Читать книгу Anders Sein - Natascha Neumann - Страница 16

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10.

Drei Wochen später ergab sich für Jakob Sieker die Gelegenheit, mit einem fahrenden Händler zurück in seine Heimatstadt zu fahren. Es war reiner Zufall, dass dieser so früh im Jahr hier unterwegs war, und er würde im Übrigen mindestens zwei Tage brauchen, aber Sieker brauchte nicht laufen und konnte sich so weiter schonen. Er hätte außerdem Gesellschaft, falls es er kränkeln würde oder Hilfe benötigte. Der gutmütige Händler kam schon seit Jahren auf den Hof, sodass er bekannt war, und es freute ihn, behilflich zu sein. So wurde ausgemacht, am nächsten Tag die Reise anzutreten.

Matthis war enttäuscht und traurig. Sieker hatte Abwechslung in sein Leben gebracht, erst dadurch, dass er bei der Pflege helfen durfte, dann durch das gemeinsame Tischlern und nicht zuletzt hatten sie sich befreundet. Der Tag bei Tante Hannah hatte ihm Freude bereitet, die Begegnung mit der alten Klara, die Sieker so souverän gemeistert und Paul so grandios aufgelöst hatte – das alles war lustig gewesen. Matthis hatte sich wohlgefühlt mit ihm, und umgekehrt, so schien es, war das auch so. Mittlerweile war diese Zeit vorbei, Matthis würde wieder seinen langweiligen, ungeliebten Alltag leben. Vier weitere Wochen Schule, dann die feierliche Entlassung, am Sonntag darauf die Konfirmation und danach? Arbeit, Schweine, Dreck. Keine Stunden mehr beim Pastor, der ihn wenigstens verstand und immer aufregende Begebenheiten zu erzählen wusste, keine sonnigen Nachmittage mehr am Schmiedebach mit Walter. Die anderen Jungs hätten dann keine Zeit mehr, schon im letzten Schuljahr war das faule Herumlungern kaum möglich gewesen, sie alle wurden häufiger auf ihren Höfen in die Arbeit einbezogen.

»So war es immer, darum dreht sich alles!«, sagte der Vater gern, und grundlegend gab der Junge ihm recht. Hier auf dem Hof, war alles, wie es sein muss: es wurde gepflanzt, geerntet und bevorratet, es wurden Kälber und Ferkel geboren, großgezogen und zu Fleisch verarbeitet, es wurden Kinder geboren, die groß wurden und das Land bebauten.

Am Firstbalken des Hofes stand es ja zu lesen, das waren die ersten Worte, die er lesen konnte: »Müh‘ und Arbeit sind umsunst, so du nicht hast auch Gottes Gunst - Karl Meyer zu Ollerdissen, Anno Domini 1598.«

Eine wahrhaft uralte Tradition, die hier in gepflegt wurde, seit der Großvater seines Großvaters es gebaut hatte. Matthis war das alles bewusst und das Seltsame war, er liebte es. Dieses Verwurzeltsein, diese Zugehörigkeit zu etwas Altem, Beständigem, das gab ihm Sicherheit, seit er denken konnte. Der Hof, das Haus, die uralten Ulmen rundherum, die Kirche aus grauer Vorzeit, die Nachbarn, die er schon ein Leben lang kannte. Die Väter seiner Schulkameraden waren mit seinem Vater zur Schule gegangen. Nur eben Walter nicht, sein bester Freund. Der Lehrer war ‚neu’ im Dorf, wohnte erst seit zwölf Jahren hier, für die Alteingesessenen fast ein Fremder. Matthis und Walter waren von Schulbeginn an Freunde, denn in Walter hatte er jemanden, der eine andere Welt jenseits des Dorfes kannte und davon erzählen konnte. Die vielen Bücher, die Briefe des Missionars, das alles war so reizvoll. Matthis liebte eben das Fremde genauso, das Andere. Aber mit diesen Träumen war jetzt endgültig Schluss. Die Episode mit Sieker war so etwas wie ein Abschied aus der Welt ‚da draußen‘, er musste seine Träume begraben. Er wollte nicht Knecht sein, nicht auf dem Hof arbeiten – aber was er stattdessen wünschte, das wusste er nicht. »Ich bin jetzt so gut wie erwachsen, also muss ich endlich der Tradition folgen!«, dachte er etwas hochfliegend.

»Eine so günstige Gelegenheit, danke, dass Sie mir das ermöglicht haben. Überhaupt: Danke für alles, das kann ich nie wieder gut machen!« Sieker stand in der guten Stube vor Karl und Martha. Karl winkte ab.

»Das war selbstverständlich. Wir freuen uns, dass es Ihnen wieder so gut geht.«

»Ja, dafür würde ich mich gern auch bei Ihrer Schwiegertochter und bei Matthis bedanken, aber vorher wollte ich noch etwas mit Ihnen besprechen, wenn Sie Zeit haben?«

Es war längst dunkel, die Tiere versorgt, das Abendbrot gegessen. Übermorgen in aller Frühe würde Sieker aufbrechen.

»Setzen Sie sich! Natürlich haben wir Zeit für Sie!« Karl stand auf, zog seinem Gast den Sessel ans Feuer, holte ein Kästchen aus dem Schrank hervor, stellte es dann wieder fort und nahm ein anderes, ähnlich Aussehendes in die Hand. Er öffnete es und hielt es Sieker hin.

»Hier, die sind selbst gerollt – also beinah selbst«, er grinste, »ich habe einen Vetter in Bünde, der dort Zigarren herstellt. Die sind wirklich gut!« Sieker bedankte sich höflich, während Karl sich wieder ihm gegenüber auf das Sofa setzte.

»Nun aber, was können wir für Sie tun?«, fragte er dabei und schaute seinen Gast erwartungsvoll an. Der zögerte ein bisschen mit der Antwort, er vermochte nicht so recht voraussehen, wie der Bauer reagieren würde, aber es war sein vorletzter Abend hier.

»Sie wissen, dass ich Tischler bin und eine kleine Tischlerei mit zwei Gesellen habe? Wir stellen dort vor allem Möbel, aber auch Böden her. Darum war ich ja hier, wegen des Holzes.«

»Ja, das haben Sie erzählt. Johannpeter ist zuverlässig und macht vernünftige Arbeit zu guten Preisen, da können Sie sicher sein. Sie waren sich doch schon einig mit ihm?«

»Sicher, alles in Ordnung. In den Wochen bei Ihnen ist mir aufgefallen, wie anstellig und geschickt Ihr Matthis ist«, Martha setzte sich auf, hielt die Luft an und schaute den Tischler gespannt an.

»Er kommt ja bald aus der Schule. Bestimmt können Sie ihn hier gut gebrauchen, aber -«, er kam ins Stocken. Es lag nicht in seiner Absicht, seine Gastgeber zu verärgern, doch diese Idee, die er vor einigen Tagen hatte, ließ ihn nicht los.

»Ich habe schon längere Zeit keinen Lehrling mehr ausgebildet, aber Matthis ist aufgeweckt und klug. Ich würde ihn gern als Lehrling haben!«

Martha legte spontan ihre Hand beschwichtigend auf Karls Arm. Dieser saß völlig verblüfft mit offenem Mund neben ihr. Sie schaute ihn an, sagte selber aber nichts.

»Wie stellen Sie sich das vor? Wollen Sie uns den Jungen wegnehmen? Wir bekämen ihn ja gar nicht mehr zu Gesicht?« Karl war aufgesprungen und lief aufgeregt in der Stube hin und her. Sieker erhob sich ebenfalls, legte seinem Gastgeber die Hand auf die Schulter, schaute ihm ins Gesicht: »Wir reden doch erst einmal nur!« Er blieb äußerlich gelassen und hoffte, Ollerdissen würde sich dadurch gleichermaßen beruhigen.

Niemand würde je erfahren, was genau an diesem Abend besprochen worden war. Natürlich war Matthis weggeschickt worden, natürlich hatte man ihn nicht gefragt gefragt. Mutter hatte rote Augen und sah übernächtigt aus, Vater wirkte eher enttäuscht als müde oder sauer. Gleich am Morgen, vor dem Frühstück, kam Vater vom Melken aus dem Stall, Peter war da, Erich und sogar Anna, sonst waren die um diese Zeit längst bei ihren jeweiligen Aufgaben. Matthis musste bald los, wenn er pünktlich in der Schule sein wollte, aber Mutter beruhigte ihn.

»Du wirst gefahren!« Der Junge staunte. Das alles war ihm unheimlich. Mutter stellte ein Glas Milch hin, eine Scheibe Brot lag vor ihm, aber die merkwürdige Stimmung in der Küche machte ihn appetitlos. Sieker kam herein, nahm wortlos einen Stuhl und setzte sich zu Matthis an den Tisch. Vater brummte irgendetwas, das Matthis nicht verstand und schaute Mutter fragend an.

»Kinder, mein Junge, ich wollte, dass ihr alle es gleichzeitig erfahrt. Nach Ostern, wenn Matthis aus der Schule ist, wird er als Lehrling bei Herrn Sieker in Enger anfangen. Er wird bei ihm wohnen und arbeiten und ein wunderbarer Tischler werden und …«, Tränen rannen über ihr Gesicht, aber das merkte keiner, denn alle sprachen jetzt durcheinander. Matthis sah Sieker an, der nur mit den Achseln zuckte und lächelte. Dann schaute der Junge zu seinen Eltern, aber die waren mit den anderen beschäftigt. Niemand bemerkte, dass er aufstand, seine Sachen nahm und hinausging. Er wollte unbedingt jetzt allein sein.

All seine Träume gingen in Erfüllung, und er erfuhr das so nebenbei.

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