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Urlaubspläne

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Geweckt vom leisen Summen ihres Weckers auf dem Nachtisch, erwachte Enya nur langsam. Benommen blickte sie auf die grünlichen Ziffern des kleinen schwarzen Weckers und versuchte zu erkennen, wie spät es war. Es war 7:00 Uhr, wie üblich.

Sie drückte die Schlummertaste, schloss wieder die Augen und rollte mit einem leisen Seufzer zurück auf das Kissen. Sie wollte noch ein wenig dösen. Die Nacht war viel zu kurz und dann dieser seltsame Traum. Was in aller Welt hatte sie da nur auf einem Pferd verfolgt? Zerstreut musste sie daran denken, dass sie doch gar nicht reiten konnte.

Stück für Stück erinnerte sie sich nun wieder. Als der Wecker ihren Schlaf unterbrochen hatte, konnte sie noch deutlich ein männliches Gesicht wahrnehmen. Irgendwie ging von diesem Mann etwas Bedrohliches aus und sie hatte im Traum verzweifelt versucht zu fliehen. Enya stöhnte, was für ein konfuses Zeug hatte sie da nur geträumt!

Prompt musste sie an den gestrigen Tag und seinen unbefriedigenden Verlauf denken. Schuld an dem Albtraum waren bestimmt ihre Grübeleien gewesen, über Peter und das Geld für seine Pläne, das sie lieber für eine Reise nach Irland verwendet hätte und mit dem sie nun seine Galerie finanzierte. Natürlich, so musste es sein! Jetzt verfolgten sie Peters Eskapaden schon bis in ihre Träume!

Ihre Gedanken begannen sich zu zerstreuen und sie war kurz davor, wieder einzuschlummern. Leise murmelte sie: »Aber Peter hat doch keine blonden Haare.«

Der Wecker summte erneut, nur ein wenig lauter als zuvor. Sie linste mit nur einem offenen Auge zum Wecker. Jetzt war es 7:15 Uhr. Es wurde langsam Zeit aufzustehen, sonst musste sie so hetzen. Das hasste sie.

Sie gab sich einen Ruck, schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante auf den Boden. Zum Glück ist heute Freitag, dachte sie, streckte die Arme über den Kopf und gähnte ausgiebig. Da endete ihr Arbeitstag erfreulicherweise schon am Mittag. Sie ging zum Fenster, öffnete die Vorhänge und schaute nach dem Wetter. Dasselbe trübe Aprilwetter wie gestern bemerkte sie beiläufig. Enya nahm sich fest vor, den Schirm heute nicht zu vergessen. Jetzt brauchte sie eine schöne heiße Tasse Kaffee, dann würde die Welt schon viel freundlicher aussehen.

Der Kaffee weckte nicht, wie erwartet, ihre Lebensgeister. Lustlos knabberte sie an ihrem Marmeladenbrot. Plötzlich kam ihr der Gedanke, wie schön es wäre, mal wieder hinaus ins Alte Land zu fahren. Die Obstbäume begangen sicher schon zu blühen. Der Gedanke heiterte sie augenblicklich auf. Sie hatte doch noch zwei Tage Resturlaub. Zwar müsste sie vorher zur Fakultät fahren und im Sekretariat Bescheid geben, aber dann stand einem Ausflug ins Grüne nichts mehr im Wege. Enya überlegte, ob sie nicht vorsorglich einen kleinen Koffer für ein oder zwei Nächte packen sollte. Wenn sie eine gemütliche Pension fand, konnte sie doch länger als einen Tag bleiben.

Ja, warum eigentlich nicht!? Sie schob den Rest ihres Marmeladenbrotes in den Mund, stand kauend auf und verschwand im Badezimmer.

*

Eine Stunde später erreichte sie die Räume der Fakultät an der Edmund-Siemers-Allee. Gleich nach dem Studium hatte Enya hier begonnen zu arbeiten. Sie schätzte ihre Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Hamburgische Geschichte sehr. Zwar hatte sie nur ein winziges Büro im dritten Stock des imposanten Gebäudekomplexes aus Backstein, aber dafür musste sie sich den Raum mit keinem ihrer Kollegen teilen.

Eilig sprang sie die Treppen hinauf bis in den zweiten Stock. Zuerst wollte sie bei Ingrid vorbeischauen und ihren Urlaubsantrag stellen. Anschließend konnte sie in ihrem Büro noch schnell die Post kontrollieren. Vielleicht gab es ja doch etwas Dringendes, das nicht bis Montag oder Dienstag warten konnte. Ingrid würde überrascht sein, von ihrem spontanen Entschluss zu hören. Die junge Frau aus dem Sekretariat warf Enya immer einen Mangel an Spontanität vor und spöttelte gerne über ihre peniblen Pläne. Seit einer gemeinsamen Weihnachtsfeier vor zwei Jahren war sie mit Ingrid befreundet. Damals hatte Enya die jüngere Frau aus den Armen eines alkoholisierten und enthusiastischen Kollegen befreit. Beim Gedanken daran musste sie noch immer schmunzeln.

Sie hatte die Bürotür erreicht, klopfte und öffnete. Ingrid saß mit Kopfhörern über den Ohren vor dem Bildschirm und ließ die Finger nur so über die Tasten fliegen.

»Guten Morgen, Ingrid«, sagte Enya sehr laut und noch etwas außer Atmen von ihrem Treppensprint. »Ich wollte nur kurz vorbeischauen, einen Urlaubsantrag stellen und dir ein schönes Wochenende wünschen.«

»Urlaubsantrag? Hab ich da richtig gehört?« Ingrid grinste sie an, zog sich die Kopfhörer von den Ohren und legte sie beiseite. »Du und Urlaub?« Plötzlich erstarb ihr breites Lächeln. »Es ist doch nichts mit deiner Mutter in Spanien passiert?«

»Nein, Nein, keine Sorge. Alles gut«, beruhigte sie Enya sofort. »Ich hab mich heute Morgen ganz spontan dazu entschlossen, eine Stippvisite ins Alte Land zu unternehmen. Die Kirschblüte hat vielleicht schon begonnen. Wenn mir irgendwo eine kleine gemütliche Pension besonders gut gefällt, möchte ich sogar für ein oder zwei Nächte bleiben. Die frische Luft wird mir bestimmt guttun. Mal sehen, was kommt.«

»Na, dann unterschreibe mal deinen Antrag. Hier, bitte!« Ingrid zog gleichzeitig den kleinen blauen Formularblock für Urlaubsanträge und einen Kugelschreiber aus einer Schublade ihres Schreibtisches und legte beides vor Enya auf den Tisch.

»Ich freue mich für dich, Eni. Schön, dass Peter endlich mal Zeit für dich findet. Ich drücke euch die Daumen, dass das Wetter hält.«

Enya senkte den Kopf über das Formular und schrieb. »Ich fahre alleine«, erwiderte sie knapp. Als sie wieder aufblickte, sah sie einen Anflug von Verblüffung und Sorge über Ingrids Gesicht huschen.

Die junge Frau fing sich schnell wieder und meinte lächelnd: »Nun, schließlich bist du erwachsen und kannst dich auch mal ohne Peter amüsieren! Ich wünsche dir eine besonders schöne Zeit.«

»Danke, werde ich haben. Ich wünsche dir auch ein schönes Wochenende.« Enya war dankbar dafür, dass Ingrid so taktvoll war und keine weiteren Fragen über Peters Verbleib stellte. Enya reichte das Formular und den Kugelschreiber zurück. Als sie sich gerade zum Gehen umwenden wollte, hielt Ingrid sie noch einmal auf.

»Hey Eni, das hätte ich fast vergessen bei all dem Gerede von deinen überraschenden Urlaubsplänen!« Ingrid öffnete eine andere Schublade, holte eine kleine graue Pappkarte hervor und streckte sie Enya entgegen. »Nachdem du gestern so früh gegangen bist, kam ein Herr im eleganten Anzug vorbei und fragte nach dir. Sein Name steht da oben irgendwo auf der Visitenkarte. Ein gewisser Herr Schröder.«

Enya stutzte, nahm die silbergraue Visitenkarte entgegen und betrachtete sie unschlüssig. Auf der Karte standen, in großen Goldlettern geprägt, die Namen Schröder & Kleinschmidt. Darunter, etwas kleiner und in blauer Farbe, war Anwaltskanzlei zu lesen. Dann folgten die üblichen Adressdaten und Telefonnummern. Fragend sah sie Ingrid an. »Hat er gesagt, warum er mich sprechen wollte?«

»Nein, hat er leider nicht«, meinte Ingrid bedauernd. »Ich hab ihn natürlich nach seinen Gründen gefragt, aber er wollte ausschließlich mit dir sprechen. Es sei persönlich, meinte er. Und …«, fügte sie hinzu, »er betonte mehrmals, es sei sehr wichtig für dich. Du solltest bitte bald Kontakt mit der Kanzlei aufnehmen.«

Enya war verblüfft und ein wenig ratlos. Sie schüttelte den Kopf und sah fragend zu Ingrid herüber. »Ich habe noch nie von einer Kanzlei Schröder & Kleinschmidt gehört. Ich weiß wirklich nicht, was die von mir wollen.«

»Ich hab die sofort gegoogelt, als er weg war. Die Kanzlei liegt in diesem schicken Bürogebäudekomplex, direkt am Alsterufer.« Ingrid war offensichtlich mächtig beeindruckt. »Du solltest gleich anrufen, dann erfährst du bestimmt Näheres. Vielleicht ist es ja wirklich wichtig.«

»Mal sehen«, meinte Enya ausweichend. »Ich gehe dann mal und werfe noch kurz einen Blick in mein Büro, nachsehen, ob dringende Post da ist. Also bis Dienstag, tschüss, Ingrid!

»Ja, dann bis nächste Woche. Tschüss, Eni!« Ingrid setzte ihre Kopfhörer auf und ließ die Finger wieder über die Tasten fliegen

Zögerlich stieg Enya die breite Treppe hinauf zu ihrem Büro, das ein Stockwerk höher lag. Auf dem Absatz blieb sie stehen. Eine Weile betrachtete sie ratlos die Visitenkarte, die sie immer noch in der Hand hielt. Dann betrat sie ihr Büro. Ohne die Windjacke auszuziehen oder die Tasche von der Schulter zu nehmen, setzte sie sich auf den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch. Die Visitenkarte legte sie achtlos vor sich auf die Schreibunterlage, griff nach den Papieren im Posteingangsfach und studierte sie oberflächlich. Nichts Wichtiges, befand sie, und legte den Papierstapel zurück ins Fach.

Als sie schon im Begriff war aufzustehen und zu gehen, fiel ihr Blick abermals auf die Visitenkarte. Sie stockte kurz und schaute dann auf ihre Armbanduhr. Es war ja grade mal 9:00 Uhr. Noch ausreichend Zeit für einen Anruf in der Kanzlei. Dann konnte sie beruhigt ins Wochenende starten und brauchte nicht länger darüber zu spekulieren, was die Herren Schröder & Kleinschmidt eigentlich von ihr wollten. Kurzentschlossen griff sie zum Telefonhörer und wählte die Nummer auf der Visitenkarte. Es dauerte eine Weile, bis jemand am anderen Ende das Gespräch aufnahm. Enya war schon kurz davor aufzulegen, als plötzlich eine weibliche Stimme flötete:

»Guten Morgen, Kanzlei Jochen Schröder & Sven Kleinschmidt. Sie sind mit dem Vorzimmer verbunden. Mein Name ist Chantal Bauer. Was kann ich für Sie tun?«

Enya räusperte sich kurz: »Guten Morgen, mein Name ist Enya O’Bryan. Ein Herr Schröder hat gestern vergebens nach mir ...«. Enya wurde flott unterbrochen.

»Guten Morgen, Frau O’Bryan. Ja, ich bin über die Vorgänge informiert. Einen Augenblick, bleiben Sie bitte am Apparat. Ich werde mich erkundigen, ob Herr Schröder Zeit für ein Gespräch hat.« Die Stimme verstummte, stattdessen erklang jetzt eine Pausenmusik.

Trotz der einlullenden Melodie stieg langsam Unruhe in Enya hoch. Von welchem Vorgang sprach die Frau da wohl? Was in aller Welt konnte sie damit nur gemeint haben? Als sich schließlich am anderen Ende der Leitung die Frau wieder meldete, schrak Enya förmlich zusammen.

»Herr Schröder hat jetzt Zeit für Sie, Frau O’Bryan. Ich werde Sie zu ihm durchstellen. Auf Wiederhören.«

»Auf Wiederhören und danke«, erwiderte Enya hastig, aber das hörte die Frau schon nicht mehr. Sekunden später erklang dafür die freundliche Stimme eines Mannes.

»Guten Morgen, Frau O’Bryan. Sie sprechen mit Jochen Schröder. Gut, dass Sie anrufen. Wir möchten Sie gerne zu einem Gespräch in die Kanzlei einladen. Wann können Sie uns aufsuchen? Einen Augenblick, bitte«, er unterbrach sich selbst. »Lassen Sie mich bitte kurz in meinem Terminkalender nachsehen.« Enya hörte wie das Telefon beiseitegelegt wurde und Papier raschelte. Gerade wollte sie ihn noch fragen, ob sie auch die O’Bryan sei, die er sprechen wollte, da war er wieder am Apparat. »Am Montag um 11:15 Uhr habe ich noch einen Termin frei. Ginge das bei ihnen?«

»Eigentlich wollte ich ein paar Tage Urlaub machen«, meinte Enya ausweichend. »Vor Mittwoch kann ich nicht und am Vormittag geht’s schon gleich gar nicht bei mir. Ich bin berufstätig.

»Das ist bedauerlich. Am Mittwoch fliege ich in einer wichtigen Angelegenheit zurück nach Irland und bleibe dort für mindestens drei Wochen.«

Erwähnte er da etwa »Irland«? Also, sie sollte auf ihren kurzen und wohl verdienten Urlaub verzichten, während der Herr sich in Irland vergnügte. Ausgerechnet in ihrem Irland!

Enya unterbrach ihn schroff: »Sind Sie sich überhaupt sicher, dass Sie mich, Enya O’Bryan, sprechen möchten? Können Sie mir nicht am Telefon sagen, worum es sich handelt? Ich weiß ja noch nicht einmal, worum es eigentlich geht!«

»Sie sind doch Enya O’Bryan, geboren am 12.09.1975 in Hamburg?«, fragte er unvermittelt.

Sie antwortete zögerlich: »Jaa?! Das stimmt. Aber woher haben Sie die Informationen?«

Statt ihre Frage zu beantworten, erklärte er: »Es ist notwendig, dass ich Sie persönlich spreche. Leider dauerte es eine Weile, bis wir sie ausfindig machen konnten.«

Was meinte er denn damit, mich ausfindig machen, fragte sich Enya im Stillen verwundert. Ich bin doch nicht untergetaucht!

Er sprach weiter. »Ich denke, die Angelegenheit ist von einiger Bedeutung für Sie. Ich bin gehalten, Sie ihnen nur persönlich, Auge in Auge, darzulegen.« Er fügte hinzu: »Und nach Prüfung Ihrer Identität. Dazu müssten Sie bitte ihre Geburtsurkunde oder zumindest Ihren Ausweis vorlegen.«

»Na gut«, räumte Enya ein. »Dann lassen Sie uns einen Termin für Anfang Mai vereinbaren. Zur Not geht es auch vormittags bei mir.«

»Wie ich schon sagte, Frau O’Bryan, wir haben einige Zeit gebraucht, um Sie zu finden. Nun ist es unbedingt erforderlich, Sie so bald als möglich zu sprechen.«

Bevor Enya realisieren konnte, dass ihr Kurztrip ins Wasser fiel, setzte er erneut zu sprechen an.

»Darf ich fragen, ob sie noch in Hamburg sind, Frau O’Bryan?

»Ja, im Moment bin ich in meinem Büro in der Fakultät an der Edmund-Siemers-Allee.« Hastig fügte sie hinzu: »Ich will aber gleich wieder gehn!«

»Ich möchte Ihnen gerne eine Alternative vorschlagen. Unsere Büros liegen nur wenige Minuten von der Fakultät entfernt.« Er schien kurz zu überlegen. »Bitte kommen Sie doch gleich zu mir in die Kanzlei. Ich kann meinen nächsten Termin verschieben. Die Klärung der Angelegenheit wird nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen.« Er ergänzte: »Wenn Sie mit dem Auto kommen, unsere Parkplätze liegen auf der Rückseite des Gebäudes.« Als Enya zögerte, hakte er nach. »Darf ich Sie dann in einer viertel Stunde bei mir im Büro erwarten, Frau O’Bryan?«

Enya holte tief Luft und fügte sich in ihrem Schicksal. »Na gut, in Ordnung. Ich bin dann in einer viertel Stunde bei Ihnen.«

»Sehr gut. Dann verabschiede ich mich jetzt. Auf Wieder-hören.«

»Auf Wiederhören.« Das Gespräch war beendet.

Statt aufzustehen und zügig in Richtung Kanzlei aufzubrechen, saß sie einfach nur da. Warum machte der Anwalt bloß so eine Geheimniskrämerei aus der Sache? Das alles war ziemlich mysteriös. Schließlich raffte Enya sich auf, warf die Visitenkarte achtlos in ihre Umhängetasche und verließ eilig das Büro. Wenn sie wissen wollte, was los war, blieb ihr nichts anderes übrig, als in die Kanzlei zu gehen. Ihren Ausweis hatte sie ja immer bei sich.

***

Etains Rock

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