Читать книгу Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive - Nicola König - Страница 7

I Zur Geschichte und Verortung des Aufgabenformats des materialgestützten Schreibens I.1 Die Genese der Einführung des materialgestützten Schreibens

Оглавление

Die 2012 in Kraft getretenen Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (BS AHR) stehen für eine Reform des Schreibunterrichts in der Sekundarstufe II, so postulieren Neumann und Steinhoff.1 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den Intentionen der Reform, d.h. ihrem Zielpunkt, aber auch nach dem Ausgangspunkt: der Geschichte des Schreibens im Deutschunterricht. Die Neuerungen betreffen besonders die Bedeutung der pragmatischen Texte im Rahmen von Textproduktionen, die Fokussierung auf die Schreibprozesse und die Textfunktion, die das Informieren, Argumentieren und das Erklären betont und damit ein Gegengewicht zum Analysieren und Interpretieren literarischer Texte darstellt.2 Für den Schreibunterricht erfordert diese Akzentuierung eine veränderte Auseinandersetzung mit Texten, sollen diese für die eigene Textproduktion nutzbar gemacht werden, sowie einen hohen Reflexionsgrad: Beides sind zentrale Kompetenzen, die für ein Schreiben in Beruf und Schule erforderlich sind.

Wenn in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife im Jahre 2012 erstmals explizit das Aufgabenformat des materialgestützten Schreibens auftaucht, dann muss, um die Intention der Einführung des neuen Aufgabenformates einschätzen zu können, diese im Zusammenhang mit der Anschlussfähigkeit an die Bildungsstandards des Mittleren Schulabschlusses (BS MSA) betrachtet werden. Desweiteren ist die Betonung der kommunikativen Funktionen des Schreibens relevant, die „für das Studium, die Berufsausbildung und erfolgreiches Handeln im Beruf erforderlich sind“3. Zwar wird in den BS AHR auf die „Entwicklung der Argumentations- und Reflexionsfähigkeit“ abgehoben,4 jedoch wird die Ausbildung der Wissenschaftspropädeutik, auf die in neueren Publikationen verwiesen wird, nicht explizit eingegangen.5

Mit der Einführung des neuen Aufgabenformats ist der Wegfall des gestaltenden Schreibens in der schriftlichen Abiturprüfung verbunden.6 Damit steht das materialgestützte Schreiben in den beiden Ausprägungsformen des Verfassens informierender und argumentierender Texte neben den Aufgabenarten der Erörterung, der Interpretation und der Analyse. Der Wegfall des gestaltenden Schreibens markiert somit eine Neuorientierung der Schreibdidaktik, die im Verlauf der Arbeit näher ausgeführt werden soll. Ob die Schwierigkeiten einer Bewertung von kreativen Textprodukten für den Wegfall entscheidend waren oder aber die Orientierung an Schreibprodukten, die stärker an der Berufswelt oder dem Studium ausgerichtet sind, darüber kann nur spekuliert werden. Die Kritik an den Ansätzen des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts aber deutete bereits auf eine derartige Entwicklung hin.7

Dass das materialgestützte Schreiben in der didaktischen Diskussion auf eine Geschichte zurückgreifen kann und keineswegs ein vollständig neues, von fachwissenschaftlichen Diskursen abgekoppeltes Phänomen ist, machen Abraham, Baurmann und Feilke in ihrem Basisartikel in der 2015 zum materialgestützten Schreiben publizierten Praxis Deutsch-Ausgabe deutlich, indem sie auf Unterrichtsmodelle mit materialgestützten Schreibaufgaben verweisen, die bis in das Jahr 2001 zurückreichen.8 Ebenso betonen die Autoren, dass das materialgestützte Schreiben ein Aufgabenformat für alle Schulstufen ist.9 Obwohl dieses explizit in den BS AHR eingeführt wurde, muss es in der Unter- und Mittelstufe angebahnt werden.10

Markiert die Einführung 2012 in den Bildungsstandards einen Paradigmenwechsel, dann ergeben sich daraus gleichermaßen didaktisch-methodische Herausforderungen wie Fragen der Anschlussfähigkeit. So wird in den BS MSA explizit betont, dass die Umsetzung der Bildungsstandards die Chance bietet, „eine anforderungsbezogene Aufgabenkultur“11 zu entwickeln. Aus diesem Grund ist es erforderlich, das Aufgabenformat des materialgestützten Schreibens im Kontext der Bildungsstandards für den Mittleren Bildungsabschluss zu betrachten, der bereits 2004 für das Fach Deutsch eingeführt wurde: Zwar taucht hier der Begriff des materialgestützten Schreibens nicht explizit auf, jedoch wird im Kompetenzbereich Schreiben als Standard zum Texte planen angeführt, dass die Schüler:innen „gemäß den Aufgaben und der Zeitvorgabe einen Schreibplan erstellen, sich für die angemessene Textsorte entscheiden und Texte ziel-, adressaten- und situationsbezogen, ggf. materialorientiert konzipieren [Hervorhebung durch die Verfasserin]“12 sollen. Auch im Zusammenhang mit der Textüberarbeitung wird explizit auf die Schreibsituation und den Schreibanlass abgehoben. Werden die näher zu erbringenden Leistungen konkretisiert, dann heißt es im Anforderungsbereich II: „Bezüge in Texten bzw. Materialien erkennen, um Aussagen zu erfassen“13. Im Zusammenhang mit der Konstruktion von Aufgaben sollen auch thematisch orientierte Textzusammenstellungen angeboten werden. Der Prozesscharakter des Schreibens wird betont.

Dass diese Forderungen in den BS MSA auf Aufgaben im Sinne des materialgestützten Schreibens hinauslaufen, verdeutlicht die angegebene Beispielsaufgabe 114: So wird das „Verfassen eines journalistischen Textes auf der Grundlage korrespondierender Materialien (Aufgabenart: Von einer Textgrundlage ausgehend. Argumentieren, erörtern)“ am Beispiel des Themas „Alkohol: Lebensfreude oder Abhängigkeit?“15 gefordert. Als Materialien werden ein Interview, ein Sachtext sowie Diagramme angeboten. Auch die angeführten Teilaufgaben heben darauf ab, dass die den Materialien entnommenen Informationen in einen eigenen Text überführt werden, der eine klar festgelegte Adressierung hat: „Entnehmen Sie den vorgelegten Texten und der Grafik die geeigneten Informationen, Aussagen und Hinweise und schreiben Sie auf dieser Grundlage einen informierenden Artikel für eine Schülerzeitung zum Thema „Alkohol“! Zeigen Sie in Ihrem Artikel Möglichkeiten auf, wie man dem Alkoholkonsum von Jugendlichen vorbeugen könnte.“16 In den Lösungsvorschlägen wird auf das intentions- und adressatenbezogene Schreiben abgehoben.

Zwar kann man im Sinne des materialgestützten Schreibens bei der Präsentation von drei Materialien noch nicht von einer Materialfülle sprechen und auch das Thema ist nicht domänenspezifisch, wie es in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife gefordert wird. Trotzdem wird hier von den Schülerinnen und Schülern ein adressatenorientiertes und zieltextgebundenes Schreiben gefordert. Die Informationen der Materialien müssen in einen eigenen Text überführt werden. Die Materialmenge und eine Konzentration auf ein informierendes Schreiben dürften dem Entwicklungsstand der Schüler:innen angepasst sein. Dass 2012 in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife das materialgestützte Schreiben erstmals auftaucht, kann demnach als logische curriculare17 Fortführung der Forderungen und Standards des Mittleren Bildungsabschlusses verstanden werden.

Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive

Подняться наверх