Читать книгу Anders Sein - Natascha Neumann - Страница 9

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4.

In der ersten Woche hatte Matthis oft neben dem Kranken gesessen, ihm vorsichtig Wasser gereicht, wenn dieser erwachte, seinen Puls gefühlt – Anna hatte es gezeigt und ihm aufgetragen, sie sofort zu rufen, sobald der Puls auffällig schnell würde.

»Ein Psalm Davids. Nach dir, Herr, verlanget mich.

Mein Gott, ich hoffe auf dich. Lass mich nicht zuschanden werden, dass sich meine Feinde nicht freuen über mich! Denn keiner wird zuschanden, der dein harret; aber zuschanden müssen sie werden, die losen Verächter

Matthis las den Psalm langsam, gleichwohl mit Betonung. Die altmodische Sprache der Bibel störte ihn nicht. Er liebte die Psalmen, obwohl er nicht immer verstand, was dort zu lesen war. Der Kranke rührte sich nicht, hatte die Augen geschlossen und atmete gleichmäßig, nur ab und zu hustete er.

»Herr, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige! Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich; denn du bist der Gott, der mir hilft; täglich harre ich dein.« Wieder ein Hustenanfall, diesmal etwas heftiger. Der Junge legte die schwere Bibel auf den Hocker neben sich, holte ein feuchtes Tuch aus der Schüssel und wischte dem Patienten die schweißnasse Stirn ab. Als er sich zurück auf seinen Platz setzten, griff der Kranke nach ihm.

»Wie - alt - bist - du?«, fragte er, und seine Stimme war so kraftlos und leise, dass Matthis sich tief in den Alkoven hinein beugen musste.

»Ich bin im Januar vierzehn geworden«, antwortete er. »Ich bin Matthis, ich hab Sie am Bach gefunden«, erklärte er dann.

»Jakob - Sieker«, sagte sein Patient mit tonloser Stimme, er versuchte, sich ein wenig aufzurichten, aber das gelang ihm nicht.

»Bleiben Sie ruhig liegen! Sie brauchen viel Ruhe, hat Anna gesagt!«

»Mein Sohn …ich«, er hustete heftig. Matthis schob seinen Arm unter die Schulter des Kranken, stützte seinen Kopf mit seiner eigenen Brust und flößte ihm etwas Tee ein. Dann ließ er ihn zurück ins Bett sinken, nahm erneut das Tuch, wischte ihm erst den Mund und danach die Stirn ab und wusch anschließend den Lappen aus. Sieker hatte die Augen geschlossen und atmete wieder gleichmäßiger. Matthis betrachtete ihn eine Weile und fuhr schließlich mit seiner Lektüre fort.

»Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von der Welt her gewesen ist. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretung; gedenke aber mein nach deiner Barmherzigkeit um deiner Güte willen! Der Herr ist gut und fromm, darum unterweiset er die Sünder auf dem Wege. Er leitet die Elenden recht und lehret die Elenden seinen Weg. Die Wege des Herrn sind eitel Güte und Wahrheit denen, die seinen Bund und Zeugnis halten. Um deines Namens willen, Herr, sei gnädig meiner Missetat, die da groß ist!«

Zu Ostern würde er, mit Abschluss seiner Schulzeit, konfirmiert werden, und die Lektüre der Bibel war für ihn nichts Ungewöhnliches. Er las im Gegensatz zu seinen Brüdern gern, wie auch immer, außer dem heiligen Buch und dem Katechismus gab es zu Hause kaum etwas zu lesen. Von eigenen Büchern träumte er. Der Pastor und der Lehrer liehen ihm mitunter Lesestoff, aber er hatte neben Schule und Hofarbeit ohnehin wenig Zeit. Seit er vier war, half er Mutter, die Hühner zu versorgen, mit sechs war diese Aufgabe seine allein. Er hatte gelernt, die Ställe auszumisten, die Schweine zu mästen, die Kühe zu melken - kurz, er war jetzt vierzehn und wusste alles über die Arbeit auf dem Hof. Er konnte ein Gespann lenken, durfte das aber nie, denn seine Brüder waren die Älteren, sie hatten eben ältere Rechte. Beim Ausbauen des Schweinestalls hatte er die Arbeit mit Holz gelernt, das hatte ihm gefallen, aber er durfte nur flicken und ausbessern und seine Zeit nur ‚nützlich‘ verbringen. Er hatte seit jeher Aufgaben auf dem Hof, mit jedem Jahr wurden diese mehr.

Gern wäre Matthis weiter zur Schule gegangen, aber dafür gab es weder Geld noch Gelegenheit, es war überhaupt nie darüber gesprochen worden. Nun, da er bald nicht mehr zur Schule gehen musste, war er für den Vater und die älteren Brüder endlich eine vollwertige Kraft. Aber wenn er sich nach getaner Arbeit mit einem Buch, das der Pastor ihm geliehen hatte, in eine Ecke am Ofen zurückzog, begann gleich die Spöttelei.

»Wahrscheinlich will er Pastor werden!«

»Unser kleiner Neunmalkluger!«

»Wie man die Mistgabel richtig hält, das weiß er nicht, nur die Bibel, die kennt er!«, veralberten die Brüder ihn, fast liebevoll, aber sein Vater fand diese ‚Unart‘ gar nicht lustig. »Ein Bauer braucht keine Bücher, draußen gibt es genug zu tun. Diese ganze Gelehrsamkeit ist weibisch und nichts für unsereins! Ein richtiger Junge würde jetzt draußen mit seinen Kameraden zusammen sein …«

Diese Zeit am Bett des Fremden war daher für Matthis etwas Besonderes.

Mittlerweile hatte er fast jede Scheu verloren, der Mann schlief ja meistens und er – Matthis – wurde gebraucht. Eines Tages in der zweiten Woche war der Patient wieder aufgewacht, wie schon beim ersten Mal, als Matthis ihm etwas vorgelesen hatte. Er hatte eine ganze Weile mit offenen Augen da gelegen und völlig unvermittelt zu reden begonnen. Seine Stimme war schon etwas kräftiger als zuvor, aber immer musste Matthis gut hinhören.

»Ich war Bäume kaufen. Jakobpeter … und dann … drei Männer …«, er hustete, Matthis gab ihm Tee.

»Soll ich jemanden rufen? Anna?« Matthis wollte aufstehen und seine Mutter oder seine Schwägerin holen, aber der Fremde hielt ihn zurück.

»Matthis, nicht?« Der Junge nickte. »Da waren drei Männer … Und dann … kalt …«

Wieder hustete er heftig, Matthis sah, dass er kaum Luft bekam und Schmerzen hatte. Er gab ihm erneut von dem Tee, dann aber öffnete er die Tür des kleinen Raumes und trat auf die Deele.

»Anna«, rief er, »schnell, er ist wach!«

Anna kam aus der Küche, langsam, behäbig, den großen, schweren Bauch haltend. Es dauerte jetzt nicht mehr lange, dachte der Junge, dann bin ich Onkel. Anna trat in die Kammer, aber Sieker war wieder eingeschlafen. Sie schaute erst ihn an, dann sah sie sich im Zimmer um.

»Du machst das richtig gut. Es scheint ihm besser zu gehen, aber den Schlaf braucht er weiterhin. Er hat ja einiges durchgemacht!«

Matthis lief wegen des Lobs rot an und nickte.

»Er ist wohl überfallen worden, er sprach von drei Männern, aber mehr hat er nicht gesagt. Er hustet so schlimm.«

»Das wird, das braucht seine Zeit. Gib ihm nur weiter Tee, kühl ihm die Stirn, wenn er fiebert und ruf mich, wenn was ist.«

Sie stützte mit der Hand ihren Rücken, streckte sich und watschelte davon.

Der Kranke schlief weiterhin die meiste Zeit und war in seinen wachen Stunden äußerst wortkarg. Er starrte an die Decke, schaute kaum auf, wenn jemand in den Raum kam und nickte nur dankbar, wenn ihm Wasser oder Brei gereicht wurde. Matthis half ihm beim Essen und Trinken, kämmte ihm Haar und Bart, leerte fast ohne Murren die Bettpfanne, die Sieker ihm verschämt hinhielt und fühlte sich wichtig. Erst am Ende der dritten Woche begann der Kranke, seinen jungen Pfleger öfter mal leicht gequält anzulächeln und mehr als »Bitte« oder »Danke« zu sagen. Matthis erfuhr, dass Sieker Tischler war, und bald führten sie Gespräche über die Bearbeitung von Holz. Das heißt, Matthis sprach und sein Patient nickte, lächelte, schüttelte den Kopf und ließ nur selten eine Frage hören. Neben dem Lesen war die Arbeit mit Holz immer Matthis stille Leidenschaft gewesen, die er vor seiner Familie aber wohlweislich so gut wir möglich verborgen gehalten hatte. Die Brüder hätten ihn mal wieder ausgelacht und so mit anderer Arbeit vollgepackt, dass er Säge, Holz und Nägel in den nächsten Jahren nicht mehr zu sehen gekriegt hätte.

»Immer geben sie mir Aufgaben, die jeder Trottel erledigen kann oder für die selbst der Knecht sich zu schade ist«, berichtete er seinem Patienten. »Als ich noch sehr viel kleiner war, hat Anton mir das Schnitzen beigebracht, aber seit der weg ist, nimmt keiner mich hier ernst!«

Wie fast immer nickte der Genesende nur.

An diesem Abend durfte Sieker das erste Mal aufstehen, die Kammer, die man für ihn gerichtet hatte, verlassen und am Abendessen seiner Gastgeber teilnehmen.

Matthis trat ein bisschen verlegen und mit rotem Kopf in das Krankenzimmer und hielt etwas hinter dem Rücken versteckt. Er fand es anmaßend, dem Fremden so ein Geschenk zu machen, aber Mama hatte gesagt, das sei in Ordnung, eine nette Geste sogar. Trotzdem war es dem Jungen peinlich und er glaubte, er würde gleich stolpern, da lächelte der Patient das erste Mal.

»Was hast du denn da?«, fragte er, seine Stimme klang ein wenig heiser und so, als hätte er die Worte mühsam suchen müssen. Diese Unsicherheit machte Matthis Mut, er streckte die selbstgebauten Krücken, die er in den vergangenen Tagen gefertigt hatte, Herrn Sieker entgegen.

»So können Sie sich besser bewegen, in der ersten Zeit«, murmelte er mit gesenktem Kopf. Der so Beschenkte nahm die erste Krücke in die Hand, strich über das Holz, hielt sie hoch, und legte sie nahezu behutsam zur Seite. Dann nahm er die Zweite genau so unter die Lupe.

»Hast du die gemacht?«, fragte er dann in der gleichen, etwas schleppend wirkenden Sprechweise. Matthis nickte.

»Ja«, antwortete er schüchtern, »ich dachte, Sie könnten sie gebrauchen, wenigstens am Anfang. Anna meint, Sie werden irgendwann wieder richtig laufen können, aber es braucht Zeit!«.

»Die sind richtig gut!«, staunte Sieker und tat dabei so, als hätte er die letzte Bemerkung gar nicht gehört. Wieder nickte der Junge, bevor er auffordernd die Tür der Kammer ein Stück aufstieß.

»Sind Sie bereit? Die Familie wartet!«

Mühsam stemmte sich der Patient hoch, aber die Krücken passten so gut zu seinem Körper, dass er es schaffte, die paar Schritte bis zum Küchentisch der Familie zu schaffen. Mit stolzgeschwellter Brust folgte Matthis ihm. Es wurde still, als sie eintraten. Fürsorglich rückte Matthis einen Stuhl vom Tisch ab, Papa sah auf und sagte: »Willkommen an unserem Tisch!«, dann wartete er, bis der Gast sich mit Matthis Hilfe hingesetzt hatte. Er schaute in die Runde, faltete die Hände und sprach das Tischgebet.

Anders Sein

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