Читать книгу Anders Sein - Natascha Neumann - Страница 8

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3.

Jakob Sieker packte ein frisches Hemd, eine Hose und allerlei Kleinigkeiten in seinen Reisebeutel. In der Küche suchte er einige Würste, ein Stück Käse und ein paar Äpfel zusammen, als Frieda unerwartet im Raum stand.

»Wohin gehst du? Und warum ausgerechnet jetzt?« Jakob antworte nicht. Er schnürte sie Lebensmittel in ein Tuch, das er oben auf seine Sachen legte und verließ schweigend den Raum. Frieda stapfte hinter ihm her.

In der Werkstatt winkte er die beiden Gesellen heran. »Ich besuche meinen alten Freund Johannpeter, der im weiten Umkreis das beste Holz hat. Wir benötigen Stieleichen – je gerader, desto besser. Ich werde sie aussuchen und bestellen.

Es sind nur drei Tagesreisen, und nächste Woche bin ich wieder da, und auf uns wartet viel, viel Arbeit, aber auch gutes Geld. Also genießt meine Abwesenheit!« Daraufhin hatte er schief gegrinst und sich seinem Sohn zugewandt.

»Joni, du bist schön brav, ja, und tust, was Tante Agnes und Onkel Ernst dir sagen, nicht?« Der Kleine hatte ihn umarmt und versucht, nicht zu weinen. Dabei war er erst fünf Jahre alt! Ein tapferer Junge. Bei dem Gedanken an seinen Sohn wurde ihm warm ums Herz, er seufzte tief und sorgenvoll. Es war ein paar Tage vor seiner Reise etwas geschehen, so entsetzlich, dass er dringend fortmusste, weg von alldem, um einen klaren Kopf zu bekommen. Da kam der Auftrag zur rechten Zeit. Agnes hatte ihm ins Gesicht gesagt: »Du kannst nicht davor weglaufen! Es ist passiert und vielleicht – wahrscheinlich! - wird es wieder vorkommen. Der Junge braucht dich jetzt. Ihm hat das doch noch viel mehr Angst gemacht als dir und mir!«

Aber Jakob hatte nur den Kopf geschüttelt und ihr das Versprechen abgenommen, niemandem etwas von dem, was sie gesehen hatte, zu erzählen.

»Kümmere dich um ihn und pass gut auf ihn auf. Wenn ich das Holz gekauft habe, sehen wir weiter!«

Dann war er fortgegangen. Hatte bei jedem Schritt mehr Abstand gewonnen, hatte dabei geweint, geflucht, mit seinem Herrgott gehadert.

»Warum? Warum muss dieser kleine Junge so leiden, so etwas Schreckliches erleben? Gibt es nicht genug Menschen, die so etwas verdient hätten? Du hast mir schon die Frau genommen und nun machst du auch noch meinen Sohn krank?« Die Tränen liefen ihm über das Gesicht, aber er scherte sich nicht darum. Er war allein hier auf weiter Flur, er konnte meilenweit sehen, niemand war bei ihm. Sein Gott womöglich ebenso nicht, er bekam keine Antwort auf seine bohrenden Fragen. »Habe ich nicht immer versucht, alles zu tun, was gut und recht ist? Jeden Sonntag gehe ich in die Kirche, bringe meinen Sohn mit, mein Gesinde. Ich gebe den Armen und helfe, wo immer ich kann, und nun ist Joni krank! Warum?«

Die Wut und die Verzweiflung hatten ihn vorangetrieben, sodass er den ersten Streckenabschnitt in sechs Stunden zurücklegte, sonst brauchte er wenigstens acht. Er kehrte in einen kleinen Gasthof ein, den er von früheren Reisen kannte, nahm ein spärliches Mahl ein und zog sich dann sofort zurück. In dieser Nacht schlief er das erste Mal seit dem Vorfall wieder tief und fest, die Erschöpfung zeigte Wirkung. Am nächsten Tag ging es ihm schon besser, er fand erneut Trost in der Landschaft, an der er sich zu keiner Jahreszeit sattsehen konnte. Jetzt, im Vorfrühling, sah die Welt frisch gewaschen aus, die Sonne schien, nur vereinzelt wuchs schon frisches Grün an den Zweigen der Büsche. Hier und da gab es große Flecken Schneeglöckchen, ab und zu sah er bereits das leuchtende Gelb des Löwenzahns. Aber die Bilder seines Sohnes, der sich in quälenden Krämpfen auf dem Boden wand, wie er den Kopf hin und her geschlagen hatte, dazu der starre Blick – das alles vermochte er nicht aus seinen Gedanken drängen.

»Früher haben die Menschen geglaubt, so jemand sei vom Teufel besessen«, hatte Agnes ihm voller Entsetzen zugeflüstert, als das Kind unvermittelt aufhörte zu krampfen, sich benommen an die Stirn fasste, dann zusammenrollte und sofort einschlief.

»Was ist es denn, das du von mir willst, Gott? Du kannst doch nicht wollen, dass ich dieses Kind verliere? Was willst du mir sagen?«, so fragte Sieker sich am zweiten Tag seiner Wanderung. Er hatte seine Frau Johanne verloren, als das Kind zwei Jahre alt war, vor drei Sommern, aber wenn er ehrlich mit sich war, hatte er sie nie geliebt. Es war eine arrangierte Ehe gewesen, Nachbarskinder, die einander schon früh versprochen worden waren, ihre Eltern hatten etwas Geld, sein Vater die gut gehende Schreinerei, so war für alle gesorgt. Er hatte sie gemocht, sie waren Freunde, ein prima Gespann. Sie vertrugen sich, ihr früher Tod hatte ihm leid getan. Liebe jedoch hatte er für sie nie gefühlt. Nur als sie ihm vor fast sechs Jahren zum ersten Mal seinen Sohn in den Arm gelegt hatte, da hatte er Glück empfunden, Liebe, Verantwortung, Stolz. Dieses überwältigende Gefühl hatte er immer, sobald er an den Kleinen dachte. Er merkte, dass er wieder zu weinen angefangen hatte.

»Joni ist noch so klein, Gott, lass ihn doch am Leben, bitte!«, betete er, und aus heiterem Himmel fiel ihm Hiob ein. Wie viele Töchter und Söhne waren ihm genommen worden? Haus, Hof, alles, was er hatte, war verloren gegangen und Hiob hatte nicht geheult wie ein Kleinkind! Und er, Sieker, zweifelte schon jetzt an seinem Gott? Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und brachte das vor ihm liegende Wäldchen zum Leuchten. »Der Junge hat einen Anfall gehabt. Einen! Danach hatte er ruhig geschlafen, am nächsten Tag mit großem Appetit gegessen und nicht mehr gewusst von dem, was geschehen war. Er war so fröhlich und munter gewesen wie sonst. Er ist klug, mutig und geschickt. Wenn er tatsächlich krank ist, wird ihm das helfen, damit umzugehen, und wenn das etwas Einmaliges war, um so besser. Am besten, wir vergessen das erst einmal und leben weiter wie bisher. Der liebe Gott wird es schon richten!«

Die Geschäfte mit Johannpeter dauerten nicht lange und obwohl der Waldbauer in einlud, über Nacht zu bleiben, war Sieker doch gleich wieder aufgebrochen. Er wollte nach Hause, zu seinem Kind.

Es war Nachmittag, als er erneut an dem Wäldchen vorbeikam, das gestern so bezaubernd im Sonnenlicht geleuchtet hatte, jetzt wirkte der Weg, der durch den Wald führte, beinah schon dunkel. Sieker hatte keine Angst, so oft war er nach seiner Lehrzeit gewandert, hatte im Freien genächtigt und die meisten Wege allein zurückgelegt. Er summte vor sich hin, hatte seinen Seelenfrieden halbwegs wiedergefunden und war eins mit sich und der Welt. Hinter dem Wald breiteten sich Felder aus, dort drüben war ein Bach. Er beschloss, seine Wasserflasche zu füllen. Bis zum Gasthof dauerte es vielleicht ein, zwei Stunden, er würde erst im Dunkeln eintreffen. Er setzte seinen Rucksack ab und legte den Wanderstock zur Seite, holte die Flasche heraus und kniete sich an die Bachböschung, um Wasser zu schöpfen, als er es hinter sich knacken hörte. Er drehte sich um, was aber in seiner knienden Stellung nur halb gelang, da waren sie schon über ihm. Es waren drei Männer, bärtig, ungepflegt. Er spürte die Schläge und Tritte, er roch ihre ungewaschen Leiber, er hörte, wie sie im Weggehen leise fluchten: »Verdammt, da ist ja nichts drin!«

Dann wurde er bewusstlos.

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