Читать книгу Der Dieb ohne Herz - Ney Sceatcher - Страница 11
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Wo Entscheidungen Herzen brachen
Ich blickte noch einmal zurück zu dem Haus, das in all den Jahren mein Zuhause gewesen war. Irena schlief bestimmt noch, und wenn sie aufwachte und bemerkte, dass ich fehlte, dann würde sie zuerst wütend werden. Nach der Wut käme dann schon bald die Enttäuschung. Irgendwann würde sie dann den Zettel auf dem Küchentisch sehen, auf dem stand, dass ich gegangen war. Ich hatte es ihr versprochen und ich hatte mein Versprechen gebrochen.
Ich musste es tun. Ich drehte mich wieder in die Richtung des Waldes und lief los. Ich hatte gestern kein Auge zugetan und hatte stattdessen eine kleine Reisetasche mit den wichtigsten Dingen gepackt. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, aber wenn ich hierbleiben würde, würde ich niemandem helfen.
Je näher ich den dunklen Bäumen kam, umso kräftiger blies der Wind. Er war wie eine Art Warnung.
Ich zog den Umhang enger um meine Schultern und die Kapuze etwas tiefer ins Gesicht. Der Eingang des Waldes wurde von zwei knorrigen Eichen gekennzeichnet. Sie hatten dicke Stämme, und unzählige Äste und Blätter bildeten ihre Baumkronen. Wie zwei Wächter standen sie da und schienen mich zu beobachten. Trotzdem lief ich zielstrebig weiter, immer weiter in die Dunkelheit des Waldes hinein. Es war zwar helllichter Tag und doch schien es, als ob das Licht nicht durch die Blätterdecke hindurchdringen würde.
Es war nicht nur die Beinahedunkelheit, die mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ, es war die Stille, die mir Unbehagen bereitete. Ich hörte nur meine eigenen Schritte auf dem Waldboden. Selbst das Rauschen des Windes war verschwunden. Ich verdrängte die Angst und lief immer weiter geradeaus. Solange ich nirgends abbog oder vom Weg abkam, konnte ich mich auch nicht verirren.
So lief ich, bis meine Beine schmerzten und sich Blasen an meinen Füßen bildeten. Inzwischen konnte ich nicht einmal mehr sagen, wie viel Zeit vergangen war. Meine Augen hatten sich an die schwachen Lichtverhältnisse gewöhnt. Wirklich viel zu sehen gab es nicht. Wald, so weit das Auge reichte. Ich seufzte, lehnte mich an den Stamm eines Baumes. Langsam rutschte ich daran herunter und legte meinen Kopf auf die Knie. Ich war müde vom Laufen und auch hungrig. In meiner Tasche hatte ich zwar eine Notration, aber wer wusste schon, wie lange ich mich hier aufhalten würde. Wenn ich nur …
»Drei Meter groß war er!«
»Deine Nase wird nur noch länger, wenn du weiterhin so einen Unsinn redest.«
Ich erstarrte. Wer war das? Ich dachte, hierher würden sich keine Menschen verirren. Eilig kroch ich hinter den Baum und duckte mich etwas. Die Kapuze rutschte mir dabei wieder nach hinten.
»Wenn ich es dir sage! Du glaubst mir so oder so nichts.« Die Stimme gehörte einem Mann, während die andere unbekannte Person eine Frau sein musste.
»Das tue ich tatsächlich nicht, du erfindest ständig irgendwelche Märchen, um andere zu beeindrucken«, antwortete die Frau. Die beiden kamen immer näher. Sosehr ich mich auch anstrengte, ich erkannte nicht wirklich viel. Was zum einen an den schlechten Lichtverhältnissen und zum anderen an ihrer Kleidung lag. Sie trugen Kapuzen, die sie sich bis ins Gesicht gezogen hatten, und dunklen Stoff. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, fast lautlos schlichen sie über den Waldboden, und würden sie sich nicht miteinander unterhalten, so hätte ich sie gar nicht gehört.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was, wenn sie mich entdecken würden?
»Und funktioniert es?«, fragte der Mann und lachte. Er war größer als die Frau und hatte breitere Schultern. Außerdem trug er ein Schwert um die Hüften, während es aussah, als ob seine Begleiterin unbewaffnet unterwegs war.
»Was?«, fragte die Frau. Sie wirkte etwas genervt. Ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie sie unter der Kapuze ihre Augen verdrehte.
»Das mit dem Beeindrucken.« Er blieb stehen. Nun standen die beiden im Grunde direkt vor meinem Baum und ich wagte kaum noch zu atmen.
Sie murmelte irgendetwas, was ich nicht wirklich verstand. Ich wandte den Kopf ab und duckte mich noch etwas mehr Richtung Waldboden. Sobald die beiden verschwunden waren, würde ich rennen. Ich würde meine Beine in die Hand nehmen und um mein Leben rennen. Mein einziger Schutz war das stumpfe Küchenmesser in meinem Stiefel. Gegen ein Schwert würde ich damit wohl nicht ankommen, zumindest nicht in diesem Leben.
»Irgendetwas ist eigenartig.« Die Stimme des Mannes ließ mich zusammenzucken.
»Es ist nichts eigenartig«, seufzte die Frau und lehnte sich nun direkt an den Baum, hinter dem ich kauerte.
»Hörst du mir überhaupt zu?« Jetzt wirkte er genervt.
»Bis auf das Mädchen hinter dem Baum gibt es hier aber nichts Eigenartiges«, schnurrte sie.
Ich schloss die Augen für einen kurzen Moment, holte tief Luft, öffnete sie wieder und stieß mich blitzschnell vom Boden ab. Dann rannte ich los.
»Jetzt hast du sie erschreckt«, hörte ich die Stimme des Mannes aus weiter Ferne. Doch ich kümmerte mich nicht darum und sprintete immer weiter. Der Boden zu meinen Füßen war uneben und ich geriet immer wieder ins Straucheln, fing mich so schnell es ging wieder. Zweige streiften mein Gesicht und verfingen sich in meinen Haaren. Ich keuchte und meine Lunge schien nach Luft zu schreien. Für gewöhnlich rannte ich nicht durch unebene Waldgebiete. Erst als ich mir sicher war, dass die beiden mir nicht folgten, hielt ich an. Ich kauerte auf dem Boden, inmitten von moosbewachsenen Steinen, und holte gierig Luft. Mein Mund fühlte sich staubtrocken an und meine Zunge klebte an meinem Gaumen. Ich schnappte mir meine Tasche und suchte nach dem kleinen Wasserschlauch. Gierig trank ich einige Schlucke, ehe ich wieder lauschte. Nichts war zu hören.
Ich stand wieder auf und setzte meinen Weg fort. Ich konnte nur hoffen, dass die beiden kein Interesse an mir hatten und ihren Weg in die andere Richtung fortsetzten.
Nach einiger Zeit kam der Regen. Die Blätter der Bäume fingen das meiste Wasser auf, aber es reichte nicht für einen vollständigen Schutz. Das wenige Licht wurde immer schwächer, da sich nun auch noch dicke Wolken vor die letzten Sonnenstrahlen geschoben hatten. Wasser durchnässte meinen Umhang und Kälte breitete sich in meinem Körper aus. Ich lief weiter, presste die Tasche an meine Kleidung und strich mir das nasse Haar aus dem Gesicht. Der Brief der Königin lag sicher verwahrt in der Tasche. Ich hatte ihn in ein kleines metallenes Kästchen gepackt und einen alten Schal darum gewickelt. Das Wasser sollte ihn also nicht erreichen.
Der Regen wurde immer kräftiger und nun blies auch noch ein störrischer Wind umher. Dieser zerrte die letzten Kräfte aus meinem Körper. Ich geriet ins Straucheln, stützte mich an einem Baumstamm ab und wollte weitergehen. Auf einmal schlang sich etwas um meinen Knöchel. Erschrocken schrie ich auf. Mein Schrei wurde vom Regen und dem Wind erstickt. Entsetzt blickte ich hinunter an meinem Körper, wo sich dicke Wurzeln um meinen Fuß wanden. Ich warf mir die Tasche über die Schulter und zog mit beiden Händen an der Wurzel. Sie lockerte sich etwas, sodass ich meinen Fuß befreien konnte.
Ehe ich erleichtert einen Schritt zurückmachen konnte, kroch bereits die nächste über meine Beine und wickelte sich darum wie eine Schlange um ihre Beute. Ich zog und zerrte, nun kamen neue Wurzeln und schlangen sich um meine Handgelenke. Keuchend gab mein Körper nach und ich fiel auf den harten Waldboden. Die hartnäckigen Dinger wanden sich um meinen Körper, zogen an mir, während ich kaum noch Luft bekam. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen und ich war mir nicht sicher, ob dies an der Anstrengung oder an dem prasselnden Regen lag, der mir die Sicht nahm.
In meinen Gedanken tauchten Bilder von Irena auf, wie sie verzweifelt nach mir rief. Ihre Hände umklammerten eine Maske, während sie in meinem leeren Zimmer stand.
Ich schüttelte den Kopf. Wut kochte in mir. Mit letzter Kraft richtete ich mich auf und zerrte die Wurzeln weg von mir. Ich schrie und zog, kämpfte dagegen an. Die engen Fesseln lösten sich. Erleichtert rappelte ich mich auf, strauchelte wieder, aber gab nicht auf. Ich lief wieder zurück zu dem Waldweg und ballte die Fäuste. Dann knickte ich vor Erschöpfung endgültig ein.