Читать книгу Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive - Nicola König - Страница 12
Die Einführung einer neuen Aufsatzform
ОглавлениеDas Format des materialgestützten Schreibens bewegt sich sowohl im Spannungsfeld dieser drei Aufsatzformen als auch zwischen den drei Gestaltungsformen der Wirksamkeit, der Sachgemäßheit und der Wahrhaftigkeit. Die damit verbundenen Ansprüche an die Schüler:innen einerseits und die Schreibdidaktik andererseits stellen gleichermaßen Chancen wie Herausforderungen dar, ein zeitgenössisches, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ansprüchen angepasstes, authentisches Schreiben in den Blick zu nehmen. So beinhaltet das materialgestützte Schreiben das Erfordernis, einen eigenständigen Text auf der Basis der vorgegebenen Materialien, wozu auch literarische Texte zählen, zu produzieren, in dessen Zentrum der argumentative Standpunkt der Verfasserin bzw. des Verfassers deutlich wird. Die Materialien müssen jedoch nicht nur verstanden, analysiert und ausgewertet werden, sondern auch für die eigene Textproduktion, die die Adressierung ebenso wie die Intention des Zieltextes in den Blick nimmt, nutzbar gemacht und somit transformiert werden. Damit positioniert sich das materialgestützte Schreiben in der Nähe des Produktionsaufsatzes.
Betrachtet man die aktuell im Deutschunterricht der Oberstufe zu verfassenden Aufsatzarten, dominiert die vollständige Analyse und Interpretation von literarischen Texten. Diese Textformen erfordern in Bezug auf das Material – den literarischen Text – in der Regel nur selten eine Reduktion. Auch das Setzen von eigenen Schwerpunkten ist in geringerem Maße erforderlich als beim materialgestützten Schreiben. Für die Schreibenden sind beim Interpretieren in Bezug auf die Sachgemäßheit die Anforderungen weitgehend transparent: Der Inhalt des Textes bzw. des Textausschnittes soll in seiner Gänze erfasst und wiedergegeben werden. Zur Bewertung der Schreibprodukte werden überwiegend literaturwissenschaftliche Aspekte herangezogen. Die Lehrkraft ist in der Mehrzahl der Aufgaben die alleinige Adressatin, der zu schreibende Text muss keine kommunikative Funktion aufweisen. Die polytextuelle Materialfülle beim materialgestützten Schreiben hingegen erfordert andere Texterschließungs- und Formulierungskompetenzen. Basierend auf der Auseinandersetzung mit den in den Materialien vertretenen Positionen muss der Schreibende eine eigene Haltung zum Inhalt entwickeln und diese argumentativ nachvollziehbar und glaubhaft vertreten.
Im Zentrum einer argumentierenden, materialgestützten Schreibaufgabe steht die Stellungnahme zu einem strittigen Thema: Die vorgegebenen Materialien entfalten diesen Diskurs thematisch und bieten die Grundlage für eine geforderte – inhaltliche – Stellungnahme. Damit die Schüler:innen sich aber innerhalb dieses Diskurses glaubhaft und nachvollziehbar positionieren können, ist es wichtig, dass die Aufgaben einen hohen Lebensweltbezug aufweisen. Steht die Argumentation im Mittelpunkt, dann muss im Unterricht auch das Argumentieren gelehrt und geübt werden. Hierzu bieten sich Übungsformen wie die Chrie ebenso an wie Muster, die vorgeben, wie eine Argumentation aussehen könnte. Hier geht es weniger um das Imitieren, denn das Lehren von Schreibgerüsten, die die Schreibenden dazu befähigen, sich selbstständig mit einem Thema auseinandersetzen und differenziert Stellung beziehen zu können. Damit aber müssen das Schreiben und das Vermitteln der dazu nötigen Kompetenzen und Muster, wie es in der Rhetorik lange Zeit üblich war, wieder verstärkt in den Blick genommen werden. Unterteilt Ludwig den Schreibunterricht in die drei Formen des Schreib-, Stil- und Aufsatzunterrichts, so wird deutlich, dass Instruktionen zum materialgestützten Schreiben sich nicht allein darauf beschränken können, „die Organisation ganzer Texte“ in den Blick zu nehmen. Ebenso ist es erforderlich, „die schriftliche Formulierung von Ausdrücken“1, die Ludwig dem Stilunterricht zuordnet, zu berücksichtigen. Wenn Ludwig kritisch anmerkt, dass sich der Aufsatzunterricht nicht auf die Vermittlung einiger weniger Aufsatzformen beschränken dürfe, da der Zusammenhang zwischen den drei Formen verloren ginge, dann ist diese Forderung im Hinblick auf die Einführung und Etablierung des materialgestützten Schreibens aktueller denn je.
Eine große Neuerung beim materialgestützten Schreiben stellt die Vorgabe des Zieltextes und der Adressat:innen und damit die Situierung des Schreibens dar. Dadurch spielt vor allem die Wirksamkeit eine zentrale Rolle. Betrachtet man in diesem Zusammenhang die Textsorten näher, so nehmen diese in der Regel selten nur eine einzige Funktion wahr: So soll beispielsweise ein offener Brief an die Intendantin eines Theaters, der zur Aktualität des eines Theaterstückes Stellung nimmt, nicht nur informieren. Der Text muss unterhalten, den Leser der (fiktiven) Zeitung für sich gewinnen, zum Nachdenken anregen, sich positionieren und überzeugen. Die kommunikativen Funktionen, die die Intention des Mitteilenden und die Erwartungen des Lesers berücksichtigen, spielen damit eine entscheidende Rolle. Um einen in dieser Hinsicht wirksamen Text produzieren zu können, bedarf es eines Deutschunterrichts, der das Schreiben thematisiert, dieses im Unterricht stattfinden lässt und den Schülerinnen und Schülern Muster zum Üben anbietet. In Bezug auf die Zieltextsorten bliebe zudem kritisch zu diskutieren, ob es sich hierbei um gebundene oder freie Aufsatzformen handelt und wie das jeweilige Textsortenwissen vermittelt werden kann. Die in neuerlichen Veröffentlichungen v.a. zu unterrichtlichen Umsetzungen zum materialgestützten Schreiben vorgenommene Fokussierung auf den Kommentar als Zieltextsorte scheint eine solche Einschätzung vor allem in Hinblick auf eine Anforderungstransparenz nahezulegen. Sowohl im Hinblick auf die Zieltextsorte als auch die verwendeten Formen der Argumentation stellt sich die Frage, ob nicht Schüler:innen auch über Fähigkeiten der Imitation verfügen müssen. Aus Sicht der Didaktik bliebe weiterhin zu diskutieren, ob den Lernenden nicht Schemata zur Verfügung gestellt werden müssen, die zum Argumentieren anleiten und die geforderten kommunikativen Funktionen vor allem der Positionierung und der Überzeugung lehren. Die Deutschdidaktik muss sich demnach der Aufgabe stellen, die Vermittlung von Schreibkompetenzen verstärkt in den Blick zu nehmen, da für den Deutschunterricht der Oberstufe auch heute vielfach noch gilt, was Ludwig bereits 1996 pointiert feststellte: „Daß auch in der reformierten Oberstufe unserer Schulen noch geschrieben wird, vielleicht sogar viel geschrieben wird, dürfte kaum zu bestreiten sein. Ob Schreiben aber auch gelehrt wird, d.h. Gegenstand von Unterricht ist, das ist die Frage.“2