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Wo Mädchen verschwanden


Malina!«

»Malina!«

»Himmel noch mal, Malina!«

Es fühlte sich an, als ob ich gerade erst meine Augen geschlossen hätte, als mich die Stimme von Irena weckte. Ich blinzelte, rieb mir zaghaft über die Augen und wagte einen Blick unter der Decke hervor. Hatte ich verschlafen?

»Malina!« Völlig außer Atem kam Irena die breiten Stufen hoch. Ihr Haar war zerzaust und es wirkte beinahe, als sei sie gerade erst aus dem Bett beziehungsweise aus dem Stuhl hochgeschreckt.

»Was ist los?«, fragte ich und rieb mir erneut über die Augen.

»Sie haben wieder einen gefunden.« Irena schüttelte den Kopf.

Nun war ich endgültig wach. Ohne ein weiteres Wort von Irena erhob ich mich, zog meine einfache graue Jacke über das Schlaf­gewand und rannte die Stufen hinunter. Meine nackten Füße huschten über die hölzernen Treppenabsätze und beinahe wäre ich in Edmund gerannt. Er stand im Eingang unseres Hauses. Noch immer trug er seine Wachmannsuniform und das dunkle Haar war perfekt frisiert. Auch seine Stiefel glänzten und seine Uniform war sauber zugeknöpft. Doch selbst diese Perfektion und dieser Schein konnten die Wahrheit nicht verbergen. Edmund hatte denselben nachdenk­lichen Blick aufgesetzt wie Irena vor wenigen Sekunden.

»Wo?«, fragte ich einfach und drängte mich an ihm vorbei.

»Unten am Meer. Sie haben ihn bereits weggeschafft«, beantwortete er meine Frage. Ich schloss die Augen und trat nun endgültig hinaus ins Freie. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und es roch noch nach Morgentau. Ein kühler Wind blies mir durchs Haar und ließ mich trotz meiner Jacke frösteln.

»Ich denke, wir sollten uns langsam Sorgen machen.« Irena erschien hinter dem Wachmann und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich nickte. Es war bereits der vierte Todesfall in diesem Monat und so langsam musste etwas geschehen. Auf einmal erschien das Bild des blonden Jungen vor meinen Augen. »Wie sah er aus?«, fragte ich zaghaft und hoffte, dass nicht er der Tote war.

»Ein älterer Mann mit gräulichem Haar. Er war auch Fischer.

Wie die anderen.«

Wie die anderen … Immer wieder hatte man unten am Meer tote Männer gefunden. Sie alle hatten als Fischer gearbeitet und waren in den hohen Wellen ertrunken, zumindest deutete alles darauf hin.

»Das liegt an der Geldnot. Die Abgaben werden immer höher und irgendwann fahren die Fischer auch nachts hinaus, um irgendwie an ihr Geld zu kommen.« Irena schluckte, als sie die Worte aussprach, und schüttelte dann traurig den Kopf. »Diese ständige Suche nach Geld, sie bringt uns alle noch ins Grab.«

Wieder nickte ich. Wer der Mann wohl gewesen war? Hatte er Familie und Kinder gehabt? Ich wollte mir seine Geschichte gar nicht erst ausmalen.

»Ich werde wieder hinuntergehen und schauen, ob ich etwas helfen kann«, sprach Edmund und verneigte sich leicht.

»Ich komme mit!«, rief Irena und fuhr sich eilig durch ihre dichte Mähne. »Noch einmal sehe ich nicht tatenlos zu.« Mit energischen Schritten lief sie die Treppe hoch.

»Dann werde ich wohl warten«, seufzte er und kratzte sich verlegen am Kopf. Er wusste nur zu gut, dass es nichts brachte, Irena zu widersprechen. Sie hatte einen sturen Kopf und ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen.

Es dauerte nicht lange, da erschien Irena wieder bei der Treppe. »Ich bin gleich wieder zurück, schlaf du ruhig noch etwas.« Sie lächelte, ehe sie zusammen mit Edmund das Haus verließ.

Erst jetzt fiel mir diese Stille auf. Im ganzen Haus war es ruhig, kein einziger Laut drang von draußen herein. Ich seufzte und gähnte noch einmal herzhaft. An Schlaf konnte ich nun nicht mehr denken. Ich war zwar noch müde, aber wenn ich mich jetzt noch einmal hinlegen würde, dann würden meine Gedanken wegen des Toten ständig abschweifen. Also ging ich in die Küche und suchte nach etwas Essbarem. Viel gab es nicht. Die Suppe von gestern stand noch dort, aber inzwischen war nicht mehr viel davon übrig. Daneben lag noch ein Stück Brot, dem ich jetzt meine Aufmerksamkeit schenkte. Ich brach es in der Mitte auseinander und wollte gerade einen Bissen nehmen, als mir etwas anderes auffiel. Ein brauner Umschlag lag auf dem Boden. Womöglich hatte ihn ein Windstoß vom Tisch befördert, immerhin stand das Fenster offen. Neugierig hob ich ihn auf. Das Papier war ganz rau und vergilbt, als ob der Brief schon eine Weile dort unten läge. Dort, wo ich den Umschlag berührt hatte, kribbelten meine Finger ganz leicht. Überrascht ließ ich ihn wieder fallen. Nun lag er auf der anderen Seite und ich entdeckte auch, an wen er adressiert war. Malina

Ein Brief für mich? Ein ungutes, beinahe schon beängstigendes Gefühl kroch meinen Rücken hinauf. Ich hatte bisher noch nie einen Brief bekommen, höchstens von Irena selbst, aber das hier war nicht ihre Handschrift. Ich legte das Brot beiseite und hob den Brief erneut auf. Diesmal blieb das Kribbeln aus. Er war verschlossen durch ein blutrotes Siegel mit dem Buchstaben M. Ganz vorsichtig durchbrach ich das Siegel und öffnete den Umschlag.

Eine Einladung in das Reich Malufra. Mit dieser Einladung ist es Euch gestattet, die Königin höchstpersönlich zu besuchen und auf Kosten des Königreiches einige Tage in meiner Stadt zu verbringen.

Die Königin

Ich las den Brief immer und immer wieder, machte mir alle möglichen Gedanken dazu. Warum war diese Nachricht an mich gerichtet? Warum sollte die Königin mich einladen?

Und während ich dasaß und meinen Gedanken folgte, vergaß ich komplett die Zeit.

»Was ist das?«

Ich keuchte auf und drehte mich ruckartig um. Irena stand hinter mir. Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne hinter das Ohr und blickte mich dann auffordernd an.

»Ein Brief mit einer Einladung nach Malufra«, sprach ich leise.

Nun weiteten sich ihre Augen. »Ein Brief mit einer Einladung nach Malufra?«, wiederholte sie ungläubig. Langsam schritt sie näher und nahm mir den Zettel aus der Hand.

So standen wir eine Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam. Irena musste den Brief inzwischen schon Dutzende Male gelesen haben, schwieg aber weiterhin.

»Bestimmt ein Scherz.« Ich zuckte mit den Schultern und nahm mein Brot wieder in die Hand.

»Leider nicht, das hier ist wirklich eine Einladung zur Königin.« Sie schüttelte den Kopf und setzte sich dann auf einen der Holzstühle rund um den Tisch. Sie deutete auf das Siegel. »Solch ein Siegel besitzen nur adelige Menschen und auch den Initialen nach zu urteilen, hat die Königin von Malufra den Brief unterzeichnet. Nur, warum sollte sie dir so etwas schicken?« In ihrem Blick lag eine Art Vorwurf.

»Ich weiß es …« Ich wollte gerade meinen Satz mit dem Wort nicht beenden, als mir das Märchen mit den Wünschen in den Sinn kam. »Ich habe es mir gewünscht.« Nun setzte auch ich mich auf einen der Stühle. Mein Herz pochte und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meiner Brustgegend aus.

»Malina …« Irena holte tief Luft und schluckte ihren Ärger hinunter. »Zu welchem Preis?«

Nun sagte ich nichts mehr, da ich wirklich nicht wusste, was ich dazu noch sagen könnte. Ich kannte den Preis nicht und vielleicht war das der Grund für dieses unangenehme Ziehen in der Nähe meines Herzens.

»Ich weiß, es sind nur Märchen, aber in jedem Märchen steckt ein Funke Wahrheit.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte nur, dass du mir eines versprichst.«

»Was?«, fragte ich zögerlich.

»Dass du nicht dorthin gehst. Du bleibst hier und folgst der Einladung nicht!« In ihrer Stimme lag ein warnender Unterton. Ich wusste, sie war nicht wütend, sie machte sich bloß Sorgen.

»Und was, wenn das eine perfekte Möglichkeit wäre, um der Königin von unseren Masken zu erzählen? Und vielleicht …« Ich holte erst tief Luft, bevor ich den Satz zu Ende sprach, denn ich wusste, Irena würde nicht begeistert darauf reagieren. »Vielleicht würde ich irgendwo dort draußen auch einen Hinweis auf meine Herkunft finden. Ich kenne meine Geschichte immer noch nicht und hier kann mir keiner helfen.«

»Malina«, seufzte sie und starrte aus dem Fenster hinaus. »Die Königin versteckt ihr Gesicht nicht umsonst hinter Masken. Sie ist verrückt und in ihrem Reich gelten ihre Regeln. Man kann dich nicht vor ihr schützen, ich kann dich nicht vor ihr schützen.«

»Und wenn du mitkommst?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.

»Ich betrete den Wald nicht, meine Welt ist hier, und darum möchte ich, dass du mir versprichst, dass du hierbleibst.«

»Es wäre nur für eine kurze Zeit!« Ich spürte, wie dieses Ziehen, dieser Schmerz sich an die Oberfläche kämpfte und in Form von Tränen meine Wange hinunterrann.

»Malina!« Die Stimme von Irena wurde immer lauter. »Ich will nicht, dass du gehst.«

»Und warum?« Meine Stimme bebte. Es war nicht gut von mir, dass ich mich wie ein kleines Kind benahm. Irena war für mich da gewesen, sie hatte sich um mich gekümmert, und sie war es auch, die mir ein Zuhause gegeben hatte. Nur genau darum musste ich nach Malufra. Ich wollte ihr helfen und ich wollte endlich erfahren, wer die Malina von früher war.

»Weil du die Welt dort draußen nicht kennst.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Du verstehst nicht, zu was Menschen fähig sind«, fügte sie hinzu und ihr Blick glitt wieder hinüber zu dem Fenster. »Und genau darum möchte ich jetzt, dass du mir versprichst, dass du hierbleibst.«

Ich schwieg und wischte mir mit dem linken Handrücken die verbliebenen Tränen aus dem Gesicht.

»Malina …«

»Ich verspreche es«, sagte ich enttäuscht. Ich stand wieder auf und ließ den Brotlaib auf dem Küchentisch. Der Appetit war mir vergangen.

»Es ist zu deinem Besten«, fügte Irena besänftigend hinzu, nur war ich bereits aus der Tür hinaus verschwunden. Mir war es egal, dass ich nur eine einfache Jacke trug und darunter noch mein Schlafgewand. Ich brauchte einfach einen Moment für mich. Diese Einladung war höchst sonderbar, und gleichzeitig war sie eine gewaltige Chance. Wenn die Königin erst einmal sehen würde, was für Masken Irena herstellte, dann würde sie mit Sicherheit welche kaufen. Dann hätten wir wieder mehr Geld und womöglich würde dann dieser Ausdruck aus den Augen von Irena verschwinden. Sie brauchte das Geld. Damit könnte sie auch wieder den Armen helfen und so würden solche schrecklichen Dinge wie mit dem Fischer hoffentlich nie mehr passieren.

Als ich spätabends wiederkam, waren alle Lichter gelöscht. Irena war nirgends zu sehen, aber ich brauchte sie nicht zu suchen, ich wusste auch so, dass sie heute wieder einmal nach langer Zeit in ihrem Zimmer schlief. Wenn man Masken herstellte, dann brauchte man einen ruhigen Verstand. Denn Masken formten sich nach den Gedanken derer, die sie herstellten. Dies hatte Irena mir einmal erklärt. Darum stellte sie keine her, wenn sie traurig, wütend oder enttäuscht war.

Der Brief von heute Morgen lag immer noch auf dem Küchentisch. Ich setzte mich nieder und nahm ihn in die Hände. Wenn ich gehen würde, würde ich Irena verletzen. Wenn ich blieb, dann wäre sie glücklich. Aber was wollte ich?

Der Dieb ohne Herz

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