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I. Samstag, 27. November: Nevershoutnever - 30 days

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„Mausi, bist du dann fertig?“, rufe ich frohgelaunt in die Wohnung hinein.

Yvette steckt ihren Kopf aus der Schlafzimmertür in den Flur und lächelt mich verständnisheischend an. „Bin gleich fertig. Nur noch fünf Minuten. Versprochen.“

Ihr Kopf verschwindet wieder, ich atme tief aus, schaue auf meine Uhr und ziehe langsam die Jacke wieder aus. Während ich in Gedanken die Dinge durchgehe, die ich in den nächsten 20 Minuten noch erledigen könnte, streife ich meine Winterschuhe von den Füßen und stelle sie zurück ins Schuhregal. Dann schlurfe ich missmutig in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen.

Ich habe gerade das Wasser in die Kaffeemaschine gefüllt, als ich von einem neuerlichen Ruf aus meinen Gedanken aufgeschreckt werde. „Klausi, kommst du mal kurz?“

Ich bin überrascht, wie kurz diesmal fünf Minuten waren, brumme: „Komme ja schon.“, und stapfe wieder aus der Küche hinaus, über den Flur und ins Schlafzimmer. Dort erwartet mich Yvette, die mir mit von Verzweiflung gezeichneter Miene zwei Pullover entgegenhält. „Welcher passt besser zu meiner Jeans?“, fragt sie mich in einem Tonfall, als würde ihr Leben davon abhängen, dass ich nun die richtige Entscheidung treffe. Ich kneife die Augen zusammen und versuche ernsthaft, Yvettes Dilemma zu verstehen. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Pullovern scheint mir das blaue Muster im Schulterbereich des einen zu sein. Ansonsten sind beide ziemlich schwarz, ziemlich langärmlig und ziemlich aus Wolle. Und sie waren beide ziemlich teuer, daran kann ich mich noch erinnern.

Da Yvette auf jeden Fall eine Entscheidung von mir erwartet, zeige ich spontan auf den Pullover mit dem blauen Muster. Der gefällt mir einfach besser, ohne dass ich das jetzt begründen könnte. „Der passt gut.“, gebe ich meine Expertenmeinung zu Protokoll.

Yvette schaut sich den Pullover noch einmal genau an. „Bist du sicher. Ist nicht der Farbton anders als der meiner Jeans?“ Skeptisch mustert sie meine Entscheidung.

Ich schaue noch einmal genau hin, kann aber keine Farbnuancenabweichungen erkennen. Dennoch weiß ich aus jahrelanger Erfahrung, dass ich in Diskussionen über Mode und Geschmack nur verlieren kann. „Dann nimm halt den anderen, wenn du dir nicht sicher bist.“, sage ich deshalb gönnerhaft. Wider besseres Wissen hoffe ich, damit galant aus der Nummer heraus gekommen zu sein und Yvette außerdem darin bestärkt zu haben, dass sie für sich die richtige Entscheidung treffen wird.

Während ich mir innerlich für so viel Cleverness noch auf die Schulter klopfe, begutachtet Yvette wieder kritisch die beiden Pullover. „Du hast aber doch gerade gesagt, der hier“ - dabei zeigt sie auf das blau gemusterte Exemplar - „würde besser passen. Warum sagst du das, wenn du es gar nicht meinst?“

„Mein ich doch.“, gebe ich kurz angebunden zurück. Verdammt! Jetzt geht das wieder los. Auch nach fünfzehn Jahren Ehe habe ich noch keine Ahnung, was meine Frau in solchen Situationen von mir hören will.

„Ja, aber jetzt hast du doch gesagt, ich soll den anderen nehmen.“

Ich sacke innerlich einige Zentimeter zusammen. Ja, was soll ich denn sagen? Das es mir egal ist, welchen Pullover sie anzieht, weil sie in beiden gut aussieht? Funktioniert nicht, das habe ich schon oft probiert und immer stehe ich am Ende als der unsensible Klotz da, der kein Einfühlungsvermögen in das Seelenleben seiner Frau hat. Hätte ich gleich den schwarzen nehmen sollen? Dann wäre ich vermutlich wieder der biedere Langweiler gewesen, der nichts Extravagantes wagt. Soll ich jetzt umschwenken und damit zugeben, dass es mir letztendlich trotzdem egal ist, Hauptsache wir kommen endlich los?

„Nein, nimm den blauen. Der Farbton passt schon.“, erwidere ich in einem plötzlichen Anfall gekränkten Entscheiderstolzes.

Wieder hebt Yvette den Pullover mit der blauen Schulter vor ihr Gesicht. „Bist du dir ganz sicher? Ich könnte sonst auch nochmal den grünen von Tante Elfriede probieren.“

Oh Gott, bloß das nicht! Es ist schon schwer genug, wenn zwei Kleidungsstücke zur Wahl stehen, ein drittes in den Pool zu werfen, wäre der sichere Tod für unsere Einkaufstour. „Von mir aus kannst du auch noch zehn weitere Pullover anprobieren.“, höre ich mich wie aus weiter Ferne selbst rufen und spüre mit einigem Befremden, dass ich meine Arme in gespieltem Entsetzen nach oben reiße.

Yvettes blaue Augen starren entsetzt unter ihrem roten Pony hervor zu mir herüber. Ihre Unterlippe beginnt leicht zu beben.

Bevor sie etwas sagen kann, gelingt es mir irgendwie, wieder Herr über meinen Verstand zu werden. „Ich bin ganz sicher. Der da ist super.“, sage ich und deute auf den Pullover mit der blauen Schulterpartie. Es kostet mich einige Selbstbeherrschung, ein „Und jetzt zieh ihn an, wir wollten schon vor einer halben Stunde los.“ herunterzuschlucken.

Yvette zieht einen Schmollmund und sagt in nicht ganz freundlichem Ton: „Ihr Männer versteht einfach nicht, wie wichtig das für uns Frauen ist. Schließlich wollen wir auch für euch gut aussehen.“

Ich kann ihrer Logik nicht ganz folgen, immerhin hatte ich doch klar gesagt, welchen Pullover ich schön finde, aber ich weiß, dass es Yvette wichtig ist, immer gut auszusehen, wenn sie aus dem Haus geht. Also mache ich einen Schritt auf sie zu, setze ein versöhnliches Lächeln auf und nehme sie fest in den Arm. „Ich weiß doch.“, brumme ich. „Aber du siehst immer gut aus, sogar wenn du nichts anhast.“

Mit gespieltem Entsetzen verpasst sie mir einen sanften Schlag auf die Brust. „Du bist unmöglich.“ Sanft windet sie sich aus meiner Umklammerung. „Zieh dich schon mal an. Ich bin gleich da.“, sagt sie und schiebt mich in den Flur hinaus.

Ich bin mir nicht ganz sicher, wie lange dieses gleich nun wieder dauern wird, ziehe aber wie befohlen meine Schuhe wieder an. Kaum bin ich in der Küche, steht Yvette auch schon im Türrahmen, gewandet in ein grünes Kleid und dicke schwarze Strumpfhosen. Oh Gott, wie ich dieses Kleid hasse. Warum habe ich es noch nicht übers Herz gebracht, es in einer unbeobachteten Minute aus der Wohnung zu schmuggeln und dem Kleidercontainer zu überantworten? Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen wartet sie offenbar auf einen Kommentar von mir.

„Schön!“, sage ich und versuche, ein bisschen Begeisterung in dieses Wort zu legen.

Inzwischen ist der Kaffee durch die Maschine gelaufen und ich fülle zwei Tassen.

„Kaffee?“

„Wollten wir nicht los?“, fragt sie mich mit verwundertem Blick.

Ich zucke hilflos mit den Schultern. „Naja, der letzte Kaffee ohne Weihnachtsschmuck und Gebäck. Der geht schon noch, oder?“

„Apropos. Hast du jetzt deine Liste fertig?“, fragt sie mich mit gehässigem Unterton und lässt sich am Küchentisch nieder.

Ich krame bewusst umständlich in meinem Rucksack und befördere einen bereits abgegriffenen Zettel zutage. „Ja, hier.“ Triumphierend halte ich meine Beute in die Höhe. „Ich hab alles aufgeschrieben. Endlich können wir Stollen kaufen und gefüllte Lebkuchenherzen und Sterne-Brezeln-Herzen-Packungen…“

„Wieso endlich?“, fällt Yvette mir ins Wort. „Die Sachen liegen doch schon seit Monaten in den Regalen rum. Du kaufst sie bloß nie.“

„Natürlich kaufe ich die nicht!“, erwidere ich aufgeregt. „Was soll denn der Blödsinn? Weihnachtsleckereien im September. Das kauft kein Schwein. Weihnachtsgebäck gehört in den Advent und sonst nirgendwo hin!“

„Und warum, denkst du, stehen sie dann schon ab September in den Supermärkten rum, wenn sie keiner kauft?“

„Aha.“, ich hebe den Zeigefinger. Jetzt habe ich Yvette bei meinem Lieblingsthema. „Alles Auswüchse von Konsumterror und Bevormundung. Der Handel appelliert an unsere niederen Instinkte und will uns weismachen, dass wir es schon im September gar nicht abwarten können und deshalb unbedingt schon vor dem Advent Weihnachtsgebäck kaufen müssen. Dann kaufen wir im Advent genauso viel wie sonst und essen vorher auch schon was. In der Konsequenz kaufen wir also mehr und werden noch etwas fetter, wodurch unser Kalorienbedarf steigt und wir noch mehr kaufen müssen.“ Mit einem siegesgewissen Lächeln schaue ich ihr in die Augen. Auf dem Gebiet schlägt mich keiner.

„Und du meinst, alle anderen sind so doof und durchschauen das nicht?“

„Ähm, ja, genau.“ Jetzt hat sie mich doch etwas aus dem Konzept gebracht. Ganz miese Schiene, alle anderen auf ihre Seite zu ziehen und mich rhetorisch zu isolieren. „Ja, das meine ich. Und weißt du was - es macht mich krank.“

„Es ist alles eine Frage von Angebot und Nachfrage. Das haben sie erst gestern im Radio gesagt. Die Leute wollen schon im September Weihnachtssachen kaufen.“, belehrt mich Yvette nun.

„Genauso wie die Frühlingsmode im Januar und dass man im August schon keine Sandalen mehr kaufen kann? Wollen das die Leute auch?“, kontere ich aufgebracht.

Yvette winkt verächtlich ab. „Jetzt lenk mal nicht vom Thema ab. Du hättest schon längst Weihnachtssachen kaufen können, aber aus purer Verbohrtheit hast du dich bis heute geweigert, es zu tun. Und deshalb müssen wir jetzt, einen Tag vor dem ersten Advent, los, um alles auf deiner Liste zu besorgen.“

Ich zucke trotzig mit den Schultern. „Das ist so Tradition bei uns. Und das sollte es bei viel mehr Leuten sein. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich immer mit Oma kurz vor dem ersten Advent einkaufen war. Diese Farben, diese Vorfreude, diese Gerüche.“ Ich schwebe in einer nostalgischen Wolke davon.

„Du willst mir doch nicht erzählen, dass du die Lebkuchen durch die Verpackung durchgerochen hast, oder? Das einzige, was damals gemüffelt hat, waren wahrscheinlich deine Socken.“ Mit spitzer Nadel lässt Yvette meine Wolke platzen wie eine Seifenblase an einem Tannenast.

„Müssen wir da wirklich rein?“, fragt Yvette mit leicht verzweifelter Tonlage in ihrer Stimme. Ich mustere das Gewimmel vor dem Rewe-Markt. Menschenmassen schieben und stoßen sich durch die viel zu enge Tür, deren Automatik hin und wieder den sinnlosen Versuch unternimmt, sich wenigstens ganz kurz zu schließen und ein bisschen warme Luft im Markt drin zu behalten. Aber gegen diese Menge an mehr oder weniger fröhlichen Voradventseinkäufern kommt sie nicht an. Ich schaue kurz auf meine Uhr.

„Ist erst kurz vor vier. In den nächsten drei Stunden wird es nicht besser. Am besten, wir bringen es gleich hinter uns.“

„Na, dann mal los!“, seufzt Yvette resigniert und fixiert den Eingang auf der Suche nach einer Lücke, durch die wir uns kämpfen könnten. Als erfahrener Einkäufer wende ich meinen Blick zuerst dem Gitter mit den Einkaufswagen zu. Alles leer - natürlich. Ich lasse meinen Blick über die Menschenmenge schweifen und sehe einen Mann, der versucht, einen leeren Wagen gegen den Strom der Menge zurück zum Abstellplatz zu schieben. Zielsicher halte ich auf ihn zu, Yvette im Schlepptau.

Es sind nur noch wenige Meter bis zu meinem Zielobjekt, als ich aus den Augenwinkeln sehe, dass wir nicht die einzigen sind, die auf den Mann zusteuern. Eine große, dicke Frau schiebt sich rücksichtslos durch die schwer bepackten Grüppchen links von uns. Ich beschleunige meine Schritte, doch sie scheint uns bereits bemerkt zu haben. Flüche und Beschimpfungen, die hinter ihr herfliegen, lassen uns erahnen, mit welchem Einsatz sie versucht, uns zuvorzukommen.

Offensichtlich habe ich zu sehr auf unsere Konkurrentin geachtet, denn plötzlich stoße ich mit der Nase auf einen Widerstand. Ich kann meinen Körper nicht schnell genug bremsen und pralle mit voller Wucht gegen das breiteste Kreuz, dass mir in meinem ganzen Leben begegnet ist. Ganz langsam dreht sich ein Berg von Mann zu mir um. Ich blicke nach oben, direkt in ein Gesicht, bei dem mir als vorherrschendes Merkmal das Fehlen jeglicher Haare darüber auffällt. Bevor ich noch analysieren kann, ob die Glatze natürliche oder künstliche Gründe hat, raunzt er mich schon mit tiefer, befehlsgewohnter Stimme an: "Keene Oogen im Kopp, oder wat?"

Die kurze Zeit, die ich benötige, um zu verstehen, was der Fleischberg von mir will, nutzt Yvette geschickt, indem sie mich am Arm packt, um den Glatzkopf herumzieht und ihm gleichzeitig mit einem fröhlichen „Entschuldigung. Er ist immer so vertrottelt.“, erklärt, wie es zu diesem Unfall kommen konnte. Wahrscheinlich hat sie mir damit das Leben gerettet, was ich ihr hoch anrechnen sollte, aber meine Gedanken kennen immer noch nur ein Ziel - den Einkaufswagen.

Die letzten Schritte sind schnell gemacht, aber der kurze Aufenthalt in der Gefahrenzone hat uns entscheidende Sekunden gekostet. Die Dicke ist vor uns da. Sie grinst uns hämisch an und wir hören gerade noch, wie der Mann sagt: „Tut mir leid, aber ich habe einen Chip im Wagen.“ Unsere Gegnerin schaut für einen Moment zweifelnd auf das 1-Euro-Stück in ihrer Hand. Wieder ist es Yvette, die schneller schaltet als ich. „Macht nichts. Wir nehmen den Wagen trotzdem.“ Dann drückt sie dem Mann eine Münze in die Hand, zerrt mich hinter den Wagen, schenkt der dicken Frau ein breites Lächeln und schiebt mich samt Wagen so schnell es geht Richtung Eingang. Die halbherzigen Proteste des Mannes verhallen bald, dafür können wir noch einige Sekunden das Gezeter der Frau hören, das aber bald im Gemurmel der Masse verschwimmt.

Im Rewe geht es wesentlich gesitteter zu als vor dem Eingang. Wenn sich einmal der Verkehr eingefädelt hat, läuft so ein Einkaufsstrom im Supermarkt ja fast wie von selbst. Einziger Störfaktor sind die Männer - ja, meistens sind es tatsächlich Männer, wie mir gerade auffällt - die sich gegen den Strom schieben müssen, weil sie entweder irgendwo am Anfang des Marktes etwas Wichtiges vergessen haben, oder aber das Regal mit den Damenbinden nicht finden können. Ich klopfe mir innerlich auf die Schulter. So etwas ist mir schon seit Jahren nicht mehr passiert. Schließlich kenne ich unseren Rewe-Markt in- und auswendig. Mein Einkaufszettel ist natürlich auf die Abfolge der Regale abgestimmt. Ich kann jedem, der es wissen will, sofort sagen, wo die Haferflocken, der Reis und die Damenbinden stehen, ja, sogar die Hefewürfel könnte ich mit geschlossenen Augen finden und ich weiß auch, wo sich der Kundschaft die jahreszeitlichen Sonderangebote präsentieren. Deshalb kann ich mich auch ganz entspannt in die Karawane der Einkaufswagen einreihen und gemütlich hinter dem Wagen hertrotten. Yvette hat es übernommen, die Sachen aus den Regalen in den Wagen zu räumen, ich bin nur fürs Steuern und Bremsen zuständig.

Mir fällt auf, dass wir nicht die Einzigen sind, die diese Form der Arbeitsteilung praktizieren. Über die Hälfte der Einkaufswagen wird heute nach diesem Prinzip bewegt. Die meisten Männer haben diesen stoischen Blick aufgesetzt, der die hintere untere Kante des Gitternetzes, in dem die Waren landen, fixiert und bemühen sich redlich, bloß nicht nachzurechnen, was das Ganze am Ende kosten wird. Es scheint auch keiner zu hinterfragen, was da alles im Wagen landet. Dabei sehe ich nur wenige, die so wie ich einen Einkaufszettel dabeihaben, auf dem sie sorgfältig abhaken, was alles in den Wagen wandert. Das nenne ich mal Gottvertrauen. Alle Achtung!

Ein Stocken in der gleichförmigen Geschwindigkeit der Wagenkolonne lenkt mich von meinen Gedanken ab. Ich hebe den Blick und sehe in Yvettes fragendes Gesicht.

„Was ist denn los?“, frage ich irritiert und schaue mich um.

Yvette weist mit einer ausladenden Geste auf ein riesiges leeres Korbteil, das zu unserer Rechten steht. „Sollten hier nicht die gefüllten Lebkuchenherzen liegen?“

Ich schaue mir die Beschilderung genau an. Dann nicke ich zögerlich. „Ähm, ja. Hier lagen sie die ganzen letzten Wochen.“

„Aber jetzt liegen keine mehr da.“, ruft sie, halb triumphierend, halb aufgebracht.

Ich schaue mich noch einmal genau um. Keine gefüllten Lebkuchenherzen weit und breit. Ein Blick auf meinen Zettel verrät mir, dass ich davon vier Packungen vorgesehen hatte. Verwirrt drehe ich mich einmal um die eigene Achse.

„Kann ich ihnen irgendwie helfen?“, fragt mich eine Stimme, die von weiter unten kommt. Eine zierliche Verkäuferin steht vor mir und strahlt mich an.

„Ähm, naja, also, wir suchen die gefüllten Lebkuchenherzen.“, stammle ich.

„Oh, tut mir leid.“, sagt sie mit ehrlicher Betroffenheit in der Stimme. „Die sind schon ausverkauft.“

„Ausverkauft?“ Ich brauche ein paar Sekunden, um diese Information zu entschlüsseln. „Sie meinen, es ist noch nicht mal Advent und schon sind die Lebkuchenherzen ausverkauft?“

„Ja, leider.“, sagt sie und scheint noch etwas kleiner zu werden, wenn das überhaupt möglich ist.

Ich drehe mich zu Yvette um, die mich immer noch mit diesem halb spöttischen Blick ansieht. „Was ist denn das für ein Scheiß? Keine Lebkuchenherzen mehr? Und wo bleibt da das Prinzip von Angebot und Nachfrage? Ich habe eindeutig Nachfrage, aber die haben kein Angebot!“ Dabei deute ich auf den Platz, auf dem eben noch die Verkäuferin stand. Die hat sich heimlich, still und leise davongemacht, während ich in einem unaufmerksamen Augenblick meine Frau angeschaut habe.

„Hättest sie halt zeitiger kaufen sollen, als noch welche da waren.“, versetzt mir Yvette einen zusätzlichen verbalen Tritt.

„Zeitiger kaufen? Welcher Trottel kauft denn schon Lebkuchen, bevor es überhaupt Adventszeit ist?“, erwidere ich.

Yvette mustert mit einem kalten analytischen Blick den leeren Korb. „Offenbar eine Menge Trottel.“, kommentiert sie schnippisch und setzt sich dann wieder in Bewegung.

„Ich jedenfalls hatte bis jetzt noch keine Nachfrage!“, brumme ich mürrisch vor mich hin, leise genug, dass meine Frau es in dem Trubel im Supermarkt mit Sicherheit nicht hören kann.

"Na, wenigstens haben wir die Sterne-Herzen-Brezeln-Packungen und den Stollen bekommen.“, sage ich zufrieden, als wir uns bepackt mit mehreren vollen Papiertüten über den Parkplatz zurück zu unserem Auto schleppen.

„Ja, aber die gefüllten Lebkuchenherzen haben wir nicht. Und du weißt, dass ich die besonders mag.“ Yvettes schmollender Tonfall versetzt mir einen Stich. Wir packen alle Einkaufstüten in das Auto und schauen uns um. Vor dem Rewe und dem Getränkemarkt haben sich inzwischen lange Schlangen von Leuten gebildet, die auf einen Wagen warten. „Da haben wir ja nochmal Glück gehabt.“, kommentiere ich den Anblick und rucke mit dem Kinn in Richtung der Wartenden.

„Du, Klausi.“ Yvette geht nicht weiter auf meine Bemerkung ein. Etwas anderes scheint ihr durch den Kopf zu gehen. „Komm mal mit!“ Und schon düst sie los.

„Wo wollen wir denn hin?“, frage ich und versuche, mit ihr Schritt zu halten.

„Dort drüben.“ Sie deutet wage schräg vor sich. „Jetzt komm schon!“

Ich trotte verdutzt hinter ihr her. Plötzlich öffnet sich ein Spalt in der Menschenmenge und ich kann einen kleinen Stand ausmachen, der neben dem Blumenladen am Einkaufscenter aufgebaut worden ist. In der Auslage drängen sich allerlei weihnachtliche Süßwaren. Yvette dreht sich zu mir um und strahlt mich an. „Da kriegen wir bestimmt unsere Lebkuchenherzen.“

Mit einem kritischen Blick prüfe ich das Angebot. Es gibt eine ganze Menge Gebäck, Süßkram und Spezereien. Auch gefüllte Lebkuchenherzen sind darunter. „Was sollen die denn kosten?“, frage ich die Frau hinter dem Tisch und deute auf eine Tüte, die damit gefüllt ist.

„2,20 die Tüte.“, flötet sie fröhlich, als hätte sie mir gerade das Superschnäppchen überhaupt angeboten.

„2,20 Euro?“, hake ich verdattert nach.

„Ja.“, antwortet sie fröhlich. „Wir haben verschiedene Füllungen im Angebot.“

Mir fällt kurz die Kinnlade herunter. Die Frau scheint meine Reaktion dahingehend zu interpretieren, dass ich von der riesigen Auswahl an Füllungen geplättet bin, aber Yvette kennt mich besser. Sie stößt mir den Ellenbogen in die Seite und blickt mich auffordernd an.

„Hast du das nicht gehört? 2,20 Euro pro Tüte. Da sind gerade mal sechs Stück drin. Das macht,“ - ich überschlage den Preis schnell im Kopf - „fast 40 Cent pro Lebkuchen. So viel kostet beim Rewe die halbe Tüte.“, zische ich ihr ins Ohr.

„Genau, und wahrscheinlich gibt es deshalb dort keine mehr und hier gibt es noch welche. Angebot und Nachfrage, weißt du? Und jetzt ist das Angebot so knapp, dass meine Nachfrage nach den teureren steigt und morgen gibt es wahrscheinlich auch hier keine mehr.“, gibt sie mir eine Nachhilfestunde in Betriebswirtschaftslehre.

„Wir nehmen vier Päckchen.“, mit diesen Worten dreht sie sich wieder zu der Verkäuferin. „Geben sie uns ruhig verschiedene Füllungen, wir probieren gern mal etwas Neues aus.“, ruft sie ihr fröhlich entgegen. Während die Frau mit strahlendem Lächeln Yvette vier kleine Tüten in die Hand drückt, zücke ich das Portemonnaie und ziehe einen größeren roten Schein hervor. Mit schmerzverzerrtem Gesicht reiche ich ihn über den Tisch. Ich bekomme noch ein paar klimpernde Münzen zurück, deren Gewicht mich aber nicht wirklich für den Verlust des Geldscheins entschädigt. „Ich hoffe wirklich, dass die jetzt aber auch besonders lecker sind.“, brumme ich hinter Yvette her, während wir mit unserer Beute zurück zum Auto stapfen.

Zu Hause empfängt uns ohrenbetäubender Lärm, der seinen Ursprung in meinem Hobbyraum hat. Ich versuche umständlich, die vielen Einkaufstüten durch den engen Flur in die Küche zu bugsieren und schaue Yvette, die gerade ihre Jacke aufhängt, verwundert an.

„Rocco ist wieder da.", sagt sie nur, als wäre es das in jeder Familie das Normalste der Welt, dass sich der eigene Neffe sich in meinem Hobbyraum häuslich einrichtet, wann und wie es ihm gerade passt.

„Wie jetzt? Schon wieder?", brumme ich missmutig. „Ich dachte, deine Schwester ist von ihrem Drogentrip in diesen Aschram heil zurückgekommen."

„Babette musste zu sich selbst finden und brauchte dafür professionelle Hilfe." Yvette funkelt mich wütend an. Wenn es um ihre ausgeflippte Schwester geht, versteht sie keinen Spaß.

„Professionelle Hilfe." Ich lasse mir die Worte noch einmal auf der Zunge zergehen. „Kann sie nicht zum normalen Psychoklempner gehen, wie andere Menschen auch?", frage ich gereizt. Die Reise nach Indien war ja nicht das erste Mal, dass Babette einfach so mir nichts dir nichts irgendeiner spinnerten Eingebung folgend in die Welt hinausgezogen ist und Rocco für ein paar Monate bei uns ausgesetzt hat.

„Jetzt hör mal.", setzt Yvette in versöhnlichem Ton an. „Ich kann nichts dafür, und am allerwenigsten kann Rocco etwas dafür. Babette ist etwas anders als die meisten Leute, aber deshalb ist sie keine schlechte Mutter."

Darüber könnte man herzlich streiten, aber ich beiße mir auf die Zunge und höre meiner Frau weiter zu. „Sie ist meine Schwester und Rocco hat sonst niemanden, zu dem er gehen kann."

„Das weiß ich doch.", lenke ich ein. „Trotzdem. So, wie die Sache in letzter Zeit läuft, ist er ja häufiger bei uns als bei ihr. Da können wir ihn ja gleich adoptieren.", schmolle ich.

Yvette lacht gehässig. „Du und adoptieren? Wo du noch nicht mal eigene Kinder willst."

Oha, jetzt muss ich aufpassen. Sonst geht die Diskussion wieder los. Klar, mit Ende 30 sollte man langsam darüber nachdenken, ob man sich in Sachen Familiengröße weiterentwickeln will, aber das muss ja nicht unbedingt sofort sein.

„Wie lange wird es diesmal dauern?", frage ich resigniert.

Yvette sieht mich verlegen an. „So genau weiß man das doch nie.", murmelt sie. „Ein paar Wochen auf jeden Fall."

„Und wo male ich jetzt meine Zinnfiguren an?", trete ich ein letztes Rückzugsgefecht an.

Yvette hebt schmunzelnd die Schultern. „Hier in der Küche. Da ist auch der Weg zum Kühlschrank viel kürzer." Dabei tätschelt sie mir etwas zu derb meine Wohlstandsplauze, gegen die ich seit vielen Jahren erfolglos ankämpfe. „Und die Küche kannst du auch gleich auf Vordermann bringen. Ich bin schließlich nicht deine Putze.", knurrt sie nach einem analytischen Rundumblick über Herd, Spüle und den Küchentisch und verschwindet im Wohnzimmer.

Als ich eine Stunde später mit Mülltüte, Biosack und Papierkarton vor dem Müllcontainer stehe, vibriert mein Handy in der Hosentasche. Gleich darauf ertönt ein Lied, das ich noch nicht kenne. Beim Daddeln bin ich auf diese neue App gestoßen, bei der man jeden Tag einen anderen Song als Klingelton bekommt. Ich habe mich der Jahreszeit entsprechend für das Thema "Rockige Weihnachten" entschieden und jetzt brummt mir mein Phone etwas vor. Ich schaue auf das Display. Oben steht groß "Pedda", unten kleiner Nevershoutnever - 30 days. Das Lied klingt gar nicht schlecht, aber jetzt muss ich erstmal rangehen. Ich beschließe, mir später den ganzen Song mal auf Spotify anzuhören.

„Peter, bist du das?“, frage ich unsinnigerweise mein Handy.

„Klaus, wie geht's?“, fragt mich Peter, mein einziger und deshalb auch gleichzeitig bester Freund.

„Bisschen kalt. Stehe gerade beim Müllcontainer.“, gebe ich ehrlich zurück. „Und selbst?“

„Alles bestens. Wie immer.“, dröhnt seine frivole Stimme aus dem Gerät. „Du, sag mal: Wie sieht es bei dir aus? Zeit am Wochenende?“

Ich überlege kurz, wie ich meinem Freund, dem notorischen Single und dem Menschen auf der Welt, der Familienkram am allerwenigsten verstehen kann, erklären könnte, was im Advent bei uns so los ist. „Naja, heute und morgen ist schlecht. Wir haben ja ersten Advent, weißt du? Ist doch immer was besonderes mit Familienkaffeetrinken und so.“

„Achso, verstehe schon.“ Bilde ich es mir nur ein oder klingt er ein kleines Bisschen enttäuscht?

„Wie sieht's denn am Montag bei dir aus?“, mache ich ein Kompromissangebot.

„Naja, ich würde schon gern.“ Peter ergreift meine ausgestreckte Hand wie ein Ertrinkender. „Aber ich hab Probe.“

„Macht nichts. Dann komme ich im Probenraum vorbei und danach gehen wir noch auf ein Bierchen irgendwo hin, okay?“

„Ja, klingt gut.“, geht er auf meinen Vorschlag ein. „Wie läuft's denn sonst so?“

Irgendwas scheint mit Peter los zu sein. Normalerweise macht er nicht so viele Worte am Telefon. Er gehört eher zu der Sorte „Hallo-Wollen wir uns treffen-Wann und wo-Ja, bis bald!“-Telefonierern.

„Ist bei dir alles in Ordnung?“, frage ich besorgt.

„Jaja, alles bestens.“, versucht er mich zu beruhigen. „Wollte halt nur wissen, wie's dir so geht.“

„Naja. Das Übliche halt. Man dümpelt so vor sich hin und dann rennt man nichtsahnend in ein Fettnäpfchen und muss sich eine Strafpredigt anhören. Immer wegen solchen Kleinigkeiten. Ich sag über ihre Freundinnen das Falsche, ich hab die Weihnachtssachen nicht rechtzeitig besorgt, ich respektiere ihre Wünsche nicht - irgendwie hab ich das Gefühl, dass es immer schlimmer wird.“, sage ich etwas aufgekratzt. Sowas passiert mir oft, wenn ich mit Peter rede. Selbst, wenn ich mir noch einrede, alles wäre in bester Ordnung, schafft er es, meinen angestauten Frust aus mir herauszukitzeln. „Heute haben wir 24 Lebkuchen für 8,80 Euro gekauft. Nur weil sie meinte, das muss unbedingt sein.“

Am anderen Ende der Leitung pfeift es anerkennend. „Das sind ja pro Stück…“

„...37 Cent. Ich weiß.“

„Und das nervt dich wieder mal. Ist doch klar. In so einer Krise legt man jedes Wort auf die Goldwaage.“, beginnt Peter mit einer Paaranalyse.

„Welche Krise?“, frage ich verdattert.

„Na, die in deiner Ehe.“, psychoanalysiert er munter weiter. „Ständig beschwerst du dich, dass ihr euch streitet und Yvette hat jede Menge an dir auszusetzen. Das sind ganz klar Symptome einer Krise.“, stellt er mit einer Stimme fest, die keinen Widerspruch duldet.

„Was weißt du denn schon davon? Bist du jetzt Psychiater, oder was?“, kontere ich trotzig. „Wann hast du denn das letzte Mal eine Beziehung gehabt? Du kannst sowas doch gar nicht beurteilen.“

„Moment, Moment.“, erwidert Peter mit Dozententon. „Nur, weil man selbst nicht in einer bestimmten Situation steckt, heißt das nicht, dass man sie nicht durchschauen kann. Im Gegenteil, von außen lassen sich viele Dinge viel objektiver betrachten als aus der Innensicht.“

„Was für einen Blödsinn hast du denn schon wieder gelesen?“ Langsam werde ich ungehalten von so viel Klugscheißerei. „Und überhaupt. Von so einer Krise müsste ich ja trotzdem etwas merken, oder? Ich liebe Yvette. Sie ist die einzige Frau für mich. Ich habe sogar mit Erschrecken festgestellt, dass mich in letzter Zeit andere Frauen gar nicht mehr interessieren. Selbst die Girls im Playboy lassen mich kalt.“

„Das ist gruselig.“ Peters lakonischer Kommentar bringt mich erst richtig auf die Palme.

„Das ist nicht gruselig. Das ist Liebe, du Idiot. Mag ja sein, dass wir uns häufig wegen Kleinkram in den Haaren haben, aber wer hat das nicht? Und ich werde dafür sorgen, dass wir eine bessere Basis für unsere Beziehung haben und alles harmonischer wird. Und Advent ist die beste Zeit, damit anzufangen. Und deshalb kann ich dich morgen nicht treffen, weil ich mit meiner Familie zusammen sein und meine Frau glücklich machen werde, unter anderem mit Lebkuchen zu 37 Cent das Stück. So, jetzt weißt du's.“ Damit drücke ich Peter weg und knalle den Deckel des Müllcontainers zu. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinkriege.

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Neben mir steht Frau Lüders, unsere Nachbarin aus dem dritten Stock und strahlt mich an. Bevor ich etwas sagen kann, zwinkert sie mir zu und zuckelt auf ihren Stock gestützt auf dem Gehsteig davon. Ich schaue ihr nach und kratze mich am unrasierten Kinn.

Oh Du Fröhliche

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