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Aufsatzformen im 20. Jahrhundert

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Das 20. Jahrhundert ist von verschiedenen Strömungen der Literaturdidaktik geprägt, die ihre Ursprünge zum einen in der Literaturwissenschaft, aber vor allem auch in den historischen Ereignissen haben. Es kann an dieser Stelle keine Rekonstruktion der Literaturdidaktik des 20. Jahrhunderts vorgenommen werden, vielmehr soll auf einzelne Strömungen und Ansätze eingegangen werden, die Grundgedanken des materialgestützten Schreibens beinhalten. Wenn man versucht, den Einfluss der Reformpädagogik auf den Deutsch- und den Aufsatzunterricht einzuschätzen, dann steht im Zentrum der Veränderungen die Rolle, die der Mensch im Allgemeinen und das Kind im Besonderen einnimmt. Weniger der Intellekt, denn die Persönlichkeit und deren Ausprägung standen und stehen im Mittelpunkt. Ihrer Entwicklung sollte sich auch der Deutschunterricht annehmen: „Das Aufkommen des Kriteriums der Wahrhaftigkeit ist identisch mit dem Entstehen der Pädagogik.“1 Mit dieser Verschiebung war eine Ablehnung alter Aufsatzformen verbunden, die eine an der Rhetorik orientierte, auf festen Mustern und Phrasen basierende Auseinandersetzung mit Literatur beinhaltete. Ziel war der ungebundene Aufsatz. Damit fand eine Weiterentwicklung vom Reproduktions- zum Produktionsaufsatz statt, der auf den Sprecher und seine Wahrhaftigkeit fokussiert.

Während in der Kunsterziehungsbewegung die Erlebniskraft des Kindes und seine eigene Gestaltung entscheidend waren, das schreibende Kind demnach zum Schriftsteller werden sollte, findet man in dieser Zeit Ursprünge nicht nur des Kreativen, sondern auch des Literarischen Schreibens. Um diesen Ansatz der Ausbildung einer Persönlichkeit umsetzen zu können, waren Themen notwendig, zu denen das Kind eine persönliche Beziehung hatte. Dieser Anspruch an das Stellen von Lern- und Leistungsaufgaben ist für die zeitgenössische Aufgabenkultur maßgeblich und findet sich in den aktuellen Bildungsstandards, in denen es heißt, dass das Fach Deutsch die Schüler:innen zur „Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben“ befähigen solle.2

Ludwig hebt darauf ab, dass sich nach dem 2. Weltkrieg v.a. der sprachgestaltende Ansatz3 durchgesetzt hat, der zur Kanonisierung der Aufsatzformen und der Entwicklung eines Lehrplans geführt hat. Üblich waren nun die Formen des Berichts, der Erzählung, Beschreibung, Schilderung, Abhandlung und Betrachtung. Die jeweilige Einführung und unterrichtliche Umsetzung war an den entwicklungspsychologischen Stand des Kindes gekoppelt.4 Sanner unterteilt die Geschichte des Aufsatzes in den gebundenen, den freien und den sprachgestaltenden Aufsatz.5 Entscheidend ist, dass Sanner, der selbst dem sprachgestaltenden Ansatz verpflichtet ist, auf die kommunikativen Absichten der Schreiber:innen abhebt: In diesem Zusammenhang verweist er auf den lebensweltlichen Bezug, der vor allem durch die Reformpädagogen mit der Ausprägung des Aufsatzes relevant geworden ist. Sanner geht kritisch auf die Unterteilung der zu schreibenden Texte ein, die er unter dem Begriff der Darstellungsformen subsumiert. Sie führen vor allem zur Verwirrung der Schüler:innen sowie der didaktischen und methodischen Notwendigkeit, die jeweiligen Formate einzuführen und gegeneinander abzugrenzen. Dabei sind für ihn nicht stilistische Aspekte entscheidend, sondern die Absicht, die der Text verfolgt.

Entscheidend ist also, ob ich informieren, in Kenntnis setzen will (dann berichte ich), ob ich durch sprachliche Vergegenwärtigung ein inneres Beteiligtsein des Zuhörens im Sinne von Spannung und Lösung erstrebe (dann erzähle ich), ob ich im weitesten Sinne belehren will (dann beschreibe ich), oder ob ich meinen Eindruck und mein inneres Gestimmtsein anläßlich der Darstellung eines Zustandes oder Vorgangs zum Ausdruck bringen möchte (dann schildere ich).6

Durch die Fokussierung auf die kommunikativen Funktionen wird zwar die Rolle der Schreibenden verstärkt in den Blick genommen. Es geht aber nicht um seine subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit, sondern um seine Beziehung zum Inhalt.

Sanner setzt sich kritisch mit der Prüfung und Bewertung von Texten auseinander, in denen Schüler:innen auch eigene Gedanken und damit das eigene Weltverständnis zum Ausdruck bringen, und er thematisiert die Beurteilung des subjektiven und damit persönlichen Anteils der Texte und die Problematik, sie „ihrem inneren Wert entsprechend einzuschätzen“7. Um objektives, an Themen gebundenes Schreiben zu fördern, verweist er auf Texte, die in anderen Fächern verfasst werden und die damit sachlicher sind. Auch sie können zur Bewertung herangezogen werden. Hier findet demnach keine Abgrenzung von Fächern, sondern ein Herstellen von Synergieeffekten statt. Es wird deutlich, dass die Aufsatzformen nicht einfach abzuprüfende Formen sind, die bestimmten Mustern zu folgen haben. Sie nehmen vielmehr eine Funktion wahr, die sich sowohl an den Adressat:innen als auch an Absender:innen orientiert. Zentral ist damit, in welcher Beziehung Schreibende zum Inhalt stehen.

Um einschätzen zu können, wie das materialgestützte Schreiben in die Geschichte des deutschen Aufsatzes eingeordnet werden kann und welche möglichen Vorläufer es gibt, soll noch einmal auf Helmers’ Unterteilung zurückgegriffen werden: Während der Imitationsaufsatz sich an der vorgegebenen Form und Struktur orientiert und von Schreibenden keine eigene, bzw. nur eine stark zurückgenommene Stellungnahme erfordert, ist die Einführung des Reproduktionsaufsatzes eng mit der Aufgabe des Lateinischen als Schulsprache und der Abkehr von der Imitation der antiken Rhetorik verbunden: „Der letzte Grund für die Verdrängung der Imitation durch die Reproduktion lag zweifellos in der Tatsache, daß das für die Nachahmung erforderliche absolute Stilvorbild fehlte.“8 Das Deutsche war nun nicht nur Bildungs- und Unterrichtssprache, sondern auch Alltagssprache. Der Produktionsaufsatz wurde mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam im Unterricht erarbeitet. Dass im Anschluss an den Imitationsaufsatz neue Themen und damit auch die deutsche Literatur Einzug in den Deutschunterricht fanden, ist Hiecke maßgeblich zu verdanken. Im Produktionsaufsatz nimmt das Maß der Selbstständigkeit und vor allem der Selbstbestimmung der Schüler:innen weiter zu. Der Grad der Subjektivität steigt ebenso wie die Anforderung an die Themenstellung: „Es ist klar, daß die Produktion nur bei solchen Themen zu fordern ist, die dem Schüler einen freien Entfaltungsraum sichern.“9

Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive

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