hatte Angst, doch ihr blieb nichts anderes übrig als zu springen. Sie sah aus der Kutsche und wartete auf den richtigen Moment. Plötzlich flog ein Pfeil zischend an ihrem Kopf vorbei und verfehlte sie nur um eine Haaresbreite. Erschrocken schoss ihr Blick in die Richtung, aus der er gekommen war. Der Burg. Sie musste springen, jetzt sofort! Denn es gab keine Zeit sich die Frage zu stellen, warum sie von der Burg beschossen wurde. Burg Rosenstein war doch seit über 30 Jahren ihr Zuhause. Und gleich hatte sie sie erreicht.

Deshalb schloss die ältere Frau ihre Augen und sprang. Starke Schmerzen schossen ihr durch die geschwollenen Beine, als sie auf der Erde aufkam und das brachte sie zu Fall. Eine herausragende, spitze Wurzel durchbohrte ihren Bauch. Die Zofe jammerte sehr vor Schmerzen, bis sie schließlich an ihrer schweren Verletzung starb.

***

Die junge Gräfin setzte sich auf und strich mit der schmutzigen Hand Haarsträhnen aus der Stirn. Dann stand sie auf und sah besorgt auf den Weg, der hinauf zu ihrer Burg führte. Hoffentlich ist sie gesprungen, dachte sie. Noch wusste sie nicht, was mit den beiden Rittern passiert war, nur dass sie auf einmal verschwunden waren, obwohl sie sie doch beschützen sollten. Aber da der Kutscher so plötzlich auf dem Kutschbock gestorben war, ahnte sie Schlimmes. Gräfin Stephania raffte ihre Röcke und tauchte in das Dickicht der Bäume. Sie ging weiter den Berg hinauf, blieb ganz in der Nähe des Waldweges. Bald hörte sie Stimmen. Irgendwelche kamen mit leuchtenden Fackeln aus der Burg. Schnell versteckte sie sich hinter einen Baum und beobachtete die Männer, die sich über etwas beugten. Einer von ihnen drehte es um und leuchtete mit der Fackel darauf.

„Sie ist tot.“

Fräulein Netta, zitterte Gräfin Stephanias Kinn. Das kann nur sie sein.

„Hat jemand eine Ahnung, wer das sein kann?“, fragte dieser Mann seine zwei Begleiter.

„Nein“, antwortete einer und der andere schüttelte den Kopf. „Aber nach ihrer Kleidung zu urteilen, eine Hochgeborene“, fügte er nach einer kurzen Überlegung hinzu.

Der dritte Mann, der bis jetzt nur geschwiegen hatte, durchsuchte die Tote nach Wertgegenständen und wurde schnell fündig. Er nahm ihr die kostbare Halskette und Ohrringe ab.

Dann drehten sie sich um und gingen, überließen den Leichnam den Tieren. In Gräfin Stephanias Augen glitzerten Tränen. Sie wusste nicht, wer diese Männer waren, aber sie kamen aus der Burg. Der Burg ihres Vaters, Burg Rosenstein.

„Aber wenn sie in guter Absicht auf der Burg verweilen, wieso haben sie Fräulein Netta dann nicht mitgenommen?“, ein unhörbares Flüstern kam über ihre Lippen. Das verwirrte sie.

Gräfin Stephania wartete, bis die leuchtenden Fackeln der drei Männer durch das Burgtor verschwanden. Dann kam sie aus ihrem Versteck heraus und schlich sich in geduckter Haltung zu der Toten. Nahm ihre Hand und legte sich diese auf ihre tränenbenetzte Wange. Der Abschied fiel ihr sehr schwer, denn sie war für sie alles. Die große Schwester, liebste Freundin und Mutterersatz. Gräfin Stephania schluchzte.

***

Die junge Gräfin tauchte in den stockdunklen Wald ein. Diese Nacht würde sie draußen verbringen, auch wenn es für eine Frau nicht ungefährlich war. Und morgen …? Sie tastete sich an den Bäumen entlang. Stolperte über eine Wurzel und fiel auf die Knie. Das Kleid wurde dreckig und bekam einen Riss. Doch sie stand wieder auf und ging weiter, bis sie glaubte, genug von dem Waldweg entfernt zu sein. Dann setzte sie sich unter einen Baum, zog die Beine an und legte ihre mit Dreck verschmierte Wange auf die Knie. So saß sie lange da und wünschte sich, alles wäre nur ein böser Traum. Sie bräuchte dafür ihre Augen nur einmal zu schließen und wieder zu öffnen.

***

Ein Marienkäfer krabbelte über ihre Nase und kitzelte sie. Gräfin Stephania musste nießen. Sie strich mit der Hand den kleinen Störenfried aus ihrem Gesicht und blinzelte mit verschlafenen Augen gegen die ersten Sonnenstrahlen, die durch die Baumkrone brachen. Es war bereits früher Morgen. Gräfin Stephania wischte sich den Schlaf aus den Augen. Dann stand sie auf und klopfte das von Tau feuchte Kleid ab. Ihr Magen knurrte. Zu Hause müsste sie nur in die Halle gehen und das Frühstück stünde für sie bereit, aber hier im Wald...? Hilflos sah sie in alle Richtungen, bis sie auf einen Busch mit roten Beeren aufmerksam wurde. Bei näherem Hinkommen erkannte sie, dass es wilde Himbeeren waren. Doch wie viele sie auch von ihnen aß, satt wurde sie davon nicht. Nachdem sie von ihnen genug hatte, raffte sie ihre Röcke und suchte die Höhle, die ihr Vater gezeigt hatte, als sie noch ein kleines Kind war. Gräfin Stephania näherte sich dem Waldweg und folgte ihm parallel, versteckt im Dickicht der Bäume. Sie ging die Strecke zurück den Berg hinunter, in die Richtung, aus der sie gestern gekommen war, bis sie einen großen Stein fand. Sie überquerte den Waldweg und tauchte in die andere Seite des Waldes ein. Jetzt musste sie nur noch geradeaus gehen. Auf dem Weg pflückte sie Beeren, die sie aus der Burgküche kannte und fragte sich irgendwann, ob sie sich nicht verirrt hatte. Denn sie ging wirklich schon so lange, aber die Höhle war noch immer nicht zu sehen. Sie warf den Blick zurück.

„Soll ich wieder zurück gehen?“ Sie entschied sich weiter zu gehen. Ging noch einige Meter, bis sie in einiger Entfernung etwas Felsiges auf der Erde erkannte und rannte erleichtert darauf zu. Es war tatsächlich die Höhle, nach der sie gesucht hatte. Aber jetzt, nachdem sie schon eine junge, erwachsene Frau war, kam sie ihr so viel kleiner vor. Gerade einmal einen Meter zehn hoch. Gräfin Stephania duckte sich und ging vorsichtig hinein. In der Höhle war es dunkel und kalt. Spinnennetze streiften über ihr Gesicht.

„Igiiit“, jammerte sie. Sie versuchte sie wegzuwischen, aber ein Großteil klebte noch immer auf ihrem Haar. Mutig ging sie weiter. Bis sich eine Ratte unter ihren Röcken verfing und piepsend nach dem Ausweg suchte. Gräfin Stephania hob ihre Röcke und schrie panisch. Sofort ergriff das zu Tode erschreckte Tier die Flucht. Zu spät kam ihr die Warnung ihres Vaters ins Gedächtnis, dass sie sich hier still und heimlich verhalten soll, wenn sie sich hier aufhielt. Denn kein anderer darf von dieser Höhle erfahren. Die Höhle war ihr und das ihres Vaters Geheimnis. Gräfin Stephania schlug mit beiden Händen vor den Mund und lauschte ängstlich. Hatte sie jetzt ihr Geheimnis an die Außenwelt verraten? Doch zu ihrer Erleichterung hörte sie nichts und atmete auf. Glück gehabt. Gräfin Stephania legte eine Hand auf das kalte Gestein und folgte dem dunklen, schmalen Durchgang. Er war sechs Kilometer lang, hatte mehrere Gänge, die ins Ungewisse führten. Nur einer von ihnen war der, durch den man in das Innere der Burg gelang. Der Boden war feucht und an einigen Stellen gab es Pfützen. Weil die Gräfin im Dunkeln nichts sah, ging sie über alles. Auch Tierkot. Nach einer halben Stunde erreichte sie die erste Abzweigung. Sie ging an ihr vorbei und weiter geradeaus. Kurz darauf kam schon die nächste. Sie bog ab und ging weiter. Danach kamen noch weitere fünf, doch sie ging an ihnen vorbei. Sie bog in die sechste ein und ging solange weiter, bis sie ein Eisengitter erreichte. Sie zog an ihm und die Gittertür ging mit einem leisen Quietschen auf.

***

Gräfin Stephania tastete mit der Hand die Steinwand weiter ab, bis sie endete und unter ihren Fingern glattes Holz spürte. Den Rücken eines Regals für Buchrollen. Sie lauschte zuerst. Stille. Dann schob sie ihre Finger in den Spalt, aus dem Licht kam, und die andere Hand in den Spalt auf der anderen Seite. Während sie das Regal mit beiden Händen festhielt, drückte sie unten mit dem Fuß dagegen. Das Regal kam in Bewegung und kratzte laut auf dem Boden. Sie schob es so weit nach vorn, bis sie in die Schreibstube ihres Vaters schlüpfen konnte. Endlich, lächelte sie erleichtert. Den Weg in die Burg hatte sie schon mal geschafft. Aber als sie sich ein wenig in der Schreibstube umsah, fiel ihr auf, dass ein Weinkrug auf dem Schreibtisch ihres Vaters stand und ein silberner Kelch quer daneben lag. Gräfin Stephania näherte sich dem Tisch, strich mit dem Finger über die winzige, rote Pfütze im inneren Rand des Kelches und schmeckte.

„Burgunder.“ So wie sie es vermutet hatte. Es war der beste Wein, den ihr Vater besaß, aber niemals trank, weil er einen empfindlichen Magen hatte.

Dann öffnete sie den Deckel des Weinkruges und stellte fest, dass er leer war. Was hat das zu bedeuten? Warum steht auf seinem Schreibtisch ein Weinkrug, wenn er ihn doch nie trinkt? Für die Gräfin war das ein Rätsel.

Schnell schob sie das Regal an seinen alten Platz, damit niemand den Geheimgang zu Gesicht bekam und eilte zur Tür. Sie machte die Tür einen Spalt auf und späte in den Flur. Ein unbekannter Mann sprach mit einem anderen, den sie ebenfalls nicht kannte. Gräfin Stephania lauschte. Doch zu ihrer Enttäuschung endete das Gespräch viel schneller als erwartet und die beiden Männer trennten sich. Viel hatte sie nicht erfahren können, nur einige Namen, mit denen sie nichts anfangen konnte. An ihrer Kleidung vermutete sie, dass sie Ritter waren. Auf leisen Sohlen überquerte sie den Flur, stellte sich neben das Fenster und sah durch die Glasscheibe hinunter in den Burghof. Der Anblick erschreckte sie. Unzählige Tote lagen verstreut auf dem Hofpflaster. Die meisten von ihnen waren Burgwachen, auch einige Ritter, die im Dienst ihres Vaters standen. Gräfin Stephania hielt eine Hand vor den Mund. Ein Schrei wollte ihr aus der Kehle brechen. Doch sie wagte es nicht, um ihre Anwesenheit nicht zu verraten. Aus dem Fenster konnte sie Männer erkennen, die an Galgen hingen. Zwei Berater ihres Vaters und ein Mönch, der geistliche Freund des Grafen. Sie sollten für die überlebende Dienerschaft zur Abschreckung dienen. Wo ist Vater? Sie konnte ihn unter den Toten nirgendwo sehen. Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen. Noch hatte sie eine Hoffnung, aber würde sie ihn finden?

Gräfin Stephania eilte mit schnellen Schritten über den Flur. Sie wollte unbedingt ihren Vater finden. Sehen, ob es ihm gut ging, und erfahren, was in ihrer Abwesenheit auf Burg Rosenstein passiert war.

Dem Feind versprochen

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