Читать книгу Anders Sein - Natascha Neumann - Страница 13

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7.

Am Morgen darauf regnete es in Strömen. Matthis hörte die dicken, schweren Tropfen ans Fenster prasseln, als er wach wurde. Er stand unwillig auf und zog sich nach einer kleinen Katzenwäsche für die Schule an. Regen, das hieß, klitschnass in der Schule ankommen, mit nassen Haaren im Unterricht sitzen und dann, wenn er nicht Glück hatte und es aufhörte, durch den prasselnden Regen wieder heimlaufen. Egal, er war es ja gewohnt, und lange dauerte es ja nicht, dann brauchte er diesen Weg nicht mehr bei Wind und Wetter zu laufen. »Dann muss ich nur ’rüber in den Schweinestall zum Misten. Na, ob das wirklich besser ist?« Er trabte in die Küche, brummte ein »Morgen« in Richtung seiner Mutter, die am Herd stand und in einem großen Topf rührte und setzte sich an den Tisch.

Nach dem Frühstück, das er allein eingenommen hatte wie jeden Morgen, holte er seine Schulsachen und den Regenmantel und wollte sich auf den Weg machen, als seine Mutter ihn zu sich rief.

»Heute Mittag kannst du nicht mit Sieker zu Hannah gehen, wenn es so regnet!«, sagte sie. Er sah, dass sie ungemein müde aussah, die Augen rot gerändert, die Haare, die sie sonst stets sorgfältig aufgesteckt hatte, fielen ihr strähnig ins Gesicht und über den Rücken. »Aber wenn du magst, kannst du nach der Schule noch bei Walter bleiben und mit ihm lernen oder so, also, wenn er Zeit hat natürlich.« Matthis schwieg verwundert und sah sie fragend an. Ihm fehlten die Worte.

»Tu es einfach. Ich regel das schon mit deinem Vater!« Sie setzte ihm die Kapuze auf den Kopf, drückte ihm die Schultasche in die Hand und schob ihn, wie ihre Schwester ein paar Tage vorher, aus der offen stehenden Tür. »Nun lauf, du kommst sonst noch zu spät!«, rief sie ihm hinterher, da war er aber schon fast vom Hof.

»Matthis? Schläfst du?« Matthis sprang auf, stolperte um ein Haar und versuchte, sich an seinem Pult festzuhalten. »Nein, Herr Lehrer!«, sagte er. Sein dümmlicher Gesichtsausdruck hieß ihn Lügen. Schließlich hatte sich jede Menge ereignet gestern und heute Morgen und überhaupt. Die anderen Jungen tuschelten, die Mädchen kicherten hinter vorgehaltener Hand. Matthis versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern, das der Lehrer gesagt oder gefragt hatte, aber da war nichts. Werner raunte ihm was zu, aber er hörte ihn nicht, und dann klatschte es auch schon: Lehrer Hempelmann hatte sein schweres Lehrbuch aufs Pult fallen lassen. Matthis erschrak und riss sich zusammen.

»Entschuldigung, aber ich habe die Frage nicht verstanden!«, stotterte er, alle lachten, nur Hempelmann erwiderte trocken: »Ja, das hab ich gemerkt! Vielleicht gehst du mal vor an die große Weltkarte und zeigst uns, wo Swakopmund liegt? Wir sprachen von den Missionaren dort, mein Bruder hat mir einen Brief geschickt, den ich vorgelesen hatte!«

»Es tut mir leid«, antwortete Matthis, versuchte zu lächeln und nahm den Zeigestock, den Hempelmann ihm hinhielt. »Hier in Deutsch Südwest liegt die Stadt Swakopmund, im Norden wird sie von der namibischen Wüste begrenzt, im Westen ist die Südatlantikküste. Es herrscht dort ein angenehmes Klima, im Durchschnitt ….«

»Ist ja gut. Da kann ich ja gar nicht böse mit dir sein, wenn du deine Lektion so gut gelernt hast! Egon, mach du mal weiter!«

Matthis genoss diese Schulstunde, obwohl er am Anfang seinen eigenen Gedanken nachgehangen hatte. Herr Hempelmann hatte schon zum wiederholten Male aus Briefen vorgelesen, die sein Bruder aus der Missionsstation in Swakopmund, schickte. Er berichtete darin anschaulich von dem ungewöhnlichen, harten Leben, von den Mühen, eine Schule aufzubauen und von den vielen Aspekten seiner Aufgabe dort. Missionar zu sein, das war etwas anderes, als tagein tagaus Ställe ausmisten, Schweine und Rinder verpflegen und auf dem Acker zu schuften. Sein Finger flog in die Luft, jetzt schon zum dritten oder vierten Mal, während der Lehrer las. »Ja, Matthis?«

»Woher genau bekommt denn die Missionsstation ihre Nahrung, baut der Missionar, also ihr Bruder, das selber an? Hat er auch einen Brunnen gebohrt? Afrika ist doch sehr trocken? Und halten sie dort auch Tiere?« »Matthis, gib doch Ruhe«, raunte Albert von hinten, »die haben doch Nilpferde und Seekühe«. Alle lachten, nur Lehrer Hempelmann verkniff es sich, und Matthis schlug sich mit der Hand vor die Stirn: »Klar, und so Kamele wie dich, nicht?« Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite, aber er merkte, dass er es mit seinen Fragen übertrieben hatte, seine Mitschüler malten Kringel in ihre Hefte, schauten aus dem Fenster oder flüsterten leise mit ihren Sitznachbarn. »Ich gebe dir, wenn du willst, nachher den ganzen Brief, jetzt habe ich nur Ausschnitte vorgelesen. Da kannst du dann alles nochmal nachlesen«, versprach Hempelmann. »Lehrers Liebling!«, hörte Matthis von hinten rufen, ohne die Stimme zu erkennen. Er mochte seine Mitschüler, aber sie waren so uninteressiert. Sie warteten nur auf das Ende der Stunde, des Schultages und auf den Moment, wo sie nie wieder hier her zu kommen brauchten. Die meisten von ihnen blieben Bauern – Egon beispielsweise würde eines Tages den Hof seines Vaters erben, einen der großen Ackerbaubetriebe mit eigener Mühle. Die Mädchen seiner Klasse halfen der Mutter zum Teil zu Hause, bis sie verheiratet waren, andere gingen nach der Schule in Stellung. Alle hatten einen vorgezeichneten Weg und keiner von ihnen wollte etwas anderes oder konnte sich etwas anderes vorstellen. Nur er, Matthis, er hoffte darauf, dass er in seinem Leben eine Chance auf Veränderung hatte.

Nach Schulschluss blieb Matthis wie mit seiner Mutter verabredet bei seinem Freund Walter. Walter war der Sohn von Lehrer Hempelmann und der einzige, der nach der Konfirmation in die Stadt gehen würde. Dort würde er bei einer entfernten Cousine wohnen und das dortige Gymnasium besuchen. Walter wäre lieber auf dem Land geblieben, früher hatten sie oft über die Idee gelacht, schlichtweg zu tauschen. »Vater wäre glücklich, dass sein Sohn pariert und gern die Schweine füttert, und ich könnte in der Stadt was erleben!«

»Genau, ich bräuchte mir nicht nächtelang irgendwelchen Kram einbläuen, den ich nie verstehen werde, und du könntest nicht nur, nein du müsstest sogar jeden Tag lesen und lernen. Ich hingegen ginge jeden freien Tag zum Schmiedebach zum Angeln und machte mir um nichts mehr Sorgen. Alle wären glücklich und zufrieden.«

»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Schade, dass wir jetzt erwachsen werden, nicht?«

Aber Matthis grinste dabei. Walter schubste ihn freundschaftlich und begann eine Balgerei. Die Jungen kugelten über die Wiese, boxten sich in die Rippen und tollten herum, als gäbe es kein Morgen.

»Komm, lass uns angeln gehen, nach einem solchen Regen beißen sie gut«, forderte Walter ihn nach einer Weile auf, und sie trabten hinunter zum Bach und versuchten, mit selbstgemachten Angeln einen der wenigen kleinen Fische zu erwischen. Er als sein Magen anfing zu knurren, sagte Matthis: »Ich muss jetzt heim, sonst gibt es Ärger. Ich weiß sowieso nicht, warum ich heute hier sein durfte, was in Mutter gefahren ist. Und -«, er grinste resigniert, »– wer die Schweine heute füttert, weiß ich auch nicht!«

»Dann grüß die Schweine!« Walter feixte.

»Noch sechs Wochen!«

»Ja, noch sechs Wochen!« Alle Jungs der letzten Klasse verabschiedeten sich seit Weihnachten mit der jeweiligen Wochenzahl, die es dauern würde, bis sie aus der Schule kamen.

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