Читать книгу Das Insolvenzgeld als Mittel zur Fortführung und Sanierung von Unternehmen - Nick Marquardt - Страница 16
4. Die Vorfinanzierung aus historischer Sicht
ОглавлениеDie Erhaltung der Fortführungs- und Sanierungsoption ist untrennbar mit der Vorfinanzierung des Insolvenzgelds verbunden. In der Praxis gilt die Vorfinanzierung als das wesentliche Sanierungsinstrument.70 Daher kann eine historische Betrachtung nicht ohne die Geschichte der Vorfinanzierung im Speziellen auskommen. Bei der Einführung des Insolvenzgelds im Jahr 1974 war eine Vorfinanzierung unter Einbeziehung einer Bank nicht im Gesetz vorgesehen. Die Gesetzesbegründung aus dem Jahr 1974 erwähnt diese Möglichkeit nicht; der Gesetzgeber hatte es, soweit das heute überhaupt noch rekonstruierbar ist, wohl nicht bedacht.71 Aus diesem Umstand lässt sich noch lange nicht schließen, dass die Vorfinanzierung ein praktisch völlig unbekanntes Instrument gewesen ist. Im Gegenteil: Bereits vor Einführung des Insolvenzgelds waren Banken bereit, Löhne vorzufinanzieren, wenn sie sich damit eine günstigere Verwertung sichern konnten. So verwundert es nicht, dass schon 1964 das BAG zu entscheiden hatte, inwieweit eine Sparkasse Lohnforderungen von Arbeitnehmern abkaufen darf, um eine höherwertige Verwertung der bestehenden Materialien sicher zu stellen.72 Was also passieren würde, wenn eine Sozialleistung die Löhne der Arbeitnehmer unmittelbar absichert, war zumindest vorhersehbar. Wirtschaftlich hat man die Notwendigkeit einer zumindest zeitweisen Weiterarbeit schon früher erkannt. Insoweit war es also zumindest naheliegend, dass die Praxis auf die Einführung des Konkursausfallgeldes entsprechend reagieren könnte. Wie in solchen Fällen üblich – man denke an das gewohnheitsrechtlich gebildete Institut des Sicherungseigentums73 – sind solche Entwicklungen meist an der Grenze des gerade noch gesetzlich zulässigen Rahmens. Bevor eine solche Konstruktion rechtssicher ist oder der Gesetzgeber eine Regelung trifft, kann noch einige Zeit vergehen.
Schon unmittelbar nach der Einführung des damaligen Konkursausfallgeldes soll es beispielsweise zu Manipulationen gekommen sein, indem Arbeitnehmer zur Weiterarbeit veranlasst wurden und die Gesamtergebnisse der Produktion Banken oder Gläubigerpools zugeflossen sind, weil die Banken den Arbeitnehmern für die Übergangszeit zinslose Nettodarlehen gewährt haben.74 Es kam auch zu verzögerten Konkursanträgen, um den geschützten Zeitpunkt bestmöglich auszunutzen.75 Das Problem ist, dass solche Missbräuche nur dann öffentlich wurden und heute noch werden, wenn es zum Streit darüber kommt. Die Zahl der Missbrauchsfälle könnte also wesentlich höher sein, als überhaupt bekannt wurde. Es traten damit in der Praxis erstmalig Fallgestaltungen auf, die den sozialversicherungsrechtlichen Charakter des Konkursausfallgeldes ernsthaft in Frage stellten.76 Das ist kaum verwunderlich, da die Arbeitskraft der Arbeitnehmer eine beachtliche Ressource ist. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die eher restriktive Rechtsprechung des BSG im Hinblick auf die Gewährung von Insolvenzgeld. Es wurde immer wieder versucht, die Möglichkeiten einer missbräuchlichen Verwendung durch eine grundsätzlich einschränkende Auslegung einzufangen.77 Das BSG hat erstmals – wenn auch noch vergleichsweise allgemein – Grundsätze aufgestellt, wann eine Vorfinanzierung missbräuchlich sein kann. Eine Grenze sollte immer dort zu ziehen sein, wo einzelne Gläubiger aufgrund der Vorfinanzierung unberechtigte Sondervorteile erhalten.78 Gleichzeitig kann aber auch ein Missbrauch dergestalt eintreten, dass auf Kosten der Sozialversicherung und der Arbeitnehmer eine Mehrung der Masse stattfindet, die allen Massegläubigern Vorteile bietet.79 Die Vorfinanzierung des Insolvenzgelds war also von Anfang an mit einem Makel des Missbrauchs behaftet. Interessant daran ist, dass man damals noch davon ausging, dass die Zusammenarbeit zwischen Sequester und Gericht schon aufgrund der Publizität ein Mindestmaß an Missbrauchsschutz bietet. Die Versuche der Rechtsprechung, einem Missbrauch vorzubeugen, waren dem Gesetzgeber nicht ausreichend, sodass mit Einführung des SGB III ein neuer Weg gewählt wurde.80 Nunmehr sollte die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der kollektiven Vorfinanzierung explizit ihre Zustimmung erteilen.81 Eine kollektive Vorfinanzierung ohne staatliche Beteiligung war also formal ausgeschlossen. Ob dieses Ziel des Gesetzgebers wirklich erreicht wurde, wird im späteren Verlauf noch vertieft.