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III. Mittwoch, 1. Dezember: Simple Plan - My Christmas List

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„Morgen, Serkan. Na, alles klar?“ Gut gelaunt schreite ich den Flur unserer Station entlang auf meinen engsten Kollegen und Kumpel Serkan zu. Im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten gehe ich montags besonders gern zur Arbeit. Ich mag meinen Job und die meisten Leute, die hier im St.-Marien-Pflegeheim leben und arbeiten. Und nach dem Abend gestern kann man einfach nur gut drauf sein.

„Wie man's nimmt.“, brummelt Serkan. Er ist kein begeisterter Frühaufsteher, deshalb verstehe ich sein Knurren als allgemeinen Ausdruck seines vor-9:00 Uhr-Leidens. Aus diesem Grund übergehe ich die in seiner Antwort subtil versteckte Aufforderung nachzuforschen, was man denn wie nehmen sollte, und komme gleich zum Tagesgeschäft: „Kaffee schon fertig?“

Serkan schüttelt den Kopf. „Nee, keine Zeit zum Kaffeetrinken. Heute ist Weihnachtsbaumaktionstag.“

Mir ist nicht ganz klar, was das mit unserem Kaffee zu tun hat. Dann fällt mir ein, dass in diesem Jahr unsere Abteilung für das Schmücken des Weihnachtsbaums verantwortlich ist. „Stimmt ja. Ist der Baum schon da?“

Serkan guck leicht irritiert. „Bist du nicht dran vorbeigekommen?“

Ich rekapituliere kurz meinen morgendlichen Weg von der Wohnungstür bis in unsere Station. Ganz dunkel kommt in diesen Erinnerungen auch ein großer grüner Baum in der Eingangshalle des Pflegeheims vor. Aber zur Zeit stehen überall solche Bäume herum, da nimmt man einen mehr oder weniger auch nicht mehr wahr. „Kann sein. Hab nicht so genau hingeguckt.“, versuche ich lahm, mich aus der Affäre zu ziehen.

„Nicht genau hingeguckt? Den kann noch nicht einmal ein Blinder übersehen, weil er vermutlich beim Versuch, die Eingangshalle zu durchqueren, mitten hineinlaufen würde.“, regt sich Serkan auf. „Deine Ruhe möchte ich mal haben.“

„Na, Jungs. Wieder mal Zeit für einen netten kollegialen Austausch?“, ertönt eine knarzende Stimme auf Hüfthöhe, gefolgt von einem gackernden Lachen.

„Morgen, Herr Ackermann.“, sage ich, ohne nach unten zu schauen. „Ja, wir haben uns gerade gemeinsam über den tollen Tannenbaum unten gefreut.“

„Genau.“, unterstützt mich Serkan. Mit Herrn Ackermann ist nicht zu spaßen. Er ist unser liebster Senior. Als er vor sieben Jahren hierher kam, hieß es, er habe noch maximal vier Wochen zu leben. Inzwischen hat er es zum ausdauerndsten Bewohner der Abteilung und damit zum Stationsältesten gebracht. Eigentlich ist das nur ein informeller Ehrentitel, aber er leitet daraus allerhand angebliche Privilegien ab, und eines davon ist ein unverschämtes Kommentieren unserer Arbeit.

„Tannenbaum?“, schnarrt Herr Ackermann.

„Ja. Wir sind gerade auf dem Weg nach unten.“, bestätige ich. „Kommen Sie doch einfach mit, dann können wir uns den Baum gemeinsam anschauen.“

Serkan schnappt sich kurzerhand den Rollstuhl und schiebt Herrn Ackermann Richtung Lift. Da etwas Aufregendes bevorsteht, lässt dieser das ausnahmsweise ohne Gemecker über sich ergehen. „Dieses Jahr sind wir mit schmücken dran.“, rufe ich, während ich den beiden folge.

Herr Ackermann reibt sich die Hände. „Prima. Ich helfe euch.“

Im Foyer angekommen, stelle ich fest, dass Serkans Entrüstung vollkommen berechtigt war. Der Tannenbaum ist ein wahres Monstrum. Den kann man gar nicht übersehen. Lotte am Empfang ist vom Haupteingang aus gar nicht mehr zu sehen und auch die Regale mit den Infoheftchen kann man nur noch erreichen, wenn man sich rundum mit dicken Nadelkissen polstert. Eine Weile stehen wir drei voll Ehrfurcht vor diesem Ungetüm.

„Fichte.“, knarzt Herr Ackermann mit Kennerstimme. „Schön rund und dicht gewachsen. Da hat sich die Leitung ja mal mächtig ins Zeug gelegt.“

„Und wir sollten uns jetzt auch ins Zeug legen.“, brummt Serkan. „Das kostet uns eine Menge Zeit, die wir besser auf der Station nutzen könnten.“

„Ach, jetzt sei nicht so! Weihnachten ist doch nur einmal im Jahr.“, nehme ich den Tannenbaum, der sich gerade als Fichtenbaum entpuppt hat, in Schutz.

„Pah, Weihnachten. Was hab ich denn damit zu tun?“, fragt Serkan spitz.

Ich schaue ihn kurz an. Diese Diskussion führen wir nun seit mehr als zehn Jahren jedes Mal im Advent. „Wer bummelt denn fast jeden Tag über den Weihnachtsmarkt, weil es da so toll riecht?“, spiele ich gleich meinen größten Trumpf aus, um die Diskussion kurz zu halten.

Serkan zuckt nur die Schultern. „Na und? Außer dem Namen hat der doch nichts mit Weihnachten zu tun. Könnte man einfach auch Jahresendmarkt nennen, dann wär es für mich genauso schön.“

„Nana, den gibt es aber nur, weil Weihnachten ist. Jahresendmarkt würde niemand machen.“, gebe ich großkotzig zurück.

„Woher willst du das denn wissen? Und überhaupt, wer von den ganzen Weihnachtsfeierern ist denn überhaupt noch Christ? Wir Muslime glauben mehr an Jesus als die meisten Leute, die sich zu Weihnachten den Bauch vollschlagen und sich gegenseitig mit Geschenken zuschütten.“

„Wo er Recht hat, hat er Recht.“, fällt mir nun auch noch Herr Ackermann in den Rücken.

„Ich gehe fast jeden Sonntag in die Kirche. Und mir ist Jesus verdammt wichtig.“, gebe ich patzig zurück. Serkan grinst mich an. Damit habe ich mich zwar gerettet, aber sein Argument schwebt immer noch im Raum. „Lasst uns anfangen.“, seufze ich und deute dabei mit dem Daumen auf den Baum. „Der schmückt sich nicht von selbst.“

Nach gut zwei Stunden ist die Arbeit vollbracht. Zufrieden werfen wir einen letzten Blick auf unser Machwerk. Dann packen wir die Kisten zusammen, bringen sie in den Abstellraum im Keller und treten dann gemeinsam mit Herrn Ackermann den Weg zurück in unsere Abteilung an. „Das haben wir doch prima gemacht, oder Jungs?“, keckert Herr Ackermann durch den Flur.

Serkan und ich schauen uns an, dann begutachten wir unsere zerkratzten Arme. „Ich bin mir nicht sicher, ob das mit den Lampen so nahe am Stamm wirklich notwendig war.“, gebe ich zu bedenken.

„Aber sicher, Klaus. Wie sieht das denn aus, wenn am Weihnachtsbaum die Lichter nur außen leuchten. Denk mal an den Gesamteindruck, den so ein Baum auf alle macht. Da muss jedes Detail stimmen.“, doziert Herr Ackermann mit Lehrerstimme.

„Hat uns aber eine Menge Zeit gekostet, und jede Menge Schrammen.“, wirft Serkan ein.

„Nun, dann müsst ihr nächstes Mal eben geschickter vorgehen.“, antwortet Herr Ackermann pikiert. „Außerdem, bevor ihr wieder dran seid, sitzt ihr schon fast hier an meiner Stelle. Ich kann euch dann bestimmt nicht mehr helfen.“, setzt er mit seinem messerscharfen Zynismus noch eins oben drauf.

„Aber schön sieht der Baum schon aus.“, lasse ich mich zu einem Friedensangebot hinreißen. „Fast so schön, wie der auf dem Weihnachtsmarkt letztes Jahr.“

„Komm schon. Man kann es auch übertreiben.“ Serkan ist offenbar entschlossen, weiter den kulturell Unterdrückten zu geben. „Lass uns lieber ranklotzen, damit wir die verlorene Zeit reinholen.“

Herr Ackermann schaut demonstrativ auf die Uhr im Gang. „Wisst ihr was? Lasst mich einfach hier stehen. Ich finde den Weg schon alleine. Wir wollen doch nicht, dass die alten Leute hier“ - dabei deutet er mit einer weit ausholenden Geste auf die Türen, die den Gang säumen - „zu spät ihre Hintern abgewischt kriegen.“ Sein gackerndes Lachen verfolgt uns den Gang hinunter, bis wir die erste Tür hinter uns schließen.

Am späten Nachmittag sitze ich in unserer Küche und sinniere über den Sinn des Lebens. Zwei leere Kaffeetassen und ein Teller mit Lebkuchen stehen vor mir auf dem kleinen Tisch. Yvette wollte schon vor einer Stunde da sein, also habe ich schon mal Kaffee gemacht. Die erste Viertelstunde habe ich dem Dampf zugeschaut, wie er sich langsam nach oben kräuselte und die ganze Küche in einen aromatisch-aufregenden Duft hüllte. Die zweite Viertelstunde schaute ich dann den sich abkühlenden braunen Flüssigkeiten zu, die langsam Schlieren zogen. Ich vertrieb mir die Zeit, darin Formen und Muster zu suchen, so wie wir es im Sommer manchmal mit den Wolken machen. Dann schaffte ich es, das Ausschütten des kalten Kaffees, das Abspülen der Tassen und das Vorbereiten der Kaffeemaschinen für einen neuen Aufguss auf eine weitere Viertelstunde auszudehnen, aber seit ungefähr 15 Minuten bleibt mir nichts mehr übrig, als vor mich hin zu grübeln. Natürlich geht Yvette auch nicht an ihr Handy. Das macht sie eigentlich nie. Ich frage mich, ob die Dinger noch einen anderen Sinn haben als den, dass sich der Anrufer permanent Sorgen macht, was los ist, weil der andere nicht sofort rangeht. Im Geiste suche ich verzweifelt nach einem positiven Gegenargument, als ich den Schlüssel im Schloss klappern höre.

Schnell wäge ich meine Optionen ab.

1. Ich könnte mit finsterem Gesicht in den Flur stapfen und Yvette Vorhaltungen machen, dass sie wieder einmal viel zu spät ist und ich mir Sorgen gemacht habe.

2. Ich könnte aufspringen, zur Tür rennen, Yvette mit freudigem Ausruf begrüßen und sie fest in die Arme schließen, um ihr zu zeigen, wie froh ich bin, dass sie noch lebt.

3. Ich könnte einfach sitzen bleiben und anklagend auf die leeren Kaffeetassen und die Lebkuchen starren. Das müsste ich dann so lange durchhalten, bis Yvette begriffen hat, was ich ihr vorwerfe und sich zu einer tränenreichen Entschuldigung aufrafft.

4. Ich könnte schon mal neuen Kaffee kochen, damit wir endlich Kaffee trinken können, schließlich muss ich bald los.

Ich entscheide mich für die Option „Kaffee kochen". Aus jahrelanger Erfahrung weiß ich, dass ich bei Alternative 1 ohnehin den Kürzeren ziehen würde, weil ich rhetorisch meiner Frau nichts entgegensetzen kann und am Ende ich den Fehler gemacht habe, mir Sorgen zu machen, schließlich wüsste ich, dass ihre Aussagen zu Ankunftszeiten eher grobe Richtlinien sind. Möglichkeit 2 würde sie mir ohnehin nicht abnehmen und mein Vorgehen als unterschwelligen Versuch, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen, interpretieren - womit sie ja nicht ganz Unrecht hätte -, was dann unweigerlich zu einem ähnlichen Ergebnis wie Alternative 1 führen würde. Für das Stillsitzen bin ich auch nicht stark genug. Vielleicht würde mich Yvette auch einfach mehrere Stunden ignorieren, wie sie es letztes Jahr im Urlaub gemacht hat, als ich den gesamten Abend im Hotelrestaurant saß, bis sie mich rausgeworfen haben, weil sie schließen wollten. Oder, noch schlimmer, sie würde mir kindisches Verhalten vorwerfen, so dass ich mich rechtfertigen müsste, was dann doch wieder in einem Ende wie Alternative 1 enden würde. Also: Kaffee kochen.

„Hallo Klausi!“, trällert es zur Küchentür herein.

Mit einem aufgesetzten Lächeln drehe ich mich um. Meine Gedanken rattern schon wieder. Das „Wieso bist du schon so zeitig da. Ich hatte noch gar nicht mit dir gerechnet.“, das mir bereits auf die Zunge rollt, kann ich gerade noch einfangen und herunterschlucken, bevor es in den freien Raum entweicht. Stattdessen presse ich ein „Hallo Schatz. Schönen Tag gehabt?“, heraus.

Sie strahlt mich an. Innerlich klopfe ich mir auf die Schultern, dass ich offenbar den richtigen Ton getroffen habe. „Ja, es war toll. Ich habe noch ein paar Besorgungen gemacht.“, antwortet Yvette mit verschwörerischem Unterton.

Ich finde dieses Getue in der Vorweihnachtszeit immer etwas albern. Die meisten Leute tun so, als wüsste der Gegenüber gar nicht, dass bald Weihnachten ist und wäre deshalb vollkommen hin und weg von geheimnisvollen Besorgungen. Ich tue so, als wüsste ich tatsächlich nicht, wieso Yvette etwas kaufen musste, von dem ich nicht genau wissen durfte, was es war, und sage fröhlich: „Toll. Kommst du gleich Kaffee trinken. Ich bin doch heute noch mit Peter verabredet.“

„Komme gleich.“, sagt sie und rauscht mit einer großen Tüte, die sie so hinter ihrem Körper versteckt, dass ich sie unmöglich übersehen kann, an der Küchentür vorbei ins Schlafzimmer. „Und ab heute darfst du nicht mehr in meinen Schrank gucken.“, ruft sie gut gelaunt durch den Flur. Als ob ich jemals in ihren Schrank gucken würde!

Das Kaffeetrinken verläuft sehr harmonisch, was vor allem daran liegt, dass ich Yvette zuhöre, wie sie von ihrem Tag berichtet, ohne ihr ins Wort zu fallen. Eigentlich könnte ich eine Menge erzählen, von Serkan, dem Tannenbaum, Herrn Ackermann und meinem Zwischenstopp beim Aldi, aber ich weiß gar nicht, ob ich das will. Denn wenn ich einmal die Dose aufmache, dann kommen wir vom Hundertsten ins Tausendste und ich komme mit Sicherheit nicht mehr zu Peter. Zum Glück sorgt Yvettes Redefluss dafür, dass ich gar nicht die Gelegenheit bekomme, auch mal das Wort zu ergreifen.

Als der Kaffee längst ausgetrunken ist, nutze ich eine kurze Atempause meiner Frau und schiebe meinen Stuhl geräuschvoll nach hinten, während ich bedeutungsschwer auf die Küchenuhr schaue. Verdammt, ich wollte schon vor zehn Minuten bei Peter sein. Yvette folgt meinem Blick und verzieht das Gesicht. „Immer musst du unsere Gespräche abwürgen. Wo wir uns gerade so gut unterhalten haben.“, sagt sie schmollend.

„Tut mir leid, Schatz. Aber ich bin doch mit Peter verabredet.“ Ich könnte noch hinzufügen, dass sie eine Stunde zu spät gekommen ist, die wir noch locker für unsere Konversation hätten nutzen können, aber ich will ja los. Und das ohne vorher noch einen Streit vom Zaun zu brechen. Ich gebe ihr also einen Kuss auf die Stirn, nehme den Teller mit den Krümeln, öffne den Mülleimer und erstarre. Der Deckel passt gerade noch so auf den Müllhaufen, der sich in unserem Eimer angesammelt hat. Rocco hat den Müll nicht runtergebracht. Obwohl wir eine klare Abmachung hatten.

Ich kehre die Krümel in den Eimer, knote die Mülltüte oben zu und nehme sie heraus. Bemüht locker schlendere ich damit durch die Küche Richtung Flur. Yvette sind meine Bewegungen natürlich nicht entgangen. Mit triumphierendem Blick schaut sie mich herausfordernd an. Ich werfe ihr einen Sag-nichts-Blick zu und verschwinde so schnell wie möglich aus der Wohnung. Im Stillen danke ich Rocco, dass er mir eine weitere Diskussion über meine pädagogischen Fähigkeiten eingebrockt hat, die unweigerlich noch kommen wird. Schade, dass Ironie nicht telepathisch weitergeleitet werden kann.

Ich haste die Straßen entlang zu dem halb verfallenen Fachwerkhaus, in dessen Keller sich Peters Band zu ihren Proben trifft. Peter sitzt auf der großen Box, die wie ein Leuchtturm aus einem Meer aus Bierdosen, Kabeln, Eimern, Holzresten und anderem Müll erhebt. Auf dem Schoß hält er seine Gitarre und schickt ein paar Akkorde durch den Raum. Mit trägem Blick schaut er zu mir auf. Dann spielt er, ohne mit der Wimper zu zucken, noch ein paar kräftige Mollakkorde, die mir wie eine fette Faust in den Magen fahren, und stellt die Gitarre dann betont langsam an die Wand.

„Bist spät dran.“, stellt er fest.

Ich zucke die Schultern. „Ging nicht schneller.“

Peter winkt ab. „Schon gut. Lass uns abhauen.“ Er stopft seine Gitarre in die fadenscheinige Hülle mit dem Rock am Ring-Aufkleber von 1992 und schultert die Tasche mit seinem musikalischen Krimskrams. „Komm, wir gehen ins Shamrock.“

Ohne eine wirkliche Wahl zu haben, trotte ich hinter Peter her. Eigentlich mag ich das Shamrock. Die Musik ist gut, das Bier ist lecker und es ist die letzte Kneipe in der Stadt, in der man noch kostenlos Dart spielen kann. Aber wenn Peter das Shamrock vorschlägt, hat er meistens ein Problem. Und danach ist mir jetzt gar nicht zumute.

Da Montag ist, finden wir im Shamrock leicht einen Platz an der Theke. Auch die meisten Tische sind leer. Steve, der Chef, bei dem wir schon seit Jahren darüber streiten, ob er wirklich aus Irland kommt, steht gelangweilt hinter dem Tresen und putzt die Gläser, die ganz oben auf dem Regal stehen und vermutlich nicht so oft benutzt werden. Wir bestellen ein Guinness für Peter und ein Kilkenny für mich und lassen uns auf den Barhockern nieder.

„Und, was geht?“, frage ich Peter, obwohl ich weiß, dass eigentlich nicht viel bei ihm geht.

„Geht so. Was soll schon gehen?“, kommt prompt die Bestätigung meiner Vermutung aus Peters Mund.

Ich nehme das Bier, das Steve mir soeben vor die Nase gestellt hat, und warte ab. Peter hat mich hierher geschleppt, das heißt, früher oder später wird er mit seinem Problem schon herausrücken. Kein Grund zur Eile, vor allem nicht, so lange das Bier so schön kühl und süffig vor mir steht.

Auch Peter schnappt sich sein Glas. Wir stoßen an und nehmen beide einen kräftigen Zug. Dann sitzen wir einfach nur so da und verfolgen Steves monotone Bewegungen beim Gläserspülen. Hin und wieder seufzt Peter, ansonsten geschieht eine ganze Weile gar nichts.

„Ja, ja. Du hast das schon richtig gemacht.“, brummt Peter irgendwann sein Glas an. Aha, jetzt kommen wir also langsam zur Sache. Ich nehme mich zurück und frage nicht, was ich richtig gemacht haben könnte. Ich werde es ohnehin gleich erfahren. Aber Peter ist noch nicht in Erzähllaune und starrt wieder sein Glas an. Ich leere mein Kilkenny und winke Steve, dass ich noch eins möchte.

„Was?“, frage ich irgendwann, als in mir die Vermutung hochkocht, dass Peter vielleicht doch nicht so bald zur Sache kommen könnte.

„Hm?“, kommt es undeutlich aus Peters Richtung zurück.

„Was hab ich richtig gemacht?“, hake ich nach.

„Na, das Ganze mit Familie und so.“ Peter dreht sich jetzt zu mir um und schaut mir direkt in die Augen. „Dass du damals Yvette geheiratet hast.“

Ich bin einigermaßen perplex. Peter war derjenige meiner Freunde, der mir diese Entscheidung damals am meisten übel genommen hatte. Wir hatten mit 16 diesen blöden Pakt geschlossen, dass wir immer unabhängig bleiben wollten und keine Frau zwischen uns kommen sollte. Insgesamt waren wir sechs Jungs gewesen. Von denen war ich der vorletzte, der sich für die "Fesseln der Ehe" entschieden hatte, wie Peter sie nannte. Nur Peter ist bis heute übrig geblieben und reibt mir das ständig unter die Nase. Und jetzt sagt er mir, dass ich das ganz richtig gemacht habe?

Steve stellt ein neues Glas vor mir ab. Ich nicke ihm zu und wende mich dann wieder an Peter. „Wie jetzt? Ich dachte, es wäre das Dümmste, was mir jemals eingefallen ist?“ Ich bin mir nicht sicher, ob es schlau ist, Peter jetzt zu reizen, aber ich kann nicht anders. Wenn er mir schon mal die offene Flanke präsentiert, muss ich auch zustoßen.

„Naja. Wenn man älter wird, relativiert sich alles, oder?“, stellt Peter ungewohnt moderat fest. „Weißt du, wie ich da vorhin im Probenraum saß, da habe ich mich sowas von allein gefühlt. Das war wirklich unheimlich. Alle sind zu ihren Familien gegangen. Sogar Knut hat jetzt eine feste Freundin. Alle haben sie von ihren Weihnachtsplänen erzählt. Was sie wem schenken wollen, wo sie hinfahren, wer wann wo zu Besuch kommt. Und ich konnte die ganze Zeit nur auf meiner Gitarre herumklimpern. Wir haben kaum geprobt.“

Aha. Daher weht der Wind. Peter hat wieder seine Adventsdepression. Ich kenne dieses Phänomen bereits in abgemilderter Form, aber so heftig hat es ihn noch nie erwischt.

„Ja. Und diese Besuche sind das Heftigste am Advent. Da gibt es ständig Zoff. Ich wäre so froh, wenn ich das nicht dauernd hätte.“ Ein bisschen stimmt es sogar, aber vor allem sage ich das, um Peter aufzubauen. „Du kannst echt froh sein, dass du den ganzen Stress mit Weihnachten nicht hast.“

„Naja. Mag sein, dass es auch schlechte Seiten hat. Aber jedes Jahr allein zu Hause herumzuhängen und zuzuschauen, wie allen anderen das Herz aufgeht und sie sich liebevoll umarmen und aneinander denken. Das halte ich nicht mehr oft aus.“

Oha, das entwickelt sich ja langsam zu einer ausgewachsenen Single-Krise. Ich überlege kurz und konfrontiere Peter dann mit seinem letztjährigen Weihnachtsfest. „So schlimm war es doch letztes Jahr gar nicht.“, sage ich, wobei ich sanft die Stimme senke. „Du warst doch an Heiligabend bei dieser Single-Party im Klunkers. Hast du da nicht diese scharfe Schwarzhaarige abgeschleppt und die ganze Nacht mit ihr rumgemacht?“

„Nein, habe ich nicht! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass da gar nichts lief. Wir haben uns die ganze Nacht in den Ohren gelegen, wie Scheiße es ist, niemanden zu haben. Es ist gar nichts passiert.“

Ich nicke verständnisvoll. In der Tat hat mir Peter diese Geschichte schon mehrmals unter die Nase gerieben und bis heute habe ich es ihm nicht geglaubt. Aber so langsam kommen mir doch Zweifel über das fröhliche Single-Image, das Peter sonst meistens vor sich her trägt.

„Verstehst du?“, setzt er nun wieder an. Ich nehme noch einen tiefen Schluck und mache mich auf eine weitere Stunde Peterscher Problembewältigung gefasst. „Ich will auch so was wie du. Die ganzen Diskussionen, den Stress, den Ärger, Gemecker und Tränen. Das ganze Programm. Ich würde das alles in Kauf nehmen, wenn ich die richtige finden würde.“

„Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst.“, versuche ich witzig zu sein, aber heute prallt jeglicher Sarkasmus an Peter ab. Er wischt meinen Einwurf unwirsch beiseite.

„Ich will auch jemanden, den ich auf ein Schild heben kann, den ich umsorgen und lieben kann und der sich mit mir über all die Kleinigkeiten im Leben freut.“

Auweia. So langsam mache ich mir doch ernsthaft Sorgen um Peter. Ich nehme ihn möglichst unauffällig von der Seite unter die Lupe. Doch, es scheint immer noch der selbe alte Peter zu sein. Kein Zeichen davon, dass ein Außerirdischer seinen Körper übernommen haben könnte. Obwohl, bei denen weiß man ja nie, wozu die in der Lage sind, hat Rocco mal gesagt. Vielleicht hat Peter einen Zwilling?

Eine laut dröhnende Stimme an meinem rechten Ohr und eine schwere Hand auf meiner linken Schulter stören meine Personenanalyse. „Na, ihr beiden! Auch hier? Das ist ja mal eine Überraschung.“, brüllt es durch den Schankraum. Ich drehe meinen Kopf nach rechts und blicke in das fröhliche, leicht gerötete Gesicht von Ole, einem alten Schulkumpel, dem ich alle paar Monate rein zufällig über den Weg laufe.

„Hi, Ole.“, grüßt Peter von der anderen Seite des roten Kopfes. „Ja, wie du siehst, sind wir auch hier.“ Ole springt hin und wieder als Bassist bei Peters Band ein, deshalb sehen sich die beiden häufiger. Trotzdem ist Peter immer leicht gereizt, wenn er Ole trifft. Er war der erste unserer Sechserbande, der damals den Eid gebrochen und geheiratet hatte. Peter wirft ihm bis heute vor, uns alle mit dem Gift der Entmännlichung infiziert zu haben.

Ole nickt, hocherfreut, von uns eine Reaktion zu erhalten. Seine Hand liegt immer noch auf meiner Schulter, als er uns den Grund seiner Anwesenheit erklärt. „Ich schaue nur kurz rein. Bin auf dem Heimweg. Ich hab Chrissi heute schon ihr Weihnachtsgeschenk gekauft.“ Dabei klopft er sich auf die Brusttasche.

Neugierig starren wir beide auf Oles Jacke. Mit breitem Grinsen schaut er zwischen uns hin und her.

Ich verliere als erster die Nerven und frage: „Und. Was hast du ihr gekauft?“ Ein bisschen gespannt bin ich ja schon. Ich habe selbst noch keine Idee, was ich Yvette schenken könnte. Vielleicht ist Oles Idee ja gar nicht so schlecht.

„Wir machen Urlaub.“, schallt Oles Stimme durch den Raum. „Nächsten Sommer. Ein Wellness-Spa-Club in der Karibik.“ Mit stolzgeschwellter Brust klopft er noch einmal auf seine Brusttasche.

„Wow.“, entfährt es mir. „Und was kostet so was?“

Ole zuckt nur kurz die Schultern. „Mehr als ich mir leisten kann.“ Schon wieder dieses unechte Grinsen.

„Ähm, wolltest du nicht nächstes Jahr nach Washington, um deine Redskins mal live zu sehen?“, holt Peter ihn wieder auf die Erde zurück.

„Naja. Was soll ich denn machen?“, fragt Ole jetzt deutlich weniger begeistert. „Sie hat es sich so gewünscht. Und Football wird in den Staaten ja noch länger gespielt. Ich fang wieder an zu sparen und fahre dann später mal hin.“ So richtig überzeugt klingt anders.

„Wie lange hattest du nochmal für die Reise gespart?“ Peter macht es sichtlich Spaß, Ole in die Enge zu treiben.

„Acht Jahre.“, nuschelt der jetzt in seinen Schal hinein.

„Na, das ist ja wirklich nicht so lange.“, schiebt Peter noch einen nach.

Ole zuckt resigniert die Achseln. „Happy wife, happy life.“, quietscht es aus ihm heraus. „Muss los, Jungs. Macht's gut.“ Schon tritt er den Rückzug an und entschwindet durch den schweren Vorhang, der verhindern soll, dass die kalte Luft von draußen in die rauchige Wärme des Schankraums dringt.

Peter schaut ihm mit einem Kopfschütteln hinterher. „Happy wife, happy life?”, brummt er. “Mann, Mann, Mann. Der ist ja vielleicht am Arsch.“

Ich bin so froh, dass Peter fürs Erste wieder geheilt ist, dass ich mir verkneife, darauf hinzuweisen, dass er gerade noch ganz ähnlich geredet hat. Wir heben die Gläser, stoßen klirrend an und versinken in ein synchrones, stummes Grübeln über Oles schlauen Spruch.

Oh Du Fröhliche

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