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Das Testament

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Mit dem Auto war es wirklich nur ein Katzensprung bis zur Anwaltskanzlei. Enya fand gleich einen Parkplatz im Hof und ging nun auf das Gebäude zu. Ingrid hatte recht, ein ziemlich schicker Laden. Dafür mussten die Klienten der Herren „Schröder & Kleinschmidt“ sicherlich auch den doppelten Gebührensatz hinblättern, dachte sie spöttisch.

Am Empfang begrüßte Enya eine attraktive Frau in einem eleganten dunkelblauen Kostüm. Nicht ohne Neid registrierte sie die sorgsam frisierten langen blonden Haare der jungen Frau. Unwillkürlich dachte sie an Peters Assistentin und daran, dass wohl alle Männer gerne blonde Assistentinnen beschäftigten. Mit ihr musste sie auch vorhin telefoniert haben, sie erkannte die flötende Stimme wieder. Mit einem professionellen Lächeln auf den Lippen bugsierte Chantal sie in den Wartebereich der Kanzlei und bat Enya um einen kleinen Augenblick Geduld. Herr Schröder würde bestimmt gleich für sie Zeit haben. Während Enya wartete, kopierte die junge Frau ihren Ausweis.

Wenig später saß Enya dann in einem bequemen Ledersessel, in dem sie fast versank, und lauschte gespannt ihrem Gegen-über. Ein kolossaler Schreibtisch aus der Gründerzeit sorgte für einen diskreten Abstand zwischen ihr und dem Anwalt. Sie musterte beiläufig den, auch für hanseatische Verhältnisse, ausgesprochen gediegenen Raum. Nach einer höflichen Begrüßung und seinem Dank für ihr promptes Erscheinen kam er sogleich auf den Punkt.

»Nun, Frau O’Bryan, es gibt Umstände, von denen Sie Kenntnis haben sollten.« Er machte eine bedeutsame Pause. »Wir, die Kanzlei Schröder & Kleinschmidt, werden in der Hauptsache in Erbschaftsangelegenheiten konsultiert. Wobei die Ermittlung der Erben im In- und Ausland oft den Hauptanteil unserer Tätigkeit ausmacht. Vor einem halben Jahr wurde die Kanzlei unserer Partner in Dublin als Rechtsnachfolger beauftragt, ein Testament abzuwickeln und zu vollstrecken. Im Laufe der Recherchen wurde es notwendig, auch in Deutschland nach potenziellen Erben zu suchen. Unsere Kanzlei übernahm diese Aufgabe.« Er schien zu überlegen. »Aufgrund, äh …, nennen wir es mal erschwerender Begleitumstände, hat sich die Abwicklung des Erbfalles allerdings als schwierig erwiesen.« Er sah sie eindrücklich an. »Sie verstehen nun sicher, warum ich Sie bat, unsere Kanzlei aufzusuchen?«

Enya runzelte die Stirn. Nein, sie verstand nichts. Rein gar nichts! Um welche Erbschaft sollte es sich denn handeln? Das Erbe ihrer Großmutter Alma war doch längst aufgeteilt. Ihre Mutter und sie hatten das einvernehmlich geregelt. Langsam wurde sie unruhig. »Äh …, nein nicht wirklich. Was bitte hat das Ganze mit mir zu tun, Herr Schröder?«

Seine Miene wechselte über zu einem feierlichen Ernst. »Nun, ich habe Sie zu uns gebeten, um Sie vom Inhalt eines Testamentes in Kenntnis zu setzen und um den letzten Willen des Erblassers zu vollstrecken.« Der Anwalt machte wieder eine bedeutsame Pause. »Frau O’Bryan, ich darf Ihnen mitteilen, dass Ihr Großvater Cedric O’Bryan Ihnen ein beachtliches Erbe hinterlassen hat.«

Enya konnte den Anwalt nur verblüfft anstarren. Ihr Großvater? Weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten ihn je erwähnt. Es musste sich um eine Verwechslung handeln. Ja, so war es! Eine Verwechslung. Das hatte sie ja von Anfang an vermutet. Enya entspannte sich. »Herr Schröder, es tut mir leid, aber Sie müssen sich irren.«

Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Frau O’Bryan, seien Sie versichert, es handelt sich keinesfalls um einen Irrtum.«

»In meiner Familie war aber nie die Rede von einem Großvater namens Cedric O’Bryan. Da muss eine Verwechslung vorliegen«, gab Enya schon etwas verunsicherter zu bedenken.

Herr Schröder lächelte versöhnlich. »Ihr Vater hatte sicherlich gute Gründe, warum er nicht mit Ihnen über Ihren Großvater gesprochen hat.«

Enya lehnte sich zurück in ihren Sessel und kreuzte abwehrend die Arme vor der Brust. »Nun gut. Gehen wir davon aus, es handelt sich tatsächlich um meinen Großvater. Was bedeutet das konkret für mich?«

Herr Schröder war erleichtert darüber, dass Enya ihm allmählich glaubte. »In diesem Fall ist es wohl besser, wenn ich die begleitenden Umstände, die zu Ihrem Legat geführt haben, ausführlicher schildere.« Er räusperte sich kurz. »Wie schon gesagt, vor ungefähr einem halben Jahr wurden wir von unserem Partner in Dublin bei der Abwicklung einer Erbschaftsangelegenheit hinzugezogen. Der Erblasser, Ihr Großvater Cedric O’Bryan, hatte bekanntermaßen zwei Nach-kommen. Seine Söhne Padraig und Glen …«

An dieser Stelle unterbrach ihn Enya rüde. »Augenblick, Herr Schröder! Es tut mir ja schrecklich leid, aber sie haben sich die ganze Mühe doch umsonst gemacht. Bei dem Verstorbenen kann es sich nicht um meinen Großvater handeln. Mein Vater hatte keine Brüder«, erklärte sie lächelnd. »Nun, soweit ich weiß ist der Name O’Bryan recht gebräuchlich in Irland. Der Irrtum ist also durchaus verzeihlich.« Sie erhob sich, streckte dem Anwalt die Hand entgegen und wollte gehen.

»Bitten haben Sie doch etwas Geduld und nehmen wieder Platz, Frau O’Bryan.« In einem leicht konsternierten Tonfall fuhr er fort. »Natürlich prüft unsere Kanzlei sorgfältig und gewissenhaft sämtliche erforderlichen Daten aus Urkunden, Geburtsregistern oder Meldebehörden, bevor wir mit einem potenziellen Erbe in Kontakt treten. Das versteht sich natürlich von selbst. So ist es auch in dieser Erbschaftsangelegenheit geschehen. Bitte akzeptieren Sie die Tatsache, dass Sie einen Onkel haben.«

Zögerlich setzte Enya sich wieder.

»Ich darf wohl fortfahren. Wo waren wir stehengeblieben?« Er sammelte sich kurz. »Also, Ihr Vater und ihr Onkel Glen wären üblicherweise nach dem Tod des Vaters erbberechtigt gewesen.«

Enya nickte. »Ja, ich verstehe.«

»In diesen Fall verhält es sich aber etwas komplizierter. Cedric O’Bryan hat nämlich beide Söhne vom Erbe ausgeschlossen. Padraig wurde laut Testament enterbt, weil er das Land für immer verließ und in Deutschland leben wollte. Sollte Padraig aber leibliche Nachkommen haben und diese gewillt sein, für immer in Irland zu leben, würde der gesamte Besitz dann an seinen ältesten Nachkommen gehen.«

»Wie ich sehe, hielt mein Großvater nicht viel von seinen Söhnen. Warum wurde denn Glen enterbt?«, erkundigte sich Enya, nun doch neugierig geworden.

»Im Testament wird sein Lebenswandel als Begründung für den Ausschluss vom Erbe benannt. Und in der Tat sprach dieser auch nicht gerade für ihn«, meinte der Anwalt zögerlich. »Glen musste sich für dubiose Geschäfte mehrfach vor Gericht verantworten. Außerdem hatte er ein Verhältnis mit einer Frau, deren Moral für die damalige Zeit etwas fragwürdig war. Aus eben dieser Verbindung soll auch ein uneheliches Kind hervorgegangen sein. Das war damals wie heute im katholischen Irland ein die Familienehre beschmutzender Schandfleck. Deshalb schloss ihr Großvater auch Glens Nachkommen vom Erbe aus. Erbberechtigt sind nunmehr Padraigs leibliche Nachkommen. Also Sie, Frau O’Bryan.«

»Wow«, entfuhr es Enya unwillkürlich. »Dann ist mein Onkel Glen also das sprichwörtliche Enfant terrible der Familie«, versuchte sie zu scherzen.

Der Anwalt blieb ernst. »Er war es, Frau O’Bryan. Er war es. Glen O’Bryan ist am 18. Dezember letzten Jahres in der Grafschaft Banner in Irland verstorben.«

»Aha!«, meinte sie nur.

Der Anwalt fuhr fort. »Aus meiner Sicht hatte ihr Großvater durchaus nachvollziehbare Gründe für seine Entscheidung.«

»Verstehe, er hatte offensichtlich eine sehr genaue Vorstellung davon, wie mit seinem Nachlass zu verfahren sei«, antwortete Enya trocken.

»Immerhin räumte Cedric O’Bryan seinem Sohn Glen ein lebenslanges Wohnrecht auf dem Anwesen der Familie ein.«

Das Gespräch stockte.

»Wann ist mein Großvater eigentlich gestorben?«, wollte Enya plötzlich wissen.

»Warten sie, ich muss nachsehen.« Herr Schröder blätterte in der Akte auf dem Schreibtisch. »Ihr Großvater Cedric verstarb im 7. März 1986.«

»Mein Vater ist im November 1985 gestorben«, sagte sie leise und fuhr fort: »Dann ist mein Großvater also relativ kurz nach seinem Sohn gestorben.« Der Anwalt nickte bestätigend.

Enya stutzte. »Sie haben ja wirklich lange gebraucht, um die Erben ausfindig zu machen? Wie viele Jahre ist das her? Vierundzwanzig?«

»Es gibt zwei Gründe, die eine frühere Eröffnung des Testamentes vereitelt haben«, entschuldigte sich der Anwalt. »Wie sich erst jetzt herausstellte, hat ihr Onkel nach dem Tod des Vaters dessen Testament vernichtet. So konnte er sich über zwei Jahrzehnte lang in den alleinigen Besitz der Erbmasse bringen.«

»Vernichtet? Und woher stammt dann dieses Testament?«, fragte sie irritiert.

»Lassen sie mich das näher erklären. Ans Licht kam sein Betrug überhaupt erst durch einen kuriosen Zufall. Der Notar, bei dem Ihr Großvater das Testament hinterlegt hatte, war ein älterer Herr. Etwa zur selben Zeit, als ihr Großvater verstarb, ging der Notar in den Ruhestand. Es dauerte dann längere Zeit, bis man einen Nachfolger für die Praxis fand. Aus unbekannten Gründen wurde dem Testament dann nicht die nötige Beachtung geschenkt und es verschwand im Archiv. Vor kurzem wurde eben dieses Archiv aus Platzmangel geräumt. Dabei ist das Testament ihres Großvaters wieder aufgetaucht. Das hat den Stein ins Rollen gebracht.«

Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Das war alles so verworren. Der Anwalt ließ ihr etwas Zeit, das eben Gehörte zu verarbeiten, dann schaute er auf seine Armbanduhr. »Ich würde jetzt gerne das Testament verlesen. Wenn Sie dann so weit wären?«

»Ich denke, ich bin so weit«, antwortete sie gefasst.

»Das Original Dokument wird in der Kanzlei in Dublin zu treuen Händen verwahrt. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich jetzt eine Übersetzung des Testaments verlesen.« Er deutete auf ein Schriftstück, das vor ihm lag.

Enya nickte nur.

Er nahm das Schriftstück in die Hand und begann zu lesen: »Letzter Wille und Vermächtnis von Cedric Finn O’Bryan, geboren am 11. März 1922 in der Grafschaft Clare, Sohn von Torin Finn O’Bryan und Maisie O’Bryan, geborene Walsh. Ich, Cedric Finn O’Bryan, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, verfüge hiermit …«

Enya schwirrte der Kopf und sie hatte Mühe den monoton vorgetragen Ausführungen zu folgen.

»… die Erbeinsetzung steht unter der auflösenden Bedingung der Nichterfüllung der vorbezeichneten Auflagen, die im Folgenden benannt werden …«

Ihre Gedanken schweiften ab. Ihre Mutter sollte es als Erste erfahren. Zu dumm, dass sie sich gerade in Spanien aufhielt. Die Telefonverbindung war nicht besonders stabil.

Der Anwalt las immer noch. »… ausschließlich seine leiblichen Nachkommen erhalten alle beweglichen und unbeweglichen Güter im Haus, dem Anwesen …«

Vielleicht wusste ihre Mutter ja etwas über ihren Schwager, den Bruder ihres Vaters. Wieder drang die Stimme des Anwalts in ihr Bewusstsein.

»… bezeugt und unterschrieben.« Es folgte Stille.

»Haben Sie das Testament verstanden, Frau O’Bryan? Insbesondere den Abschnitt mit den auflösenden Bedingungen, die für Sie von Bedeutung sind?«

Ihr Kopf war völlig leer. Nichts von dem, was er da eben vorgelesen hatte, war zu ihr durchgedrungen. »Es ist mir ein wenig peinlich, aber ich muss zugeben …«, sie unterbrach sich. »Können Sie mir bitte in einfachen Worten erklären, was mir mein Großvater da nun eigentlich hinterlassen hat?«

Herr Schröder hatte Verständnis. »Gerne. Es ist für Laien nicht immer einfach, Testament Texte zu verstehen. Kurz gefasst, Frau O’Bryan, sie erben ein Haus in Clarecastle, den Grund und Boden auf dem das Haus steht, die Nutzungsrechte über mehrere Hektar Wald- und Wiesenflächen und etwas Schmuck.«

Ein Haus in Irland! Schoss es ihr durch den Kopf. Enya musste bei dem Gedanken unvermittelt lächeln.

»Ich sehe, Frau O’Bryan, sie freunden sich mit dem Gedanken, eine Erbin zu sein, mehr und mehr an«, meinte der Anwalt erleichtert. »Was den Schmuck anbetrifft …«, er zögerte. »Im Testament wird eine mit Diamanten und Smaragden besetzte Parure beschrieben. Eine Schmuckkombination, oder Teile davon, konnten aber bisher nicht aufgefunden werden. Auch die polizeilichen Ermittlungen ergaben keine Beweise für die wirkliche Existenz des Schmucks. Es wird angenommen, dass Ihr Großvater etwas vererben wollte, das nicht oder nicht mehr in seinem Besitz war. Vielleicht hat auch Ihr Onkel den Schmuck bereits verkauft.«

Von sich selbst überrascht empfand sie tiefe Traurigkeit über den vermeintlichen Verlust des Familienschmucks. Sofort schüttelte Enya diesen Gedanken wieder ab. Unsinn, man kann nicht vermissen, was man nie besessen hat!, beruhigte sie sich. »Ich kann meinen Onkel ohnehin nicht mehr zur Verantwortung ziehen«, antwortete sie leichthin. »Was kommt jetzt auf mich zu? Was muss getan werden, wenn ich das Erbe antreten möchte?«

»Zum einen haben Sie die Möglichkeit, die Kanzlei Schröder & Kleinschmidt zu beauftragen, alle erforderlichen Formalitäten bei den Behörden in Deutschland und in Irland für Sie zu erledigen. Zu diesem Zweck müssen Sie uns eine Vollmacht ausstellen. Zum anderen können Sie sich in den Dschungel der deutschen und irischen Behörden begeben. Besonders in Irland kämen dann eventuell noch Sprachprobleme hinzu.«

»Die Sprache wird kein Problem für mich darstellen. Zu Hause wurde deutsch und englisch gesprochen. Meine Mutter war Englischlehrerin«, entkräftete Enya seinen Einwand. »Was mir mehr Sorgen bereitet, sind der Umgang mit Behörden und das richtige Ausfüllen von Formularen.« Sie war ja schon vollkommen entnervt, wenn sie auch nur ihren Ausweis verlängern lassen sollte. Enya sah sich schon stundenlang in öden Wartezimmern irgendwelcher Behörden herumsitzen und endlose Formulare ausfüllen. Da war die erste Variante mit der Vollmacht doch verlockender. »Bevor ich mich entscheide, würde ich gerne über alles noch einmal nachdenken. Ich kann die Vollmacht ja jederzeit bei Ihnen abgeben.«

Herr Schröder nickte zustimmend. »Ja, aber ich möchte Sie nochmals auf die auflösende Bedingung im Testament in Form einer Befristung und die Nutzungsklausel aufmerksam machen. Verstreicht die Frist, geht der gesamte Besitz an die Nacherben, an die Familie der Mac Cumhaills. Sie verlieren dann das Haus und die Nutzungsrechte. Wenn Sie sich nicht durch uns oder eine andere Kanzlei vertreten lassen wollen, sollten Sie persönlich innerhalb der nächsten vier Wochen Ihren Anspruch in Irland geltend machen.«

»Eine Frist! Welche Frist?«, fragte Enya alarmiert. Da war wohl eine Menge, was Sie nicht verstanden hatte.

Der Anwalt beugte sich vor und reichte Enya die Übersetzung. »Bitte lesen Sie selbst und sagen mir dann, ob Sie den Sachverhalt mit den auflösenden Bedingungen verstehen. Bitte hier!« Er deutete auf einen Abschnitt im Text. Enya nahm das Schriftstück entgegen und begann sorgfältig den betreffenden Abschnitt zu studieren. Auch wenn der Text verschnörkelt anmutete und die Übersetzung vielleicht nicht ganz dem Original entsprach, es war eindeutig! Wenn sie das Anwesen in Irland erben wollte, dann musste sie sich schnell entscheiden. Und sie musste sich entscheiden für immer in Irland zu leben! Enya schaute gedankenverloren auf das Papier in ihren Händen. Wie zu sich selbst murmelte sie: »Aber meine Arbeit? Meine Wohnung in Langenhorn? Ich kann doch nicht einfach alles aufgeben?« Enya sah den Anwalt ratlos an. »Ich war noch nie in Irland. Wie soll ich überhaupt wissen, ob es mir dort gefällt? Mein ganzes Leben würde sich mit einmal auf den Kopf stellen!« Nein, das konnte man von niemandem erwarten.

»Die Bedingungen sind in der Tat ungewöhnlich. Ich habe das Testament bereits unserer Rechtsabteilung zur Prüfung vorgelegt. Unsere Spezialisten sind sich nicht einig, ob die Klausel vor einem deutschen Gericht erfolgreich angefochten werden kann. Die Kanzlei in Irland hat die Rechtmäßigkeit der Klausel allerdings schon bestätigt. Ein Erfolg in der Sache steht zu bezweifeln.«

Plötzlich meinte der Anwalt aufgeräumt: »Wissen Sie was, Frau O’Bryan, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich sagte Ihnen ja schon, dass ich am Mittwoch nach Irland fliege. Was halten Sie davon, wenn Sie mich bis Dublin begleiten?«

Enya sah ihn skeptisch an. »Ich weiß nicht recht. Ich müsste Urlaub nehmen. Vielleicht ist der Flieger auch schon ausgebucht. Was würde mich das denn kosten?«

»Der Hinflug würde Sie nichts kosten.« Erklärend fügte er hinzu: »Normalerweise fliege ich in Begleitung nach Dublin. Meine Assistentin hat sich gestern leider krankgemeldet. Ich kann das Ticket aber stornieren und ein neues für Sie besorgen.« Aufmunternd fügte er hinzu: »Nehmen sie sich die Zeit, fliegen Sie nach Irland. Schauen Sie sich das Anwesen in Clarecastle erst einmal an und entscheiden dann alles weitere. Ich bin bis Mitte Mai in Dublin und kann Sie, wenn nötig, jederzeit unterstützen.«

Enya war hin- und hergerissen. »Danke, das ist ein großzügiges Angebot. Aber bitte haben Sie Verständnis dafür, wenn ich nicht gleich zusage. Es gibt noch so viel zu bedenken.«

»Natürlich. Nutzen Sie das Wochenende, um in Ruhe über alles nachzudenken. Es reicht, wenn Sie mir am Montag Ihre Entscheidung mitteilen. Meine Sekretärin kann Ihnen dann auch bei der Organisation ihrer Weiterreise nach Clarecastle behilflich sein.« Der Anwalt erhob sich, umrundete den Schreibtisch und streckte Enya seine Hand entgegen. »Meine Sekretärin am Empfang wird Ihnen noch eine Kopie des Testaments ihres Großvaters aushändigen. Ich erwarte dann am Montag Ihren Anruf. Auf Wiedersehen.«

Damit war Enya bis auf Weiteres entlassen.

*

Sie saß nun schon eine ganze Weile unbeweglich hinter dem Steuer ihres Autos und starrte ratlos auf die Motorhaube. Ihre Gedanken purzelten nur so durcheinander. Sollte sie jetzt noch ihren Ausflug ins Alte Land starten? Auf jeden Fall musste sie erst mit ihrer Mutter telefonieren. Vielleicht sollte sie auch gleich zurück zur Fakultät fahren, um das mit dem Urlaub zu klären. Nein, das hatte bis Montag Zeit. Vorher sollte sie besser das Testament noch einmal in Ruhe lesen.

Tief Luft holen und schön eins nach dem anderen! Enya kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy und wählte die Nummer ihrer Mutter. Sie wollte schon auflegen, als die Stimme ihrer Mutter erklang.

»Hallo, meine Kleine. Ich dachte, wir wollten erst wieder am Sonntag miteinander telefonieren? Ich bin doch erst zwei Tage fort, vermisst du mich etwa schon?«

»Mami, ich hab‘ ein Haus in Irland geerbt«, platzte sie heraus. Hastig fuhr sie fort. »Ich komme gerade vom Anwalt. Jetzt muss ich mich entscheiden, ob ich für immer nach Clarecastle ziehe.«

»Was redest du da für einen Unsinn?, stoppte ihre Mutter abrupt ihren Redeschwall. »Du hast doch nicht etwa schon am frühen Morgen Alkohol getrunken? Du weißt, du verträgst nichts.«

»Entschuldige, Mami, aber ich bin so schrecklich konfus.« Enya versuchte, sich zu sammeln.

»Was ist denn passiert, meine Kleine? Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ihre Mutter besorgt.

»Ja ja, mache dir bitte keine Sorgen. Es geht mir gut. Ich habe heute etwas erfahren, das mich sehr äh ..., beschäftigt.«

In der nächsten halben Stunde berichtete Enya ihrer Mutter ausführlich über das Gespräch mit dem Anwalt, über den Tod des Onkels und von Cedric Finn O’Bryans seltsamem Testament.

*

Enya biss herzhaft in ihren noch warmen Croissant und kaute genüsslich. Nach dem Gespräch mit ihrer Mutter hatte sie plötzlich Lust auf eine Tasse Kaffee verspürt. Kurz entschlossen hatte sie den Wagen auf dem Parkplatz der Kanzlei stehengelassen und sich ganz in der Nähe in ein kleines Café gesetzt.

Während Enya an ihrem Kaffee nippte und auf die spiegelnde Fläche der Außenalster hinausblickte, fiel allmählich alle Anspannung von ihr ab. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte ihr gutgetan. Leider wusste auch ihre Mutter so gut wie nichts über die Familie ihres Mannes. Padraig hatte nach ihrer Hochzeit nur ein einziges Mal von seinem jüngeren Bruder Glen erzählt. Dies waren damals ein paar Episoden aus der gemeinsamen Kindheit und dem Leben in Irland. Warum er den Kontakt zu seinem Bruder abgebrochen hatte, wusste sie nicht. Ihre Mutter hegte aber immer schon den Verdacht, dass die beiden mehr als nur die räumliche Distanz trennte.

»Wenn das Wenige stimmt, was der Anwalt dir über Glen erzählen konnte, verstehe ich Padraig vollkommen!« Ihre Mutter war überrascht, als sie hörte, dass der Vater ihres Mannes damals noch gelebt hatte. Ihr hatte Padraig erzählt, sein Vater sei tot. »Ich habe deinen Vater, so wie er war, sehr geliebt. Seine Vergangenheit oder seine Familie waren für mich nicht von Bedeutung. Dass er nicht über seine Familie sprechen wollte, habe ich immer respektiert. Auch wenn er die Gründe dafür nie preisgab«, hatte ihre Mutter mit fester Stimme versichert.

Als Enya das beträchtliche Erbe des Großvaters schilderte, war ihre Mutter sichtlich beeindruckt und freute sich für ihre Tochter. »Das ist ja wunderbar und wie romantisch das klingt! Ein Landhaus in Irland. Ich freue mich ja so für dich, meine Kleine! Deinen Sommerurlaub könnten wir dann dort in Zukunft gemeinsam verbringen.«

An dieser Stelle unterbrach sie ihre Mutter rasch und berichtete über die vielen ungeklärten Details und nicht gerade unproblematischen Bedingungen des Testaments. »Nur vier Wochen hast du Zeit? Und der Anwalt sagt, die Klausel kann man nicht anfechten? Auf keinen Fall kannst du dein Leben hier so einfach hinwerfen!«, hatte ihre Mutter ihr noch sehr beunruhigt entgegnet, als sie das Gespräch beendeten.

Um die Mittagszeit füllten sich die Tische des Cafés merklich. Mittlerweile wurde es laut und Enya konnte nicht mehr ungestört ihren Gedanken nachhängen. Es war Zeit aufzubrechen. Nach Hause wollte sie aber noch nicht gehen.

Warum fuhr sie nicht doch ins Alte Land? Sich die Sonne ins Gesicht scheinen und vom Wind die grauen Gedanken aus dem Kopf fegen lassen?

Sie zahlte, verließ das Café und ging zügig zurück zum Parkplatz. Auf dem Weg dorthin streifte ihr Blick die Auslagen eines Buchladens auf der anderen Straßenseite. Es konnte nicht schaden, dort nach einem aktuellen Irland-Reiseführer zu fragen, dachte sie und ging hinüber.

Kaum eine halbe Stunde später saß sie am Steuer ihres Wagens, hörte ihre Lieblingsmusik und fuhr aus der Stadt hinaus in Richtung Altes Land.

***

Etains Rock

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