Читать книгу Verwobene Ornamente - Natascha Skierka - Страница 5
Mittsommernacht-Visionen
ОглавлениеGedanken sind wie Frequenzen. Schallwellen, die durch Raum und Zeit schwirren, wie die Musik aus einem Radio. Manchmal klassisch und erhaben wie Wagners Nibelungenepos auf der Suche nach dem verborgenen Schatz in all seiner Dramatik und manchmal, manchmal gleicht es dem quietschend krachenden Donnergewitter einer Death Metal Band, die ihrer ganzen Wut und Leidenschaft Ausdruck verleiht, um all die rohen gewaltigen Energien in verwirrend geordnete Töne zu verwandeln, die der ein oder andere als bloße Beleidigung gegenüber der Musik empfand. Aber all diese Töne waren vorhanden und alle hatten ihre Daseinsberechtigung, egal wer, was auch immer, sagen mochte.
Seufzend blickte Sonia in den Himmel. Der aquamarinfarbene Abendhimmel wurde von rubinroten Streifen durchzogen und die laue Luft wirbelte ihr Haar durcheinander, während Tränen über ihre Wangen liefen. Tränen puren Glücks und purer Verzückung, die ihr Herz schneller zum schlagen brachten und ihre Seele zum Glitzern, während sie sich lebendiger denn je fühlte. Beinahe wie ein Schmetterling der sich gerade erst aus seinem Kokon befreit hat, bereit für den Sommer seines Lebens.Blieb nur die Frage, ob es ein schöner Sommer mit strahlend schönem Wetter oder ein verregneter mit kalten Temperaturen und gebieterisch machtvollen Gewittern werden würde. Nicht dass sie etwas gegen Gewitter hatte. Oh nein, ganz gewiss nicht, fühlte sie sich doch immer ganz lebendig, wenn die Urgewalt von Mutter Erde allen zeigte, wer hier wirklich die Hosen anhatte und wer nicht, während die Zeit ihren gewohnten Gang ging und sich scheinbar nichts veränderte, obwohl sich doch alles veränderte, im Wimpernschlag eines einzigen Augenblickes.
Der kälter werdende Wind kroch unter ihre Kleider und ließ sie nach frischer belebender Luft riechen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und sie umarmte sich selbst, während sie an den Moment dachte, der ihr Leben in einen dieser Wimpernschläge verändert und ihr Leben auf einen ganz anderen, völlig neuen Kurs gebracht hatte. Ein Kurs, den sie ohne Maurice Dubois niemals eingeschlagen hätte.
Ohne ihn wäre sie niemals so mutig, so stark oder so kreativ gewesen.Mit ihm war sie es und mit jedem Augenblick, den sie beide miteinander verbrachten, spürte sie das es die absolut richtige Entscheidung gewesen war, ihn in ihr Leben zu lassen. Und das nun seit unglaublich vielen Momenten, das sie es beinahe schon nicht mehr zählen konnte, so unbedeutend bedeutend war die Zeit. Wie ein Stein der ins Wasser geworfen seine Wellen zog und seitdem alles und jeden beeinflusste, der ein Teil dieser Wellen wurde, sobald sie ihn erreichten. Egal wie klein oder unbedeutend bedeutend sie einen auf dem ersten Blick auch erscheinen mochten, irgendwann entwickelten sie sich irgendwo und irgendwie zu etwas wunderschönen.
Sie schloss die Augen und Bilder tauchten vor ihren inneren Augen auf. Bilder von längst vergangenen oder noch zu kommenden Ereignissen. Bilder die, wenn sie zu einem Film gehören würden, von surreal klingender Jahrmarktsmusik begleitet und in Slow Motion ablaufen würden.
Schwärze umgab sie. Blubbernd und warm wie eine im Kessel kochende Flüssigkeit, die sie jedoch nicht verletzte, sondern schützend, wie die Haut eines Eies unter der Schale bewachte. Sonia fuhr mit der Hand durch die Flüssigkeit, die wie ein durchsichtig, milchiger Stein schimmerte und einen von der Sonne geküssten Himbeerstrauch ähnelte.
Plötzlich blendete sie das Licht einer Lampe und ein paar grau-blauer Augen strahlten sie über einen faltig weißen Mundschutz an, als sie sie in dieser schönen und verrückten Welt willkommen hießen, bevor sie aus ihrem Blickfeld verschwanden und zwei behandschuhte Hände, ihren zitternden kleinen Körper auf den Bauch ihrer Mutter legten, deren aquamarinfarbene Augen sie voller Liebe anstrahlten, während die Energie zwischen ihnen pulsierte, die durch die Nabelschnur zu ihr hinüber schwappte, wie die Wellen des Meeres, das sie bis jetzt noch nicht gesehen hatte, bevor eine silbern glänzende Schere, die Schnur, aber nicht die unsichtbare Verbindung, zu ihrer Mutter trennte.
Freudiges Kinderlachen drang an ihre Ohren. Sonia drehte sich um, um zu sehen, woher es kam. Aber sie konnte niemanden entdecken, bis auf sich selbst, als sie in den großen Schlafzimmerspiegel ihrer Mutter blickte. Sie trug ein dunkles pinkfarbenes Kleid mit schwarzen Fransen am Saum und durch den Lichtstrahl der Sonne, welcher durch das geschlossene Fenster ins Zimmer fiel, tanzten freudige Staubteilchen, während sie sich, behangen mit selbst gemachten bunten Perlenketten, lachend und tanzend durch das Schlafzimmer ihrer Eltern bewegte.
Das schrille Geräusch einer Pausenglocke riss sie aus ihren Gedanken und sie blickte gedankenverloren auf ihre Hände hinunter. Ein kleiner geflochtener Kranz aus Zweigen befand sich darin und mit leichtem Bedauern, legte sie ihn auf die Fensterbank, um den Ruf der Glocke zurück ins Klassenzimmer zu folgen, wo sie all das Wissen der Welt versuchte in ihren Kopf zu bekommen. Eine Angelegenheit, die sich mal mehr oder weniger schwierig gestaltete und sich ihr ganzes Schulleben wie ein roter Faden durchzog. In der Zwischenzeit erwachte ihr Interesse an den verschiedensten Dingen, dem anderen Geschlecht und den Mysterien des Lebens, während sie versuchte heraus zu finden, wohin der Kurs ihres Lebens sie wohl brachte. Sie beendete die Schule, driftete mal hierhin und mal dorthin, während die Jahre ins Land zogen, ihre Freundinnen heirateten, Kinder bekamen und sie sich damit abfand, das sie niemals ihre andere Hälfte finden würde.
Bis Maurice Dubois plötzlich durch eine weit offene Tür in ihr Leben trat und ihr Herz für den Bruchteil einer Sekunde aussetzte, bevor es weiter schlug und einen neuen Abschnitt in ihren Leben einläutete.
Ein Abschnitt, der durch viele Verabredungen und hartnäckigem Werben seinerseits auf fruchtbaren Boden traf, nachdem sie lange und gründlich ihre Gefühle geprüft hatte, bevor sie beide voller Liebe und Leidenschaft zusammenkamen. Ihre Körper verbanden sich einem verworren wonnigen Tanz, während die hypnotisierende Macht ihrer beider Augen, sie wie die Wogen und Wellen des rauschenden Meeres der Liebe miteinander verbanden.Einer Liebe, die ihnen eines Tages Kinder bescheren würde, denen sie dabei halfen, den Tanz des Lebens zu erlernen, während sie eigene Erfahrungen sammelten und die als Eltern feststellten, das die Zeit plötzlich Beine bekam und die Kinder es nicht erwarten konnten, endlich erwachsen zu werden. Ihre Eltern löschten das Licht ihrer Lebenskerzen, nachdem ihre Kinder selbst die Liebe fanden und eigene Kinder in die Welt gesetzt hatten, während sie sich vitaler denn je fühlte und nicht glauben konnte, das diese Reise eines Tages ein Ende haben würde. Ihre Gedanken wurden melancholischer und es zerriss ihr beinahe das Herz, während die Tage dahineilten, als hätten sie keine Zeit und jeder Moment mit ihren Lieben kostbarer wurde, als alles Gold und Silber dieser Welt. Maurice und sie liebten sich bis zu ihrer letzten Stunde und sein Verlust riss ihr beinahe die Seele aus dem Leib und machte sie halb wahnsinnig. Ohne ihn war alles nur halb so schön und selbst der sonnigste Tag war von einer Tristesse erfüllt, die seine Schönheit zerstörte.
Allmählich spürte Sonia ihr Alter, obwohl ihr Körper vollkommen gesund war, während ihre Seele sich nach Maurice sehnte. Sie spürte seine Präsenz, und während die Jahre vergingen und ihre Enkel ihr Leben in die Hand nahmen, um ihren eigenen Kurs einzuschlagen, trommelte sie alle noch einmal zusammen, zu einem großen Mittsommerfest, das Maurice geliebt hätte. Musik spielte und die Violinen und Leiern schienen ihre sehnsüchtige Melancholie ausdrücken zu wollen, während ihre große Familie sich prächtig amüsierte. Sie aßen, tranken, tanzten und lachten, während sie sie still lächelnd beobachtete und sich klammheimlich zu Maurices wartender Seele stahl. Ihr Wiedersehen war ein Feuerwerk der Emotionen, bei dem sie fiel und fiel und fiel, bis sie sich wieder dort befand, wo ihre Reise begonnen hatte. Langsam und flatternd öffneten sich ihre Augen, während der Wind, kühle Frische in ihr Gesicht wehte, während ihr Haar ihr die Sicht nahm. Sie hob die Hand und schob es hinters Ohr, während sie seine Schritte im Gras hinter ihr hörte. Seine Arme legten sich um sie und seine Hitze wärmte sie, während die Nachwehen ihrer Vision immer noch in ihr nachhallten. Ihre Hände umschlossen seine Arme und klammerten sich beinahe an ihm fest, während sie sich fragte, welche der Dinge die sie für ihre Zukunft gesehen hatte, wirklich eintreffen würden. Sie schüttelte leicht ihren Kopf und sagte sich das es unwichtig sei, solange sie nur mit Maurice zusammen war und sie gemeinsam ihren Weg beschritten. Seite an Seite, als gleichberechtigte Partner, die alles teilten, was nicht niet- und nagelfest war. Endlich drehte sie sich zu ihm um und sah ihm lange in seine dunklen blauen Augen, die mitunter braun wirkten, je nach Lichteinfall und gab ihm einen sanften Kuss auf die Lippen.
„Ich liebe dich, Maurice“, flüsterte sie und seine Lippen verzogen sich zu einem freudigen Lächeln.
„Ich liebe dich mehr“, erwiderte er und sie runzelte, wie immer mit der Stirn, bevor sie seufzend mit dem Kopf schüttelte und diesen an seine Schulter legte.
„Ich liebe dich“, wisperte sie kaum hörbar und holte tief Luft, während sie froh darüber war, das ihr ganzes Leben noch vor ihnen lag, darauf wartend von ihnen beiden gestaltet zu werden. Die Nacht gewann endgültig über den Tag und die Sterne wachten funkelnd und zwinkernd über sie beide und ihre unendlich große und unendlich tiefe Liebe.