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Die Reise

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Flughafen gefahren. Als sie das Flugticket am Schalter abholen wollte, das die Kanzlei dort für sie hinterlegt hatte, erwartete sie jedoch eine freudige Überraschung: Sie würde in der Business-Class reisen! Eine freundliche Dame vom Bodenpersonal begleitete Enya zu den speziell für diese Buchungsklasse reservierten Schaltern. Da nur zwei Reisende vor ihr standen, war sie sofort an der Reihe. Man informierte sie darüber, dass auch ihr Gepäck, einen besonderen Service erfuhr. Im Rahmen einer sogenannten Priority-Baggage-Regelung würde sie in Dublin ihr Gepäck noch vor den Fluggästen der Economy-Class erhalten.

Jetzt saß sie in der Business-Lounge in einem Clubsessel, nippte an ihrem Orangensaft und genoss den Luxus, der sie umgab. Durch die riesigen Panoramafensterscheiben konnte sie hinaus auf das Flugfeld sehen. Im Minutentakt starteten und landeten die Maschinen. Eines dieser Flugzeuge wird mich nach Dublin bringen, dachte sie aufgeregt.

Während sie auf den Notar wartete, ließ Enya sich die Ereignisse der letzten Tage noch einmal durch den Kopf gehen. Ständig war sie in ihrem Entschluss, nach Irland zu fliegen, hin- und hergeschwankt. Beinahe hätte sie alles abgesagt. Die Angst, nicht alle Vorkehrungen rechtzeitig treffen zu können, versetzte sie zusätzlich in Hektik. Aber so war sie abgelenkt und konnte ihre verletzten Gefühle gut verdrängen.

Am Sonntagmorgen klingelte Peter ein paarmal hintereinander an ihrer Haustür, aber sie hatte keine Lust verspürt, ihn zu sehen. Sie wollte keine Entschuldigungen hören, sie wollte nicht verzeihen. Die eingegangene Nachricht von ihm in ihrer Mailbox löschte sie mit einem energischen Fingerdruck.

Da entdeckte sie ihren Reisebegleiter am Eingang zur Lounge. Er winkte kurz, als er auf sie zukam. »Guten Morgen, Frau O’Bryan«, grüßte er munter. Als er ihr blasses Gesicht bemerkte, stutzte er. »Geht es Ihnen nicht gut?«

»Nein, Nein. Alles okay. Die letzten Tage waren nur etwas anstrengend für mich«, beruhigte sie ihn.

»Ja, gewiss. Das verstehe ich vollkommen.« Er beugte sich über seine Aktentasche, entnahm ihr einen dicken wattierten Umschlag und reichte ihn Enya. »Das möchte ich Ihnen vor unserem Abflug noch geben. Im Umschlag befinden sich Flug- und Bustickets für die Weiterreise nach Clarecastle. Es gibt noch eine Liste mit den Kontaktdaten für die Dubliner Kanzlei, die Hamburger Kanzlei und meine persönlichen Verbindungsdaten. Meine Sekretärin hat für alle Fälle Adressen von Hotels und Pensionen vor Ort für sie ermittelt. Sollte es einen Notfall geben oder Sie bekommen Probleme, scheuen Sie sich nicht, meine private Handynummer zu wählen.«

Enya nahm den Umschlag entgegen und danke ihm für seine Hilfe.

»Nicht dafür«, sagte er bescheiden. »Da ist noch etwas Wichtiges. Der Schlüssel zum Anwesen liegt noch auf der örtlichen Station der Garda in Clarecastle. Die Station ist wochentags allerdings nur bis 18:00 Uhr besetzt.«

»Auf der Garda?« Sie schaute ihn fragend an.

»Mit Garda bezeichnet man die Polizei in Irland.«

Bevor sie ihn noch danach fragen konnte, warum ausgerechnet die Polizei den Schlüssel verwahrte, wurde sie vom Aufruf zum Boarding unterbrochen. Herr Schröder erhob sich prompt. »Später berichte ich mehr. Lassen Sie uns jetzt lieber an Bord gehen. Wir haben zwei Stunden Flug vor uns. Genug Zeit also.« Sie griff nach ihrer Umhängetasche und folgte ihm.

*

Enya staunte über die komfortablen Sitze. Kaum hatte sie Platz genommen, räkelte sie sich auf ihrem mit samtweichen Velours bezogenen Flugzeugsessel. Allein dieser Flug ist Wellness pur, dachte Enya selig und entspannte sich völlig.

Während der ersten Stunde des Fluges unterhielt der Anwalt Enya mit lustigen Anekdoten und Geschichten aus Irland. Nach einer Weile entschuldigte er sich damit, noch ein paar Unterlagen vor der Landung sichten zu müssen. Er holte eine braune Mappe aus seinem Aktenkoffer und begann, den Inhalt der Mappe zu studieren.

Enya nutzte die Gelegenheit, den Umschlag mit den Reiseunterlagen zu inspizieren. Chantal hatte wirklich an alles gedacht! Auch an die Tickets für die Rückreise in einer Woche. Wenn sie wieder in Hamburg war, würde sie sich bei ihr mit einem Blumenstrauß bedanken.

Der Reiseplan sah vor, dass Enya eine Stunde nach ihrer Landung in Dublin weiter nach Limerick fliegen würde. Von Limerick aus fuhr dann ein Linienbus nach Clarecastle. Das hörte sich ja alles ganz einfach an.

*

Nach zwei Stunden Flug ohne große Turbulenzen landete die Maschine planmäßig in Dublin. Enya hatte sich schon vom Anwalt verabschieden wollen, um sich zum Terminal für Inlandsflüge zu begeben, da hielt er sie noch einmal auf.

»Frau O´Bryan, da ist noch etwas, das Sie besser wissen sollten. Sie erinnern sich bestimmt an unser Gespräch in der Kanzlei. Ich sprach von erschwerenden Begleitumständen bei der Vermächtnis Vollstreckung.«

»Leider erinnere ich mich nicht mehr an alles so genau«, räumte Enya ein.

»Nun, ein erschwerender Begleitumstand war die Art und Weise, wie Glen O´Bryan gestorben ist. Die Gründe, die zu seinem Tod geführt haben, sind etwas mysteriös und werden wohl nie vollständig aufgeklärt. Die Garda stufte später seinen Tod als einen bedauerlichen Unfall mit Todesfolge ein. Der Leichnam wurde vor kurzem von der Forensik freigegeben und soll an diesem Freitag in Clarecastle im Familiengrab beigesetzt werden. Solange die Ermittlungen liefen, wurde der Schlüssel für das Anwesen auf der Polizeistation verwahrt. Wie gesagt, jetzt können Sie den Schlüssel dort abholen.« Der Anwalt verabschiedete sich und überließ eine verdutzte Enya ihrem Schicksal.

Die Mitteilung des Anwalts versetzte ihrer Hochstimmung einen kleinen Dämpfer. Ernüchtert strebte sie, den Rollkoffer hinter sich herziehend, dem Terminal für Inlandflüge entgegen. Es gab nur einen Schalter und Enya stand eine halbe Stunde in der Warteschlange, bis sie an der Reihe war. Nach den üblichen Sicherheitskontrollen und der Gepäckaufgabe nahm sie eine weitere halbe Stunde in einem nüchternen Wartesaal Platz. Hier saß man nicht in bequemen Clubsesseln und schlürfte seinen Orangensaft. Hier saß man auf einfachen Plastikstühlen mit Stahlrohrfüßen und die Getränke kamen aus dem Automaten. Willkommen in der Economy-Class, Enya O´Bryan, dachte sie belustigt.

Weniger belustigend empfand sie das Wetter, es nieselte bereits leicht. Mit Sorge betrachtete sie die dunkle Wolkenfront, die im Westen aufzog. Zum Glück hatte sie den Rat des Reiseführers befolgt und noch einen wind- und wasserabweisenden Anorak für die Reise gekauft. Die smaragdgrüne Farbe der Jacke hatte ihr auf Anhieb gefallen.

Der Flug nach Limerick wurde aufgerufen.

Ein Mann in Warnweste kam und forderte die Passagiere auf, ihm über das Vorfeldfeld zum Flugzeug zu folgen. Zusammen mit einem älteren Herrn im Tweed und einem jungen Paar mit Kleinkind im Buggy folgte Enya der Warnweste durch den Nieselregen. Als die Gruppe vor einem kleinen Jet zu stehen kam, konnte sie ihren Augen kaum glauben. Mit diesem Möchtegern-Jumbo hatte sie nicht gerechnet. Da passten sie doch gar nicht alle hinein und wo hatte man das Gepäck verstaut?

Bevor Enya es sich jedoch anders überlegen konnte, schob die Warnweste sie in Richtung Trittleiter und half ihr beim hineinklettern. An jeder Seite der Kabine waren, hintereinander angeordnet, fünf Sitze. Im Heck der Maschine entdeckte sie ihr Gepäck, nur durch ein grobes Netz aus Gurten von den Passagieren getrennt. Ungelenk ließ sie sich gleich auf den ersten Sitz fallen und schnallte sich sofort an. Der alte Mann nahm den Sitz neben ihr auf der anderen Seite des Ganges. Die Familie zog sich mit dem Kleinkind auf die hinteren Plätze zurück.

Die geöffnete Tür zum Cockpit gab den Blick frei auf die Bordelektronik, die blinkenden Armaturen und die beiden Steuerknüppel. Hinter dem rechten Steuerknüppel saß ein grauhaariger Mann mit Basecap und Kopfhörern an den Ohren. Er schien bereits die Startsequenzen mit dem Tower durchzugehen.

Als die Trittleiter entfernt und die Kabinentür von außen verriegelt wurde, starten auch schon die Turbinen. Immer schneller werdend, holperte der Jet jetzt über die Startbahn. Enya krallte ihre Finger in die Lehnen des Sitzes, als der Jet abhob.

Die kleine Maschine flog laut Flugplan nach Westen, direkt auf die drohende graue Wolkenwand zu.

*

Der Regen prasselte auf das löchrige Wellblechdach über ihren Köpfen und der böige Wind trieb den Gestrandeten eiskalte Nässe ins Gesicht. Fröstelnd zog sich Enya die Kapuze über den Kopf. Der Jet hatte es nicht bis zum Airport von Limerick geschafft. Im Verlauf des Fluges waren sie zunehmend von Turbulenzen hin- und hergeworfen worden. Das Kleinkind hatte begonnen zu weinen und Enya hatte die eigene Besorgnis in den Gesichtern der anderen Reisenden gesehen. Aus Sicherheitsgründen war verkündet worden, dass die kleine Maschine dem Unwetter ausweichen und auf einem Sportflughafen in der Nähe von Kilmoon landen musste. Nun stand die kleine Gruppe der Passagiere am Rande des Rollfeldes und drängte sich dicht unter dem Wellblechdach zusammen. Eine geschlagene Stunde warteten sie jetzt schon auf das Shuttle, dass sie abholen sollte. Der Fahrer hatte die Order, die Passagiere entweder vor dem einzigen Gasthaus in Kilmoon abzusetzen oder aber sie bis Limerick zu bringen.

Endlich kam ihr Shuttle!

Entgeistert sah sie zu, wie ein alter blauer VW-Bus knatternd auf sie zukam. Der schmächtige junge Bursche hinter dem Steuer stellte sich der Gruppe als Kevin vor. Sie argwöhnte, dass der Knabe mit dem auffälligen bunten Rollkragenpullover viel zu jung dafür war, um schon einen Führerschein zu besitzen. Da die anderen Passagiere sich keine Sorgen darüberzumachen schienen, stieg auch sie ein.

Das Paar mit dem Kind wollte zum Gasthaus in Kilmoon gebracht werden. Die drei wurden als Erstes abgesetzt. Der alte Mann im Tweed stieg in Rannagh aus. Er hatte seine Tochter benachrichtigt. Sie würde ihn dort später abholen und nach Hause fahren. Jetzt musste nur noch Enya nach Clarecastle, ihrem Bestimmungsort, gefahren werden.

*

Plötzlich gab es einen lauten Knall und Kevin trat gewaltig auf die Bremse. Als das Fahrzeug schlingernd im Straßengraben zum Stillstand kam, prallte Enyas Kopf schmerzhaft gegen die Seitenscheibe. Der Motor ging aus.

Enya betastete vorsichtig die pochende Stelle auf ihrem Kopf. Oje, das gibt mit Sicherheit eine Beule!, argwöhnte sie. »Haben wir etwa jemanden überfahren?«, fragte sie besorgt.

Kevin schüttelte den Kopf und stierte ausdruckslos auf das Hin und Her der Scheibenwischer.

»Vielleicht sollten Sie lieber aussteigen und nachsehen!«, forderte ihn Enya auf, sein stoisches Verhalten irritierte sie.

Wieder schüttelte er nur mit dem Kopf. Enya wurde unsicher, vielleicht war ihr Englisch ja etwas eingerostet und Kevin verstand sie nicht richtig. Sie startete einen erneuten Versuch. »Sollten wir dann nicht besser Hilfe holen?« Jetzt hatte sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Ein Reifen ist geplatzt«, meinte er niedergeschlagen.

Enya war erleichtert. Einen Reifen bei diesem Wetter zu wechseln, war sicher nicht angenehm, aber kein Ding der Unmöglichkeit. »Na, dann sollten wir den Reifen doch am besten gleich wechseln. Ich helfe Ihnen gern.«

Aber anstatt sich endlich dem Problem anzunehmen, jammerte er nur. »Das ist jetzt der zweite kaputte Reifen in dieser Woche. Ich habe keinen Ersatzreifen mehr und mein Cousin Murray kann mich sicher nicht vor morgen früh aus dem Graben ziehen!« Bedauernd zog er die Schultern hoch. »Ich werde wohl im Wagen übernachten müssen. Hinten liegt eine warme Decke.«

Das durfte doch wohl nicht wahr sein!, stöhnte sie innerlich. Zur Abwechslung starrte nun Enya ratlos auf das Hin und Her der Scheibenwischer. »Und was soll ich jetzt machen?«, sagte sie mehr zu sich selbst.

»Da hinter diesen Hügeln liegt Clarecastle.« Kevin deutete vage nach vorne, in Richtung des Horizonts. »Das sind nur noch sechs oder acht Kilometer bis zum Dorf. Wenn Sie gleich losgehen, sind Sie in zwei Stunden dort«, versicherte er glaubhaft. Der Gedanke, die acht Kilometer bis Clarecastle zu laufen, bei diesem Regen und mit schwerem Gepäck, behagte ihr nicht sonderlich. Aber noch weniger behagte ihr, die Nacht mit diesem jungen Burschen in einem engen VW-Bus zu verbringen.

»Na gut, dann werde ich den Rest der Strecke eben laufen.«

Schon nach einem Kilometer bereute Enya ihre Entscheidung. Der Regen hatte zwar nachgelassen, dafür musste sie sich jetzt, um überhaupt vorwärtszukommen, kräftig gegen den zunehmenden Sturm stemmen. Zudem wurde es immer beschwerlicher, den Koffer hinter sich herzuziehen. Seine winzigen Rollen verkrusteten zusehends mit Schlamm. Nur sehr langsam kam sie jetzt voran, denn immer öfter musste sie eine Pause einlegen. Ihr Atem ging stoßweise und ihre kalten Fingerknöchel, die den Griff des Koffers steif umklammerten, spürte sie nicht mehr. Erschöpft hockte Enya sich auf ihren Koffer und fragte sich, wie lange sie noch durch diese Ödnis stapfen musste, bis sie endlich Clarecastle erreichen würde. Womöglich hatte sie sich verirrt!

Allmählich wurde es dunkel, deshalb rappelte sie sich wieder auf. Mechanisch, einen Fuß vor den anderen setzend, stolperte sie weiter. Die Blase an ihrer Ferse meldete sich jetzt bei jedem Schritt und es gelang ihr nicht mehr, den Schmerz zu ignorieren. Mit ihrem Schicksal hadernd, fragte sie sich, warum sie nicht einfach im Gasthaus in Kilmoon geblieben war, so wie die Familie mit dem Kind. Dann läge sie schon längst in einem warmen Bett.

»Warum nur musste ich unbedingt nach Irland kommen!«, rief sie laut gegen den Wind.

Als endlich die ersten Lichter der Häuser von Clarecastle vor ihr auftauchten, weinte sie fast vor Erleichterung.

***

Etains Rock

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