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I.2 Das Aufgabenformat des materialgestützten Schreibens im Kontext der Geschichte des Schulaufsatzes

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Die 2012 von der KMK beschlossene Einführung des materialgestützten Schreibens steht in der Tradition von Aufsatzformen des Deutschunterrichts, die als Reaktion auf historische, gesellschaftliche, politische und ökonomische Entwicklungen gewertet werden können. Ziel ist es zu untersuchen, ob es Vorläufer und damit didaktische Anknüpfungspunkte des neuen Aufgabenformats gibt. Weiterhin gilt zu klären, in welcher Beziehung Literatur- und Schreibunterricht standen und wie sich das Schreiben über Literatur verändert hat. Es gilt das Verhältnis von Analysen im Gegensatz zu freieren Schreibformen abzuwägen. Ebenso wird die Rolle von Sachtexten für den Schreibprozess betrachtet, um sie dem polytextuellen Materialienverständnis beim materialgestützten Schreiben gegenüberzustellen. Eine historische Verortung konzentriert sich demnach auf die Debatten und Konflikte, die ein adressatenbezogenes, situiertes, auf unterschiedlichen Materialien basierendes Schreiben impliziert und nicht auf eine vollständige historische Darstellung der verschiedenen Aufsatzformen, die umfassend von Ludwig1 vorgenommen wurde. Es wird demnach in dieser Betrachtung darum gehen, einzelne Fakten auszuwählen und darzustellen, die für das materialgestützte Schreiben relevant sind. Damit formt der Diskurs die Betrachtung gleichermaßen wie die Kontingenz.2

Versucht man die gut 300jährige Geschichte des deutschen Aufsatzes zusammenzufassen, so soll in diesem Zusammenhang eine Eingrenzung auf den schulischen Aufsatz vorgenommen werden. Der Aufsatz selbst setzte sich in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts als Textsorte durch, die unterschiedliche Formen schriftlicher Beiträge subsumierte.3 Die Überlieferungsgeschichte bietet dabei ein Ordnungskriterium, das – Ludwig folgend4 – drei zentrale Entwicklungslinien enthält: Die Konzentration auf die Rhetorik, die den deutschen Aufsatz bis ins 18. Jahrhundert geprägt hat, das Ausbilden einer eigenen Tradition, die das 18. und gesamte 19. Jahrhundert beeinflusste, und das 20. Jahrhundert mit der Vorstellung des freien Aufsatzes. Für die inhaltliche Ausrichtung ist die Einteilung Helmers’ weiterführend, die erlaubt, die Vorläufer des materialgestützten Schreibens in den Blick zu nehmen. So unterscheidet Helmers5 den Imitationsaufsatz vom Reproduktions- und vom Produktionsaufsatz. Während der Imitationsaufsatz stark an die Form und damit an die antike Rhetorik gebunden ist, nimmt der Reproduktionsaufsatz die literarischen Stoffe in den Blick und fokussiert auf den Umgang mit diesen. Der Produktionsaufsatz hingegen hebt auf die Gestaltung und Selbstständigkeit der bis dahin überwiegend männlichen Schüler ab. Auf diese Einteilung wird am Ende dieses Kapitels noch einmal zurückgegriffen: Sie soll die Basis einer Auswertung der Einflüsse der Geschichte des deutschen Aufsatzes für das materialgestützte Schreiben darstellen. Um einschätzen zu können, warum es im Laufe der Geschichte des Aufsatzes immer wieder zur Weiterentwicklung und damit verbunden auch zur Ablehnung des Bestehenden gekommen ist, bietet es sich an, auf Helmers’ Dreieck des Gestaltens6 zurückzugreifen:

Abb. 2:

Helmers’ Dreieck des Gestaltens

Diese Übersicht erlaubt, die einzelnen Aufsatzformen in Bezug auf vorgenommene Schwerpunkte einzuschätzen. Da das materialgestützte Schreiben sowohl auf die Wirksamkeit, die Sachgemäßheit und die Wahrhaftigkeit der Positionen abhebt und damit alle drei Aspekte in den Blick nimmt, soll im Folgenden untersucht werden, auf welche der jeweiligen Strömungen der Aufsatzvermittlung vorwiegend fokussiert wurde.

Die Entwicklung eines Deutschunterrichts und damit verbunden von eigenen Aufsatzformen ist von den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren der jeweiligen Zeit maßgeblich beeinflusst. Juliane Eckard7 verweist in ihrer Einführung zu Theorien des Deutschunterrichts auf den Zusammenhang zwischen historischen und ökonomischen Bedingungen und zeigt die Einflussnahme auf Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts auf. So könne die Einführung des Deutschen als Unterrichtssprache als Zeichen der Emanzipation des Bürgertums vom Feudaladel verstanden werden. Die Schwierigkeiten, das Fach Deutsch im Lehrplan zu etablieren, demonstriert die Machtansprüche der Herrschenden, einen humanistischen Bildungsanspruch und damit das Lateinische zu verteidigen und die Vermittlung des Lesens und Schreibens in den Blick zu nehmen. Galt im Mittelalter, dass der „gute Theologe (…) der gute Sprachenlehrer“8 ist, vollzog sich spätestens im 19. Jahrhundert eine Verdrängung der Theologie durch die Literaturwissenschaft. Helmers merkt kritisch an: „Nicht die Theorie des künftigen Berufs wird als Grundlage der Berufsausbildung angesehen, sondern die Theorie der Literatur.“9

Aus diesen differierenden Ansprüchen resultiert die Deutschland noch immer prägende Dreigliederung des Schulsystems, die sich mit den Erfordernissen konfrontiert sah – und immer noch sieht –, eine breite Bildung der Gesellschaft im Sinne einer „Volksaufklärung“10 vorzunehmen, die ökonomischen Interessen der Gesellschaft zu befriedigen, eine Mittelschicht auf den Beruf vorzubereiten sowie humanistische Bildungsideale in der Tradition des Lateinunterrichts hochzuhalten. Im Zuge der sich in Europa durchsetzenden Industrialisierungen wurden zunehmend auch naturwissenschaftlich ausgebildete Arbeitskräfte benötigt, die in der Bildung von Realgymnasien mündeten. Das Wahren traditioneller Werte und Inhalte konkurrierte demnach mit den ökonomischen Interessen und den gesellschaftlichen Forderungen nach Partizipation.

Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive

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