Читать книгу Dem Feind versprochen - Natalie Bechthold - Страница 8
Eine zweite Chance auf Freiheit
ОглавлениеLucas erwachte lange nach Mitternacht. Ein Albtraum hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. In seinem Traum brannte ein Feuer. Schreie drangen an sein Ohr. Nur eine Person unter den Schreienden erkannte er. Es war Balthasar. Ob der Traum etwas zu bedeuten hatte? Lucas wollte es nicht wissen. Er glaubte nicht an Träume. Um auf andere Gedanken zu kommen, stieg er leise aus seinem Bett, warf sich das Hemd über, schlüpfte in die Stiefel und verließ die Schlafkammer. Saphira schlief seelenruhig weiter, ohne von seinem Verschwinden gemerkt zu haben.
Auf der Burgmauer stehend, mit dem Ausblick auf den Wald, der unter dem Schatten der Nacht lag, sah Lucas in den Horizont. Alles war so still, so ruhig und friedlich.
„Na, kannst du auch nicht schlafen?“, fragte plötzlich jemand.
Lucas zuckte kurz zusammen. Er drehte den Kopf herum, in die Richtung, aus der die Stimme kam.
„Hast du mich erschreckt.“
Es war Balthasar. Er kam zu ihm. „Ich liebe Spaziergänge bei Nacht.“
„Ich weiß“, lachte Lucas. „Aber das darf nicht zur Gewohnheit werden. Was soll deine zukünftige Gemahlin von dir denken, wenn du nächtliche Ausflüge in deiner Burg machst?“
Lachend klopfte Balthasar Lucas auf die Schulter. „Noch habe ich keine.“
„Du solltest aber bald eine haben.“ Lucas wurde ernst. „Du brauchst einen Erben, jetzt wo du eine Burg hast.“
„Ich weiß, aber ich bevorzuge aus Liebe zu heiraten.“
„Liebe“, sprach Lucas nachdenklich das Wort aus. „Es hat eine tiefe Bedeutung.“
„Nur so kann ich glücklich werden, wie mein Vater einst.“
Lucas sah hinauf zu den Sternen. Balthasar war es möglich, sich seinen eigenen Wunsch zu erfüllen, weil ihm niemand vorschreiben konnte, wen er zu heiraten hatte. Und Lucas beneidete ihn darum.
„Was willst du jetzt tun?“, fragte Lucas seinen Vetter nach einer Weile des Schweigens.
Balthasar stützte sich mit beiden Händen an der Mauer ab und sah nachdenklich ins Leere. Er spürte die Kälte der Steine unter seinen Handflächen.
„Zuerst soll die Burg einen anderen Namen bekommen.“
Neugierig sah Lucas auf.
„Denkst du an etwas Bestimmtes?“
„Ein Name, der an meine Familie erinnern soll.“ Balthasar lächelte stolz.
Als der Sohn eines verarmten Ritters träumte er, seinen Namen groß zu machen.
Lucas erwiderte sein Lächeln.
„Das gönne ich dir vom Herzen.“ Er klopfte ihm auf die Schulter und fügte hinzu: „Mein Vater wird stolz auf dich sein, wenn ich ihm von deinem Triumph erzähle, da bin ich mir sicher.“
Balthasar tätschelte Lucas Hand.
„Ich bin froh, ihn als meinen Onkel zu haben. Er hat mir so viel geholfen.“
Lucas nickte.
In der Tat. Balthasars Vater, Josef Wolfhard, war der Bruder von Lucas´ Mutter. Er war ein Ritter, stand mehrere Jahre im Dienste eines Herzogs und nahm oft an Reitturnieren teil. Weil er des Öfteren siegte, bewunderten und liebten ihn die Edelfrauen. Aber weil der Lohn für seine Dienste gering war, konnte er kein Heim für ein Edelfräulein schaffen, mit dem Luxus, den sie gewohnt war. Es verging Jahr um Jahr, bis er erkannte, dass er in seinem Leben nie mehr als Bewunderung erreichen würde. Deshalb ging er aufs Land und wurde Bauer, heiratete kurz darauf eine junge Bauerntochter und bekam mit ihr einen Sohn. Balthasar. Schon als kleiner Junge war er klug. Er bewunderte seinen Vater, der noch immer den Titel eines Ritters trug und im Dienste des Herzogs stand, obwohl er das Leben eines Bauern lebte. Und wollte eines Tages wie auch er Ritter werden.
Auf die Bitte ihres Bruders nahm die Fürstin den siebenjährigen Balthasar in ihrer Burg auf. Dort diente er mehrere Jahre als Knappe und wurde mit 21 Jahren zum Ritter ernannt.
Er blieb noch einige Jahre im Hof seiner Tante und stand im Dienste ihres Ehegatten, der ihn wie seinen Sohn liebte. Aber weil er bereits einen Erben hatte, konnte er ihm nichts nach seinem Tod hinterlassen. So entschied Balthasar die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Er lernte in Not geratene Ritter kennen und solche, die wütend auf die Politik waren. Mit ihnen schloss er sich zusammen und überfiel eines Abends die Burg von Matthias Graf von Rosenstein. Nun gehörte sie ihm. Die Vorstellung brachte Balthasar zum Lächeln.
„Balthasar?“, unterbrach Lucas das Schweigen.
„Ja?“
„Wenn du meine Hilfe nicht mehr brauchst, dann würde ich gerne morgen abreisen.“
„Nach Hause?“
Lucas nickte zur Antwort.
Balthasar sah nachdenklich zum Horizont. Die Nacht war finster. Über ihnen schien der Mond. So hell, dass er viel größer erschien, als in den Nächten davor. Dann nickte er einverstanden.
„In Ordnung. Grüße deinen Vater von mir.“
„Das werde ich machen.“
Als Lucas sich umdrehte, um in das Innere der Burg zurückzugehen, hörte er Balthasar noch sagen: „Du und dein Vater, ihr seid auf meiner Burg immer herzlich willkommen.“
Dankend lächelte Lucas und ließ seinen Vetter anschließend allein. Balthasar stand noch eine Weile auf der Burgmauer und dachte nach. Es ist ein herrliches Gefühl solchen Reichtum zu besitzen. Die Burg und die umliegenden Dörfer. Jetzt fehlt mir nur noch ein erhobener Titel. Aber den konnte ihm nur der König verleihen. Er warf einen kurzen Blick auf den Wächter, der unweit auf der Mauer hin und her ging und entschied sich, wieder hinein zu gehen.
***
Als Saphira am Morgen die Augen aufschlug, brauchte sie einen Augenblick, um sich daran zu erinnern, was in der letzten Nacht geschehen war. Ich habe mit einem Ritter im gleichen Bett geschlafen. Erschrocken setzte sie sich auf. Sie sah zu seiner Bettseite, sie war leer. Mit einer Hand fuhr zu ihrer Brust und ertastete die Holzknöpfe ihres Kleides. Mit einem kurzen Blick darauf vergewisserte sie sich, dass der Ausschnitt geschlossen war. Und er war es. Er hat mich nicht angerührt. Sie fühlte mit der Hand über den weißen Stoff, das Lacken auf seiner Seite war noch warm. Dann stieg sie mit gefesselten Händen aus dem Bett und trat vor das Fenster. Die Sonne schien hell. Die Vögel zwitscherten. Leichter Sommerwind wehte durch den Wald. Saphira öffnete das Fenster und atmete die frische Luft ein. Sie ließ ihren Blick über den Wald wandern. Es ist ein seltsames Gefühl auf das zu sehen, was einem nicht mehr gehört.
Das Waldleben um die Burg herum hatte sich nicht verändert, aber das Leben in der Burg komplett.
Während sie in Gedanken versunken hinaussah, erblickte sie plötzlich einige Reiter, die auf die Burg zuritten. Im schnellen Galopp eilten sie zum Tor und verschwanden im Innern der Burg. Die Reiter hatten keine Fahne bei sich mit einem Wappen, deren Herkunft sie zuordnen konnte, deshalb vermutete sie, dass es die Raubritter waren, die ihre Burg eingenommen hatten. Aber weshalb reiten sie so schnell, als ob sie vor irgendetwas flüchten?, fragte sie sich. Das machte sie so neugierig, sodass sie die Tür der Schlafkammer einen Spalt öffnete. Stimmen drangen aus dem Hof nach oben durch das offene Fenster in den Flur. Doch sie konnte ihre Worte nicht verstehen. Der Flur war menschenleer. Deshalb schlich sie sich aus der Schlafkammer, stellte sich neben das offene Fenster und lauschte konzentriert.
„Wir haben auf der Rückkehr den König und seine Gefolgschaft gesehen. Sie kommen hierher“, erzählte ein Reiter, während er seine Zügel einem Stallburschen übergab.
„Der König?“, fragte der Burgherr überrascht. „Wann wird er hier sein?“
„Gegen Mittag, schätze ich. Er möchte hier ein paar Tage verbringen.“
Auf Ritter Balthasars Gesicht zeichnete sich Besorgnis ab.
Der König kommt auf einen Besuch, dachte Saphira. Er hatte sie und ihren Vater schon einmal besucht, aber da war sie gerade Mal 10 Jahre alt. Er hatte sie gemocht, wie seine eigene Tochter. Er erzählte ihr viele Geschichten, meistens Märchen, lobte ihre Stickereien und hörte begeistert zu, wenn sie ihm etwas vorsang. Sie hatte eine schöne und liebliche Stimme. Vielleicht erinnert er sich noch an mich und wird mir eine Bitte gewähren. Ihr war bewusst, dass die Reise zu ihrem Onkel gefährlich war. Alleine würde sie es höchstwahrscheinlich niemals zu ihm schaffen und dem fremden Ritter vertraute sie nicht. Sie konnte nur hoffen, dass der König bereit war, sie unter seinen Schutz zu stellen. Und was ist, wenn er es nicht tut? Diesen Gedanken schüttelte sie aber schnell ab. Diese Chance darf ich mir nicht entgehen lassen. Mit leisen Schritten eilte sie den Flur entlang und erreichte bald ihre eigene Schlafkammer. Sie lauschte kurz an der Tür, öffnete sie und schlüpfte unbemerkt hinein. Die Schlafkammer war unverändert geblieben, ein Zeichen dafür, dass sie niemand bewohnte. Die Gräfin setzte sich auf ihr Himmelbett und versuchte sich mühevoll von ihren Handfesseln zu befreien.
Als Ritter Lucas seine Schlafkammer wieder betrat, war Saphira verschwunden. Enttäuscht, dass sie ihm nicht vertraute, warf er den Beutel mit Proviant auf das Bett und sah besorgt aus dem Fenster. Doch außer Baumkronen konnte er nichts auffälliges sehen.
„Saphira“, flüsterte er den Namen, den er ihr gegeben hatte, in die Morgenstille.
„Ich weiß nicht einmal deinen richtigen Namen.“ Ihn überkam Reue, nicht darauf bestanden zu haben, dass sie ihm ihren Namen verriet. Er umschloss mit der rechten Hand ihre Kette, die er an seinem Hals trug und schwor sich, Saphira zu finden. Er war sich sicher, dass sie durch den Geheimgang geflohen war. Wenn er ihr jetzt auf demselben Wege folgen würde, dann würden die anderen Ritter von seiner Existenz erfahren und das würde für seinen Vetter zu einer Gefahr werden. Und wo sich sein Ausgang befand, wusste Lucas nicht. Oh, Saphira. Wieso vertraust du mir nicht? Er nahm wieder seinen Beutel und verließ mit gemischten Gefühlen die Kammer. Er musste sie finden, noch bevor es jemand anders tat.
Der junge Ritter überquerte den Hof und ging zum Stall. Er ging an zwei Mägde vorbei und hörte, wie die eine zu der anderen sagte: „Ich habe Gräfin Stephania in ihrer Schlafkammer verschwinden sehen.“
Ritter Lucas verlangsamte seine Schritte.
„Das ist nicht wahr“, konnte die andere nicht glauben.
„Doch, du kannst mir glauben. Ich habe sie wirklich gesehen. Nur trug sie dieselbe Kleidung wie wir.“ Sie zeigte mit der freien Hand auf ihr graues Kleid aus grober Wolle.
„Du musst dich geirrt haben. Unsere Gräfin würde niemals …“ Die Magd verstummte, als sie merkte, wie ein Ritter plötzlich stehengeblieben war und sich zu ihr herumdrehte. Er sah die beiden mit einer undurchschaubaren Miene an.
Sollte er sie fragen, wo sich die Schlafkammer der Gräfin befand? Nein, besser nicht, entschied er sich.
„Euer Hochgeboren“, knicksten die beiden Mägde.
„Habt ihr nichts Besseres zutun als zu Tratschen?“ In seiner Stimme schwang ein strenger Unterton.
„Verzeihen Sie uns“, entschuldigten sie sich mit gesenkten Köpfen und gingen mit schnellen Schritten weiter. Sie trugen Wassereimer in die Küche.
Dann hob der Ritter seinen Blick und ließ ihn über die Fenster wandern. Saphira ist also noch da. Hinter irgendeinem der Fenster muss sich ihre Schlafkammer befinden.
Als er sich wieder umdrehte, blitzte in seinem Gesicht ein Lächeln auf. Jetzt kenne ich auch deinen Namen. Und sein Lächeln verschwand sofort wieder. Er ging in den Stall und sah nach seinem Pferd.
***
Es vergingen viele Stunden und der Magen der Gräfin zog sich vor Hunger schmerzhaft zusammen. Sie lag auf ihrem Bett und hielt sich den Bauch. Sie könnte sich in die Küche schleichen und etwas Essbares entwenden, aber das Risiko entdeckt und womöglich dem neuen Burgherren ausgeliefert zu werden war viel zu groß. Jeden Augenblick müsste der König erscheinen. Wo bleibt er bloß? Er hätte doch schon längst hier sein müssen.
***
Als sich die Geräusche im Flur veränderten, lauter und hecktischer wurden, ahnte sie, dass der hohe Besuch eingetroffen war. Vor Aufregung vergaß sie schnell ihren Hunger und setzte sich auf. Ihre Hand fuhr prüfend über die Frisur. Sie ertastete gelöste Strähnen, die über Brust und Schulter hingen. Die Frisur war zerstört. Schnell öffnete sie ihr Haar, legte den Kopf in den Nacken und schüttelte ihn, sodass das lange, schwarze Haar über ihre Schultern fiel. Sie suchte sich im Schrank ein schönes Kleid aus und zog es an. Ohne die Hilfe einer Zofe brauchte sie länger dafür. Dann setzte sie sich an den Frisiertisch und bürstete ihr Haar. Sie nahm die obere Hälfte zusammen, flocht einen Zopf und knotete es auf dem Hinterkopf zusammen. Steckte mehrere weiße Perlen in den Knoten und bürstete die untere Hälfte ihres Haars, bis es weich wurde und im Tageslicht leicht glänzte. Sie prüfte ihre Frisur im Handspiegel. Dann verzog sie ihre Lippen zu einem Lächeln und betrachtete sich darin. Drehte das Gesicht prüfend von der einen Seite zur anderen. Gut, stellte sie zufrieden fest.
***
Es war früher Abend. Der Himmel färbte sich leicht orange, als der König und seine Gefolgschaft in die Burg kamen. Der König wurde von Ritter Balthasar mit einem Kelch Wein herzlich empfangen.
Später saßen die beiden in der Speisehalle an der Kopfseite einer langen Tafel. Die Ritter der Burg und Adelige aus der Gefolgschaft seiner Majestät leisteten ihnen Gesellschaft. Während die Diener den Herrschaften die Kelche mit Wein füllten servierten Küchengehilfinnen die warme Mahlzeit, die für den Mittag zubereitet worden war. Ein appetitlicher Duft stand in der Luft.
Gräfin Stephania kam leise in die Küche. Sie sah, wie sehr beschäftigt die Köchinnen waren und die Küchengehilfinnen hin und her liefen, sodass sie ihr Erscheinen zuerst gar nicht bemerkten. Da sie großen Hunger hatte stibitzte sie ein süßes Gebäck aus der Schale, das als Nachspeise gedacht war, und verließ schnell wieder die Küche, bevor noch jemand auf sie aufmerksam wurde. Sie eilte um die Ecke und wartete dort auf den richtigen Augenblick, um vor den König zu träten.
***
Nachdem das Abendessen serviert war stand der Burgherr mit einem goldenen Kelch in der Hand auf und sagte an den König gewandt, wie geehrt er sich fühle, einen so hohen Gast bei sich in der Burg empfangen zu dürfen. Dann sah er zu den anderen Gästen, der Gefolgschaft seiner Majestät, und sagte: „Ihr seid alle herzlich Willkommen auf Burg Wolffsburg. Ich wünsche Euch eine schöne Zeit hier.“ Ritter Balthasar hob lächelnd seinen vollen Kelch und prostete ihnen allen zu. Die anderen taten dasselbe. Aber im Innersten wünschte er sich, der König wäre nie gekommen, denn seine Verpflegung und die seiner Gefolgschaft waren sehr kostspielig.
Während dem Essen plauderten die Gäste fröhlich miteinander und Ritter Balthasar vertiefte sich mit dem König in ein Gespräch. Dann als die Nachspeise serviert wurde, erklang eine liebliche Stimme, begleitet von einer zarten Melodie. Neugierige Blicke wanderten zu der Ecke, aus der die schöne Stimme kam. Eine junge Frau im leuchtend gelben Kleid saß auf einem Hocker und sang ein Lied. Ihren Kopf hielt sie leicht gesenkt, als ob sie auf die Seiten ihrer Laute sehe, auf der sie spielte. Sofort verstummten die Gespräche und Gräfin Stephania hatte die Aufmerksamkeit aller Burgbewohner und der Gäste.
„Wer ist sie?“, fragte der König flüsternd nach einer Weile.
„Ich weiß es nicht“, antwortete der Burgherr. Diese schwarzen Haare habe ich aber schon einmal gesehen. Nur konnte er sich nicht mehr an die Person erinnern, die sie hatte.
„Sie singt mit so einem Gefühl …, als ob sie selbst spürt, was sie da singt“, sagte eine Frau mit feuerroten Locken, die neben dem König saß. Der nickte. Sie bewunderte ihre Stimme. Er konnte den Blick von der Sängerin nicht abwenden.
Ritter Lucas saß angespannt neben seinem Vetter. Was hat sie vor?, fragte er sich besorgt. Er schielte zum König, dann zu seinem Vetter. Beide schienen von Stephania begeistert zu sein.
Aber wird die Begeisterung auch bleiben, wenn sie erfahren, wer sie ist?
Stephania sang ein Lied über sich selbst, was keiner ahnte. Sie erzählte in singender Form von dem traurigen Schicksal, dass sie in den letzten Tagen erlebt hatte und dass der Mörder noch immer nach ihrem Leben trachtete.
Dem König entglitt eine Träne. Schnell wischte er sie weg, bevor sie jemand sehen konnte. Es waren nicht die Worte, die ihn zu Tränen rührten, sondern der Gesang. Er hatte etwas Schönes und Verletzliches. Er ergriff, ohne dass er es wollte, sein Herz. Die schöne Frau an seiner Seite mit den feuerroten Haaren griff zu ihrem Taschentuch.
Die traurige Melodie wurde leiser, bis sie schließlich verklang. Die Gäste waren zu tiefst gerührt. Stephania spürte ihre Blicke, auch den des Königs. Die Stille wurde für sie so unheimlich, dass sie sich nicht traute den Kopf zu heben und den Blick des Königs zu erwidern. Sie berührte mit dem rechten Daumen eine Seite ihrer Laute und überlegte, ob sie noch eine Melodie spielen sollte. Nein, das reicht. Jetzt musst du vor den König treten. Denn sonst bist du hier nicht mehr sicher, sollte dich einer an den Burgherrn verraten, kam ihr der Gedanke. Sie sprach sich Mut zu und stand schließlich auf. Mit erhobenem Kopf ging sie mit der Laute in der Hand zur Kopfseite der Tafel und fiel vor dem König auf die Knie. Erst jetzt merkte sie, dass es nicht der König war, den sie in Erinnerung hatte, der sie und ihren Vater einst besucht hatte. Der König vor ihr war mindestens 30 Jahre jünger als der von damals. Hätte ich das doch vorher bemerkt, bevor ich die Speisehalle betrat, bereute sie das Risiko auf sich genommen zu haben. Ihr Herz schlug schneller. Sie war aufgeregt. Mit einem breiten Lächeln sah der König auf sie herab.
Er war jung, hatte dennoch einen starken, wenn auch manchmal naiven Willen.
„Du kannst wieder aufstehen.“
Stephania gehorchte.
Neugierig verfolgten alle das Schauspiel.
„Du hast eine schöne Stimme“, lobte er, was er sonst sehr selten tat.
„Danke, Eure Majestät“, bedankte sie sich mit einem leichten Knicks.
„Sag mir, über wen hast du gesungen?“
Stephania schwieg zunächst. Erwiderte vorsichtig seinen Blick und antwortete: „Über mich.“
Er hörte nicht auf zu lächeln. Sah zu Ritter Balthasar, dann wieder zu ihr.
„Er hat die Burg Eures Vaters eingenommen?“
„So ist es, Eure Majestät.“
Er schielte zum neuen Burgherrn. Ritter Balthasars Miene verhärtete sich.
„Ihr habt mir nicht alles erzählt, Ritter Wolfhard“, warf der König ihm grinsend vor.
„Verzeiht mir, Eure Majestät, aber ich habe es nicht für notwendig erachtet, Euch davon zu erzählen.“ Ihr habt auch nicht gefragt, warum diese Burg einen neuen Namen trägt.
„Nun meine Liebe, was denkt Ihr? Welche Strafe muss Ritter Wolfhard dafür bekommen?“
Der Ritter schluckte. Drei Falten zogen sich über Lucas Stirn. Stephania überlegte nicht lange, weil sie Angst hatte, die Chance für immer zu verpassen.
„Er und seine Männer sollen sofort die Burg verlassen!“, sagte sie mit einer festen Stimme.
Der König brach in Lachen aus. Die Ritter und Gäste stimmten mit ein. Nur Lucas, Balthasar und die junge Frau mit den feuerroten Haaren blieben ernst. Die Frau bewunderte Stephania für ihren Mut und hatte Mitleid mit ihr.
„Nein, diesen Wunsch erfülle ich Euch nur dann, wenn Ihr mit Eurer außergewöhnlichen Stimme Steine zum Weinen bringt“, antwortete der König, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.
Stephanias Augen glänzten. Wenn sie nicht vor dem König stünde, so hätte sie jetzt am liebsten geweint.
„Ich habe eine bessere Idee.“
Stephania hob ihren Kopf.
„Ihr wollt die Burg behalten? Von mir aus gern.“ Der König stand mit einem vollen Kelch in der Hand auf. „Aber an der Seite dieses Mannes.“ Er zeigte mit dem Kelch auf Ritter Balthasar.
Stephania verschlug es die Sprache. In Lucas Gesicht zeichnete sich Entsetzten. Die junge Frau mit dem feuerroten Haar sah den König von der Seite an und glaubte etwas Gemeines in seinen bleichen Gesichtszügen zu erkennen.
Überrascht hob Balthasar den Blick zum König, er erkannte darin eine Chance, die er ein zweites Mal vielleicht nicht bekommen würde. Deshalb stand auf und ging vor ihm auf ein Knie.
„Mein König, ich fühle mich durch Ihren Vorschlag sehr geehrt, dieses schöne Burgfräulein ehelichen zur dürfen, aber ich kann nicht. Sie ist die Tochter eines Grafen und ich ein Ritter und einfacher Burgherr.“
Ohne eine Vorwarnung zog König Henrich sein Schwert aus der Scheide und verlieh dem Ritter auf der Stelle einen Grafentitel. Balthasar lächelte zufrieden. Als er sich wieder erhob, war sein Lächeln verschwunden.
„Lasst uns sofort mit der Hochzeitszeremonie beginnen“, rief der König fröhlich in den Raum. Die Frau an seiner Seite konnte an ihm erkennen, dass er leicht angetrunken war. „Ruft den Priester“, befahl er.
Angst machte sich in der Gräfin breit.
„Mein König“, unterbrach Stephania mit einer tiefen Verbeugung das Getuschel der Gäste, „mein Vater ist kürzlich gestorben und ich hatte noch nicht die Zeit, um ihn zu trauern. Bitte, Euer Gnaden, verschiebt die Vermählung, wenigstens um einen Monat.“
Der König sah auf seine Untertanin und antwortete scherzend: „Seid Ihr Euch sicher, dass er tot ist?“ Sein Blick fiel in die Runde. „Vielleicht lebt er noch und hält sich versteckt, möchte dass wir ihn suchen.“ Er brach in ein Lachen aus. Doch als er bald merkte, dass keiner in sein Lachen einstimmte, verstummte er.
„Er ist tot“, sagte Balthasar mit gesenktem Blick.
„Woher wisst Ihr das?“, fragte der König im gereizten Ton.
„Weil …“, er zögerte zuerst, „weil ich ihn getötet habe.“ Sein ernster Blick wandte sich zu seiner Verlobten. Ihr Kinn begann zu zittern, als sie seine Worte hörte.
Überrascht und neugierig zugleich sah ihn der König von der Seite an.
„Ihr …?“
Doch Balthasar gab ihm diesmal keine Antwort.
Interessant. Die Vorstellung, wie der Mörder ihres Vaters die Gräfin vor seinen Augen entjungferte, gefiel ihm. Er ließ sein Lächeln wieder aufblitzen.
„Bitte, Eure Majestät, schenkt mir Zeit für die Trauer und ich werde Euren Wunsch erfüllen.“
Normalerweise stand der Gräfin ein ganzes Jahr für die Trauer zu. Aber was ist schon ein Monat?, dachte der König. Solange konnte er warten.
„Gut. Solange werden wir hier bleiben.“ Er nahm die Hand seiner Liebsten und küsste sie vor den Augen der anderen. Jeder konnte ihm ansehen, wie glücklich er war. Aber keiner wusste den wahren Grund dafür.
Der neue Burgherr sah zu seiner Verlobten und schenkte ihr ein vorsichtiges Lächeln. Aber sie konnte und wollte es nicht erwidern.
„Und nun lasst uns auf die baldige Vermählung anstoßen“, rief der König aus, hob seinen Kelch und prostete den Rittern und Gästen zu. Sie stießen miteinander an. Ein Ritter klopfte Graf Balthasar kameradschaftlich auf die Schulter und gratulierte ihm. Stephanias und Lucas´ Blicke trafen sich. Er las Angst und Hass in ihrem Blick. Sicher, auch er war über die Entscheidung des Königs nicht erfreut, doch er wusste seine Enttäuschung und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit zu verbergen.
„Meine Liebe, möchtet Ihr euch nicht neben mich setzten?“ Balthasar erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen. Lucas stand auf und machte ihr den Sitzplatz frei. Sie gab einem Diener, der an der Wand und unweit der Tischgesellschaft stand, ihre Laute und setzte sich widerwillig zwischen Balthasar und den König. Es war ein seltsames Gefühl neben dem Mörder ihres Vaters zu sitzen, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie sah, wie alle anderen ihre Nachspeise genüsslich verspeisten. Ihr jedoch blieb jeder Bissen im Halse stecken, sodass sie gezwungen war immer wieder einen Schluck von ihrem Wein zu trinken.
Balthasar warf ihr des öfteren heimliche Blicke von der Seite zu. Er sah, dass sie um viele Jahre jünger war als er, dafür aber sehr hübsch und weiblich. Das gefiel ihm. Er merkte auch, je häufiger er zu ihr sah, desto mehr empfand er für sie.
Von einer anderen Tischseite beobachtete Lucas eifersüchtig mit verengten Augen seinen Vetter.