Читать книгу Anders Sein - Natascha Neumann - Страница 15

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9.

Matthis und Sieker wanderten ausgesprochen gemächlich über flache lehmige Feldwege. Auf den Äckern zeigte sich das erste Grün, alles glänzte vom Regen des vergangenen Tages. Matthis hatte den längeren, aber weniger beschwerlichen Weg über die Felder gewählt, damit Sieker nicht außer Atem kam, trotzdem hustete dieser seit geraumer Zeit immer stärker. Mittlerweile führte der Weg ein bisschen bergauf, Matthis bemühte sich, langsam zu trotten, und plauderte wahllos über dies und das.

»Schauen Sie, auf der linken Seite dort drüben ist der Hof von Ohmannsiek! Die halten Rinder, sehen sie, die Rotbunten da auf der Wiese? Das ist aber nur ein kleiner Teil, die haben noch viel mehr!« Matthis hielt an und wies mit dem Arm in die Richtung, sodass Sieker aufholen und gleichermaßen ein Weilchen stehen bleiben durfte. »Dort, wo die Schonung ist, fängt S. an. Wir sind gleich da, das dauert keine zehn Minuten mehr!« Der Junge betrachtete seinen Begleiter mit gerunzelter Stirn, sah, dass dieser außergewöhnlich schwitzte und ein tiefrotes Gesicht hatte. Nein, dieser Ausflug war eindeutig keine kluge Idee und zu früh gewesen, aber Sieker hatte darauf bestanden. »Ich muss ja irgendwann bald nach Hause zurück, meine Familie erwartet mich. Außerdem muss ich Geld verdienen, ich war viel zu lange weg! Wenn also deine Tante mir helfen kann, dann besuchen wir sie, und ich sehe dann auch gleich, wie es geht!«, hatte er am Abend zuvor gesagt, nachdem Matthis und Anna Bedenken geäußert hatten. Was hätte er, Matthis, darauf schon antworten können? Matthis nahm einen Rucksack von Rücken und entkorkte die Wasserflasche.

»Hier, können Sie leertrinken, bei Tante Hannah gibt es bestimmt guten Tee!« Sieker schüttelte den Kopf, doch Matthis zeigte auf einen Baumstumpf, der in unmittelbarer Nähe am Rand des Weges stand.

»Setzen Sie sich einen Moment und trinken Sie.« Sieker folgte dem gutgemeinten Vorschlag endlich, ließ sich nieder und nahm einen kleinen Schluck, setzte aber die Flasche gleich wieder ab.

»Deine Tante, was ist eigentlich mit der? Lebt sie allein?«

»Nein, sie lebt mit Paul, das ist ihr Sohn. Onkel Paul, also ihr Mann, ist von einem Hengst totgeschlagen worden, als Paul und ich noch ganz klein waren. Er war Schmied, ein riesengroßer Mann und so breite Schultern«, er zeigte die Breite mit den Händen. »Habe ich eigentlich schon von Paul erzählt?« Sieker schüttelte stumm den Kopf.

»Paul ist jünger als ich und äh, ungewöhnlich. Aber er ist sehr lieb und nett. Tante Hannah auch.«

»Was heißt ungewöhnlich?«, hakte Sieker nach. Scheinbar erfrischte ihn die Pause. Er atmete jetzt wieder gleichmäßiger, hustete nicht mehr ständig, den zehnminütigen Weg zum Kotten würde er vermutlich schaffen. Matthis fragte sich lieber nicht, wie er ihn heute Abend zurückschaffen würde. Er legte einen Finger an den Mund, holte tief Luft, schüttelte dann den Kopf und sprudelte los: »Der Pastor sagt, das heißt mon-go-lo-id. Paul braucht viel mehr Zeit, etwas zu lernen, und er -« Matthis zuckte mit den Schultern »Ich weiß nicht. Er ist so, wie ein wirklich kleiner Junge. Und er hat alle Menschen gern!« Sieker schaute ernst und blickte Matthis aufmerksam an.

»Warum erzählst du mir das erst jetzt? Ich meine, warum hast du, hat auch sonst niemand mir schon vorher von Paul erzählt?«

Wieder zuckte der Junge mit den Schultern, schaute verlegen zu Boden und murmelte: »Wir sprechen nicht über Paul. Vater nicht und wir Kinder auch nicht. Die Leute sagen …«.

»Die Leute?« Sieker war aufgestanden und hatte seinen Stock, den er als Wanderstock benutzte, wieder aufgenommen. »Was sagen die Leute?« Er betonte die letzten beiden Worte so, als wäre es ein Schimpfwort. Paul lief langsam hinter ihm her.

»Dass er ein Idiot ist, ein Wechselbalg, ein Monstrum. Aber das stimmt nicht! Der Pastor hat streng verboten, so über Paul zu reden, und keiner tut es, wenn er es hören könnte, oder wenn von uns einer dabei ist, aber die Kinder in der Schule, also nicht alle, aber manche …« Matthis brach ab, weil Sieker ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte, und sah den Mann an.

»Du magst deinen Vetter, nicht?«

»Ja, ich mag ihn«, bekam er fast trotzig zur Antwort.

»Die Leute!-«, wieder klang es, als spucke Sieker diese Worte aus, »die Leute haben keine Ahnung. Alles, was nicht nach Regel und Maß geht, das verabscheuen sie, weil sie es fürchten. Ihr habt es mir nicht erzählt, weil ihr Angst hattet, ich würde ihn auch verabscheuen, oder?«

»Vater war der Meinung, sie würden sich vielleicht von Tante Hannah nicht helfen lassen, weil sie ein, äh, weil sie eben ein Kind wie Paul hat.«

»Aber er hat mich doch hierher geschickt?«

»Nein, eigentlich war das meine Mutter. Hannah ist ihre Schwester.«

»Weißt du, was das beste ist gegen das Gerede der Leute?«

Matthis zuckte mit den Schultern. Sah aber Sieker erwartungsvoll an.

»Geh auf sie zu und sprich sie an, auf das, was sie da sagen. Frag nach. Da sie meistens Unsinn erzählen oder nur irgend etwas weitertratschen, wissen sie darauf keine Antwort und manchmal nehmen sie sich dann mehr in Acht.«

Matthis war nicht sicher, ob er das verstanden hatte, aber er kam nicht dazu, nachzufragen.

Sie hatten jetzt beinah den Ortsrand erreicht. Rechts in einer kleinen Mulde weideten ein paar Ziegen, eine Frau saß etwas erhöht am Rand der Senkung. Ein ziemlich großer, ungelenker Junge kam von hinten auf sie zu, rief »ich hab dich!«, und stieß sie an, sodass sie ins Gras fiel. Noch im Fallen umarmte sie das ungestüme Kind und beide rollten unter lautem Lachen den sanften Hügel hinab in die Mulde, mitten zwischen die Ziegen. Diese ließen sich dadurch aber nicht bei ihrer Mahlzeit stören, die Frau sprang auf, der Junge, ein bisschen tollpatschig, auch, sie lief mit erhobenen Armen auf ihn zu: »Hab dich!«

Matthis grinste breit, er machte eine komisch gemeinte kleine Verbeugung und wies mit der geöffneten Hand auf die beiden Ziegenhirten.

»Herr Sieker, darf ich Ihnen meine Tante Hannah Ahrendt und Paul, ihren Sohn, vorstellen?«

Hannah trug die übliche Kleidung der Frauen auf dem Land, ein knöchellanges dunkelblaues Kleid, darüber eine längsgestreifte Schürze, die Haare unter einem im Nacken gebundenen Kopftuch. Sie schien alles andere um sich herum vergessen zu haben, nur das Kind und ihr Spiel. Aus ihrem Tuch hatten sich ein paar rotbraune Haare gelöst, sie strich sie in einer kurzen Bewegung hinter die Ohren. Sie reichte ihrem Sohn eben bis ans Kinn, war rundlich, aber an den richtigen Stellen. Jetzt hatte der große Junge die beiden Besucher entdeckt, rief laut: »This!«, und rannte, so schnell er in seiner Tollpatschigkeit konnte, auf seinen Vetter zu. Dabei breitete er die Arme aus und lachte von einem Ohr zum Anderen. Matthis ging ihm entgegen und nahm ihn wie selbstverständlich in die Arme.

»Pauli, schau, ich habe Besuch mitgebracht!« Er wandte sich mit seinem Vetter zu Sieker um. Der starrte die Frau, die ihrem Sohn gemächlicher folgte, mit einem Blick an, den Matthis nicht recht deuten konnte, an. Jedenfalls ist er sehr blass, dachte Matthis. Sieker streckte die Hand zur Begrüßung aus und ging einen Schritt auf Hannah zu – und sackte zusammen. Fast augenblicklich knieten Matthis und Hannah neben ihm.

»Leg ihn auf den Rücken, aber die Beine hoch, Paul, hol Wasser aus dem Trog.«

»In meinem Rucksack ist eine Flasche. Nimm die!«, ergänzte Matthis. Zu seiner Tante sagte er: »Er hätte niemals kommen dürfen, er hatte noch immer starken Husten, aber er hat uns alle so bedrängt!«

»Nun, er ist erwachsen, nicht? Mach dir keine Vorwürfe. Husten, sagtest du?«

»Ja. Oft hat er keine Luft mehr bekommen und der Tee, den Anna gemacht hat, half immer nur kurz. Seine Wunden sind gut verheilt, aber an den Rippen scheint er noch Schmerzen zu haben, da hatte er seine Hand heute sehr oft.«

Hannah betrachtete voller Konzentration den Mann, der vor ihr lag. Paul hatte das Wasser gebracht und stand nun wie verloren herum. Matthis wusste, er litt, wenn Neues geschah, das ängstigte ihn. Während Hannah mit einem befeuchteten Tuch die Stirn des Kranken kühlte und ihn vorsichtig untersuchte, widmete er sich Paul.

»Schau, Junge, das ist Jakob Sieker, den ich unten am Schmiedebach gefunden habe!«, erzählte er dem Jüngeren.

»Du, gefunden! Menschen findet man doch nicht. Die… äh, die … sind einfach da!«

»Doch, doch, pass auf, das war so«, begann Matthis, aber Hannah unterbrach ihn: »Da ist er ja wieder! Guten Tag, Herr Sieker, können sie mich verstehen? Nein, bleiben Sie liegen!«

Matthis und Paul kamen heran, Paul trat unbefangen auf den am Boden liegenden zu, hockte sich neben ihn und streckte mit einem breiten Lächeln die Hand aus.

»Ich bin Paul!«, sagte er. Matthis sah, dass Hannah den Atem anhielt. Zu oft hatte sie erlebt, was jetzt vermutlich passieren würde, aber ihr herzensgutes Kind versuchte es immer wieder.

»Hallo, Paul, Matthis hat mir schon viel von dir erzählt!«, entgegnete Sieker mit kraftloser Stimme, aber ohne zu zögern. »Und von Ihnen auch«, fuhr er fort und probierte aufs Neue, sich aufzusetzen.

Hannah lächelte zufrieden in sich hinein. Er hatte Paul nicht abstoßend gefunden und sich auf ihn eingelassen. Das war ein anständiger Mensch.

»Bleiben Sie noch ein bisschen liegen. Was genau ist passiert?«

»Ich weiß nicht, ich bin vor einigen Wochen wohl überfallen worden«, setzte er an, aber sie schnitt ihm das Wort ab.

»Das weiß ich, nein, was jetzt eben gerade mit Ihnen passiert ist? War Ihnen schwarz vor Augen? Oder schwindelig? Tat Ihnen irgendetwas weh?«

»Es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur zu sehr angestrengt.« Sieker stand auf und Hannah versuchte nicht, ihn zu hindern. Er schwankte ein wenig, fiel aber nicht. Er hatte ein wenig Farbe bekommen. Er schaute an sich herunter, rieb dann seine Hände an den Hosenbeinen und reichte Hannah die Hand.

»Darf ich mich Ihnen vorstellen? Ich heiße Jakob Sieker, Tischlermeister aus Enger. Ich freue mich, ihre Bekanntschaft zu machen!«

Matthis grinste, weil er sah, dass Hannah das Blut in die Wangen schoss, sie ließ Siekers Hand schnell los. Er beobachtete die beiden gespannt, eine so förmliche Begrüßung und Vorstellung hatte er nicht erwartet. Dann schmunzelte er, halb schelmisch und halb verlegen und sagte: »Ich könnte was essen!«

Paul klatschte in die Hände und rief »Au ja!«, Sieker und Hannah wandten ihre Blicke voneinander ab und richteten sie auf die Jungen.

»Meinen Sie, sie schaffen die paar hundert Schritte noch? Es sind wirklich nur noch ein paar Minuten!«

»Aber klar, ich fühle mich schon wieder sehr wohl! Verzeihen Sie, dass ich Ihnen so einen Schrecken eingejagt habe.«

Hannah betrachtete ihren Gast ausführlich, während sie einen Tee braute, durch das geöffnete Küchenfenster. Sieker saß auf der Bank vor dem Haus in der Sonne. Er schaute scheinbar gedankenverloren den beiden Jungen zu, die gemeinsam und unter großem Gelächter die Ziegen in den Stall brachten und versorgten. »Ein stattlicher Mann«, befand sie, »und noch gar nicht so alt, wie Matthis behauptet hat.« Vorsichtig goss sie das Wasser über die Blätter in der tönernen Kanne und stellte diese zur Seite, nahm eine zweite Kanne aus dem Regal und schüttete ebenfalls ein paar Kräuter hinein, bevor sie sie überbrühte. Paul und Matthis balgten sich im frisch aufgestreuten Heu des Ziegenstalls, sie hörte ihr helles Jungenlachen.

»So hätte es sein können«, schoss ihr durch den Kopf, dann aber verbot sie sich schnell wieder diese Art Gedanken. »Besser, du schaust auf deine Kräuter und darauf, was dem Mann da draußen fehlt, statt hier in nutzlosen Jungmädchenträumereien festzuhängen«, schalt sie sich selbst. Sie schob die tönerne Kanne hinten auf die Anrichte, damit Paul sie nicht erreichte. Eine unsinnige uralte Gewohnheit, denn seit über einem Jahr überragte er sie. Sie nahm einen weiteren Stuhl mit nach draußen und setzte sich Sieker gegenüber.

»Ihr Tee ist gleich fertig. Ist Ihnen warm genug? Ich hole gern auch eine Decke!« Sieker lächelte.

»Hier in der Sonne ist es wunderbar, genau richtig. Schön, dass jetzt endlich Frühling wird, nicht wahr?«

»Woher kommen Sie eigentlich? Matthis hat mir gar nicht richtig von Ihnen erzählt, er war mit ganz anderen Dingen beschäftigt.« Hannah schaute ihn erwartungsvoll an, aber er antwortete nicht gleich. Sein Zögern machte sie nervös, sie stand auf, ging ins Haus, kam mit der tönernen Kanne und einem Becher wieder.

»Hier, das ist ihr Tee. Langsam und in kleinen Schlucken trinken!«

»Ich bin Tischler«, begann ihr Gegenüber dann unvermittelt, »und ich lebe etwa drei Tagesreisen von hier in Enger.« »Allein?«, rutschte es Hannah heraus. Sie spürte, dass sie rot wurde. »Ich meine, vermisst sie denn keiner? Müssen Sie nicht zurück?«

Ihr Gast lächelte still in sich hinein. »Meine Gesellen, meine Schwestern, mein kleiner Sohn. Mein Geschäft muss weiter geführt werden. Aber im Augenblick kann ich nicht fort, Sie haben es ja gesehen. Geld habe ich auch keines mehr, ich bin ja beraubt worden. Vielleicht leiht mir Meyer zu Ollerdissen, was ich brauche, um wenigstens einen Teil der Strecke mit der Bahn fahren zu können, aber nach dem Tag heute brauche ich wohl noch etwas Zeit. Vielleicht ein, zwei Wochen?«

»Um das zu sagen, müsste ich Sie erst ausgiebig befragen. Ich weiß ja so gut wie nichts. Matthis sagte, Sie hätten Schmerzen in der Rippengegend? Waren die gebrochen?« Punkt für Punkt ging Hannah mit ihm die Fragen durch, die ihr Antwort auf die Frage gaben, was ihm fehlte. Anna hatte ihn zwar wiederhergestellt, seine Wunden ausgezeichnet versorgt und seine Brüche geschient, aber der hartnäckige Husten, die Atemnot, der Ohnmachtsanfall, das alles schien auf ein grundlegenderes Problem hinzuweisen. »Diese Kurzatmigkeit – hatten Sie die schon vor dem Überfall?«

Er schaute zu Boden, setzte zu einem schnellen »Nein« an, schüttelte den Kopf und sagte dann »Nur einmal.« Das Bild von seinem krampfenden Kind schob sich vor sein inneres Auge, er hatte Mühe, die Wut und die Ohnmachtsgefühle beiseitezuschieben. Hannah sah, dass ihn etwas beschäftigte, aber sie drang nicht in ihn. Sie hatte eine alte Zeitung geholt und zu einer Art Tüte zusammengerollt. Kaum sah sie, dass er seine Gefühle wieder im Griff hatte, bat sie ihn, seine Arme einmal über den Kopf zu heben. »Ich möchte ihr Herz abhören, wie es schlägt«, erklärte sie. »Ich glaube nämlich, das ist es, was Ihnen jetzt Probleme bereitet. Wie alt sind Sie?«

»Ich bin -«,

»Ah, die Hannah hat Herrenbesuch! Hast du deine Missgeburt so lange in den Stall gesperrt, bis du hier deinen Spaß gehabt hast, hä? Vor aller Welt Augen? Schamlos warst du ja schon immer!« Eine alte, dürre Frau mit schlecht sitzender Kleidung blieb auf dem Weg, der am Haus vorbeiführte, stehen und spie die Worte nur so heraus. Sie hatte einen großen Weidenkorb in der einen Hand und einen Stock, mit dem sie jetzt wild gestikulierte, in der anderen.

»War ja klar, dass du die Finger nicht von den Kerlen lässt!« Wieder fuchtelte sie mit dem Stock herum, setzte gar den Korb ab, um die Hände in die Seiten zu stemmen. Sie hatte eine unangenehm schnarrende Stimme, was die gemeinen Worte noch betonte. Hannah wurde blass, sagte aber nichts und versuchte, der Alten keine Beachtung zu schenken, Sieker hingegen stand auf und schritt, sich hoch aufrichtend, auf die Frau zu. Er lächelte freundlich und streckte die Hand aus. Seine Stimme dröhnte laut, aber scheinbar sanft: »Guten Tag. Ich bin Jakob Sieker, mit wem habe ich die Ehre?« Das garstige Weib gab keine Antwort. Sieker trat einen weiteren Schritt auf sie zu, als hinter ihm wildes Geschrei ertönte. Die Jungen hatten ihr Spiel im Stall beendet und kamen unbändig brüllend angelaufen. Die Alte erstarrte vor Schreck, raffte dann rasch ihren Rock zusammen und versuchte, wegzulaufen. Dabei stolperte sie und fiel direkt in die geöffneten Arme von Paul.

»Hoppla!«, rief der in seiner unnachahmlichen Art und drückte sie liebevoll an sich. Jetzt war es um die Fassung der Frau vollends geschehen. Sie riss sich los, raffte die Röcke und rannte, so schnell es ging. Matthis und Paul lachten aus vollem Hals, Sieker und Hannah brachen in schallendes Gelächter aus.

Als der Tag zu Ende ging, wurde Sieker klar, dass der liebe Gott es gut mit ihm meinte. Ja, Joni hatte einen Anfall gehabt, ja, er, Jakob Sieker war überfallen worden, aber er hatte wunderbare Menschen kennengelernt. Der junge Matthis war so eifrig, so hilfsbereit, ganz anders als sein Ziehsohn Hannes, den er vor Jahren aufgenommen hatte. Hannes war oft mürrisch und seine Aufgaben in Haus und Werkstatt erledigte er lustlos. Statt dankbar zu sein, betonte er immer wieder, dass er fortgehen würde, sobald wie möglich. Während seiner Lehrzeit, die heute schon fünf Jahre zurücklag, hatte Hannes sich wenig Mühe gegeben. Dieser Junge hier, der würde sein letztes Hemd geben für eine Lehre bei ihm.

Außerdem war da diese Frau. So winzig war sie, und doch erschien sie vor seinem geistigen Auge riesengroß und drängte alles andere aus seinen Gedanken. Wie fachmännisch sie ihn untersucht hatte, wie leicht ihre Berührungen waren. Ihr Lachen schien ihm das Schönste zu sein, das er je gesehen hatte. Gut, sie hatten einen Idioten als Sohn, aber der war ja allerliebst, wie ein arg tapsiger, unbeholfener Bär. An ihm erkannte Sieker, dass diese Hannah zu echter Hingabe fähig war.

Er seufzte, nahm sich vor, sie bald wieder zu besuchen, drehte sich um und schlief ein.

Anders Sein

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