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Enya O’Bryan

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Meine Träume hab ich dir unter die Füße gebreitet Tritt sachte auf, du trittst auf meine Träume!

(William Butler Yeats)

Enya saß in ihrem Lieblingssessel, dem alten geblümten Ohrensessel von Großmutter Alma. Zerstreut betrachtete sie die glitzernden Wassertropfen auf der Scheibe ihres Wohnzimmerfensters. Kaum war Peter gegangen, hatte es wie auf Stichwort zu regnen begonnen. Heftige Windböen waren durch die Straße gefegt und hatten dabei kurze Regenschauer vor sich hergetrieben. Jetzt war es später Nachmittag, die Straße vor ihrer kleinen Wohnung im Hamburger Stadtteil Langenhorn füllte sich langsam mit den parkenden Fahrzeugen der Anwohner. Bis zur Nasenspitze in die rote Wolldecke gekuschelt, nippte sie verdrossen an ihrem heißen Tee.

Was war nur los mit ihr? Peter war nun schon vor über einer Stunde gegangen, aber sie war immer noch ganz aufgewühlt. Sie besann sich kurz. Nein, irgendwie war sie ... frustriert. Ja, Frust! Das traf es wohl am ehesten. Peter selbst schien heute ausgesprochen beschwingt und guter Dinge gewesen zu sein, als er sie an der Haustür in den Arm nahm und zum Abschied flüchtig auf die Nasenspitze küsste. »Pah«, schnaubte sie ungehalten. Sie hasste es, wenn er sie so auf die Nase küsste. Sie war doch kein kleines Mädchen mehr! Dabei hätte sie es sich so sehr gewünscht, wenn er noch ein wenig geblieben wäre. Aber Peter hatte es eilig.

Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Etwas zu eilig, wie es ihr jetzt schien?! Ihre Bitte, wenigstens noch zum Abendessen zu bleiben, hatte er mit großem Bedauern in der Stimme abgelehnt. Er habe noch einen wichtigen Geschäftstermin und jetzt, da die Finanzierung der Galerie gesichert sei, könne er selbstverständlich die neuen Geschäftspartner nicht versetzen. Das müsse sie doch verstehen.

Natürlich verstand sie, wie so oft.

Eigentlich war der kalte und windige Apriltag für sie ohne große Vorkommnisse verlaufen. Bis, ja, bis Peter sie in ihrer Mittagspause anrief. Über Ingrid, ihre Kollegin im Sekretariat, ließ er ausrichten, dass er so gegen 16:00 Uhr bei ihr zu Hause vorbeischaue. In letzter Zeit machte sich Peter auffällig rar und so hatte sie sich besonders auf einen Abend ganz allein mit ihm gefreut. Sie Dummkopf hatte extra früh Feierabend gemacht, um schnell noch ein paar Lebensmittel für ein romantisches Candle-Light-Dinner einkaufen zu können. Enya verzog missmutig den Mund. Nun denn, jetzt welkte der Salat im Kühlschrank vor sich hin und sie hatte zwei gebratene Kalbsfilets, die sie dann morgen in ihrer Mittagspause kalt auf Brot essen würde.

Und dann auf dem Nachhauseweg hatte sie auch noch dieses dumme Missgeschick. Sie verdrehte die Augen, wie peinlich ihr das immer noch war! In der morgendlichen Hektik hatte sie, trotz der schlechten Wettervoraussage im Frühstücksradio, vergessen, den Schirm in ihre große Umhängetasche zu stecken. Am Nachmittag, als sie mit einer Papiertüte voller kulinarischer Köstlichkeiten im Arm den Supermarkt verließ, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Noch bevor sie überhaupt den Wagen erreichen und den Wagenschlüssel aus den Untiefen ihrer Umhängetasche hervorkramen konnte, hatte der Himmel auch schon seine Schleusen geöffnet. In Sekundenschnelle war sie nass bis auf die Haut.

Und da passierte es! Mit einem leisen Ratschen gab die durchnässte Papiertüte ihre Bestimmung auf. Der gesamte Einkauf rutschte unaufhaltsam an ihren Beinen herunter, rollte über den Asphalt und verteilte sich schließlich unter ihrem Auto. Den Tränen nahe, war sie auf allen Vieren um das Auto herumgekrochen, hatte hektisch die Lebensmittel eingesammelt und danach einfach lose auf den Beifahrersitz geworfen. Die unerfreuliche Erinnerung spülte Enya mit einem großen Schluck warmen Tee aus ihrer Tasse herunter.

Nach einer Weile schüttelte sie verwundert den Kopf. Wie machte Peter das bloß? Schon wieder hatte er es geschafft. Was war nur aus ihrem guten Vorsatz geworden, ihm nicht mehr ihr hart verdientes Geld anzuvertrauen? Für ihre Unfähigkeit, sich gegen seine immerwährenden Forderungen zu behaupten, hatte ihre Mutter inzwischen nur noch schweigende Missbilligung übrig. Sie seufzte. Peter verstand es auch diesmal großartig, seine neueste Geschäftsidee und ihre gemeinsame Zukunft in den glühendsten Farben zu schildern. So mitreißend den Erfolg seiner Unternehmungen auszumalen und ihr dabei tief und liebevoll in die Augen zu schauen, das war schon eine Kunst. Er wurde nicht müde, ihr zu versichern, wie sehr er sie liebe und brauche. Da musste sie ihm einfach helfen. Wenigstens dies eine Mal noch. Sie lächelte gequält, würde es das letzte Mal sein?

Jetzt mischte sich zu allem Überfluss auch noch die tadelnde Stimme ihrer Mutter in ihre Gedanken: »Das ist keine Liebe, Enya. Ich verstehe dich nicht. Peter nutzt dich nur aus. Dabei kann man ihm natürlich keinen Vorwurf machen. Er ist wie er ist, ein charmanter Schlawiner und Müßiggänger eben. Aber du! Du müsstest es doch eigentlich mit deinen 35 Jahren besser wissen. Schließlich haben deine Großmutter und ich versucht, dich zu einer intelligenten und emanzipierten Frau zu erziehen. Immerhin hast du studieren können, wenn du auch ausgerechnet Kunstgeschichte studieren musstest.«

Wenn Enya näher darüber nachdachte, wusste sie eigentlich sehr genau, warum sie immer wieder auf Peter hereinfiel. Sie hatte schlichtweg Angst davor, allein zu sein, und der Schlawiner hatte ja nicht nur schlechte Seiten. Peter galt als gutaussehend, war groß und schlank. Ihr gefiel sein dunkles Haar. Er war unterhaltsam, brachte sie zum Lachen und na ja, der Sex mit ihm war auch nicht übel. Aber ihre Mutter würde wie immer Recht behalten. Mein Geld werde ich wohl nie wiedersehen, dachte sie niedergeschlagen.

»Ach zum Teufel mit Peter und seinem neuen Projekt«, grollte sie laut, richtete sich steif im Sessel auf und schüttelte energisch den Kopf. »Hamburg braucht ja unbedingt noch so eine hippe Galerie.« Für eine Weile widmete Enya ihre ganze Aufmerksamkeit wieder den Wassertropfen auf der Fensterscheibe, dann senkte sich ihr Blick betrübt auf die Tasse in ihren Händen. Wenn sie so darüber nachdachte, musste sie ehrlicherweise zugeben, dass sie überhaupt nicht in Peters Leben passte. Es war ein hektisches Leben, mit ständig wechselnden Trends und Moden. Was fand Peter eigentlich an ihr? Im Unterschied zu seinen Freunden fühlte sie sich in Jeans und Pullover wohler als in teuren Designer-Klamotten von Versace oder Armani. Ihr machte es mehr Freude, in den Bergen wandern zu gehen, anstatt sich aufzubrezeln und eine von Peters Vernissagen zu besuchen. Immer dieses „Küsschen, Küsschen“ und natürlich das obligatorische Gläschen Sekt dazu in der Hand, dachte sie spöttisch. Irgendwie wirkte das aufgesetzt.

Sie nippe ein wenig an dem langsam erkaltenden Tee. Hinzu kam, dass sie sich nicht besonders schön oder attraktiv fand. Zwar hatte sie mit ihrem Gewicht zumindest keine Probleme. Aber mit nur 1,60 Metern Körperhöhe und einer roten Lockenpracht, die sich jedem Versuch einer erkennbaren Frisur widersetzt, bin ich eben auch kein Mannequin, dachte sie verdrossen.

Plötzlich kam ihr Peters Assistentin, Cornelia Kampe, in den Sinn. Dieses blonde Gift! Seine Assistentin? »Dass ich nicht lache!«, schnaubte sie ihre Teetasse an. Cornelia hatte immer so eine arrogante Art sie zu mustern, befand sie. Vor ihrem inneren Auge sah sie förmlich, wie Cornelia, von ihren beeindruckenden 1,80 Metern Körperhöhe (allerdings mit High Heels) mitleidig auf sie herunterblickte. Enyas Unzulänglichkeiten pflegte Cornelia höchstens mit einem müden Lächeln zu quittieren. Dabei hatte sie so eine mokante Art, die knallroten Lippen zu einem Schmollmund zu kräuseln, dass Enya nicht selten versucht war, ihr einen Tritt vors Schienbein zu geben. Ja, seinen Freunden musste sie langweilig und provinziell vorkommen. Auf Peters Partys stand sie schnell im Abseits. Sie verstand sich eben nicht auf belangloses Geplauder und Smalltalk. Ach, zum Teufel auch mit dieser Cornelia! Jetzt verfiel sie schon wieder in Selbstzweifel. Die trüben Gedanken führten zu nichts, außer zu Kopfschmerzen. Wirklich, die konnte sie zu allem Übel nicht auch noch gebrauchen. Also, Schluss damit!

Sie nippte wieder an ihrem Tee, schaute hinaus aus dem Fenster und beobachtete die wenigen vorbeifahrenden Autos. An diesem verregneten Apriltag wurde es früh dunkel. Bald schien es ihr, als wolle sich sogar das Wetter, allein aus Mitgefühl, an ihre düstere Stimmung angleichen. Eigentlich war das restliche Geld aus dem Erbe ihrer Großmutter Alma für etwas ganz Besonderes verplant. Seit Jahren hatte sie nun schon im Stillen vorgehabt eine Reise nach Irland zu unternehmen. Enya seufzte. Sehnsüchtig schaute sie auf die in der Dämmerung liegende Straße. »Ade, ihr schönen Urlaubspläne. Ade Irland und ade ihr wildromantischen Cliffs of Moher.« Sie würde wohl nie die Heimat ihres Vaters kennenlernen.

Unvermutet musste sie jetzt an Padraig, ihren irischen Vater denken. Er war als Dozent für mittelalterliche Geschichte an der Universität in Hamburg tätig gewesen. Padraig O’Bryan war in den Sechzigerjahren zum Studium nach Deutschland gekommen, hatte ihre Mutter Charlotte kennengelernt, geheiratet und war für immer geblieben. Ihr Vater war früh an Krebs verstorben, sie war damals gerade einmal zehn Jahre alt gewesen. Ihre Mutter, eine Englischlehrerin am St. Ursula Gymnasium, hatte sie allein großgezogen. Das heißt, eigentlich war es Charlottes Mutter Alma gewesen, die sich um sie gekümmert hatte. Alma hatte sie beide nach dem Tod ihres Vaters kurzerhand zu sich geholt. Ihre Großmutter hatte versichert, dass die vielen Zimmer in ihrem alten Haus ohnehin leer stünden. Charlotte müsse ja nun allein für Enya sorgen und wieder arbeiten gehen. Damit das Kind nicht den ganzen Tag sich selbst überlassen bliebe, wäre es nur praktisch, wenn sie beide bei ihr wohnten.

Enya runzelte die Stirn. Merkwürdig, ihren Vater hatte sie nie besonders vermisst. Sie hatte kaum noch konkrete Erinne-rungen an ihn. Wenn sie an ihren Vater dachte, sah sie ihn immer an dem alten Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer sitzen, über ein Buch oder Manuskript gebeugt. Der Vater nannte sie immer zärtlich seine kleine irische Prinzessin. Als Gute-Nacht-Geschichte hatte er ihr oft eine alte Legende über eine Prinzessin mit dem Namen Enya erzählt. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Angestrengt versuchte sie sich ins Gedächtnis zu rufen, wovon genau die Legende gehandelt hatte. Aber sie erinnerte sich nur noch vage daran, wie die Prinzessin wegen einer düsteren Prophezeiung von ihrem Vater, dem König, in einen Turm gesperrt wurde. Natürlich befreite ein tapferer Prinz sie und lebte glücklich und zufrieden mit ihr bis an das Ende aller Tage.

Unvermittelt musste sie schmunzeln. Natürlich, ihr Haar! Ihren roten Lockenkopf hatte sie von ihrem Vater geerbt, ebenso wie seine Liebe zur Geschichte. Und, wie ihre Mutter jedenfalls nie müde wurde zu betonen, den Hang zur Unordnung. Sie nannte es lieber ihr kreatives Chaos. Langsam wurde es dunkel und die Laternen vor dem Haus tauchten die Straße in ein diffuses orangefarbenes Licht. Gedankenverloren drehte Enya die halbvolle Tasse in ihren Händen hin und her. Der Tee war nun endgültig kalt.

Ja, diese beiden starken Frauen, ihre Mutter und ihre Großmutter, hatten nicht viel Raum für die Sehnsucht nach einem Vater in ihr aufkommen lassen. Beide vermieden es, über ihn zu sprechen, und Enya hatte auch nicht gefragt. Wenn sie es recht bedachte, wurde in ihrer Familie eigentlich nie viel über die Vergangenheit gesprochen. Ihre Großmutter Alma war stets eine pragmatische Frau gewesen, sie zitierte nur zu gerne den Spruch: »Die Vergangenheit kann nicht verändert werden. Aber die Zukunft hältst du noch in deinen Händen.

Jetzt war ihre Großmutter schon eine Reihe von Jahren tot und das alte Haus verkauft. Nach Abzug der Hypotheken konnte sie damals mit dem Geld ihr Studium für Geschichte finanzieren und später diese kleine Wohnung kaufen. Ihr Blick schweifte ziellos im Dämmerlicht durch den Raum und blieb an den hohen Regalen mit ihren geliebten Büchern hängen. Es waren auch die Bücher ihres Vaters darunter. Wieder musste sie an ihre geplante Reise nach Irland denken. Mit dem kleinen Rest ihres Erbes wollte sie diese Reise antreten und sich damit einen lang gehegten Wunsch erfüllen.

Sie fröstelte leicht und zog sich die Wolldecke enger um die Schultern. Seit Jahren hatte sie keinen Urlaub mehr gemacht. Entweder musste ein Kollege vertreten, ein Projekt am Laufen gehalten werden oder Peter hatte gerade keine Zeit für sie erübrigen können. Ach ja, Peter, sie schnaubte. Ihre verflixte Schwäche für ihn! Enya sprang vom Sessel auf, warf die Wolldecke hinter sich und streckte die steifen Glieder.

»Schluss mit den trüben Gedanken!« Sie war müde, es war spät geworden und es war vernünftiger, schlafen zu gehen. Im Geiste hörte sie noch ihre Großmutter sagen: »Morgen mein Kind, sieht alles ganz anders aus!«

Enya seufzte leise. Tat es das nicht irgendwie immer? »Morgen scheint wieder die Sonne«, flüsterte Sie.

Ja, Morgen.

***

Etains Rock

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