Читать книгу Youtasia - Nicola Strekow - Страница 6
~ Kapitel 3 Wenn die Welten sich vermischen ~
Оглавление„Es war nicht deine Schuld, Branko“, versucht Keeth seinen Freund zu beruhigen.
„Ich habe sie gerufen … Ich rief, dass sie nicht weitergehen soll … Sie reagierte nicht, ging einfach …“, sagt Branko noch immer abwesend.
Er scheint immer noch nicht auf Keeth zu reagieren. Stattdessen setzt er konzentriert einen nackten Fuß vor den anderen, während er mit seinem Monolog fortfährt.
„Es sah fast so aus, als wenn sie …“ Ein Schluchzen unterbricht seine lauten Gedanken und lässt ihn kurz innehalten. „Als wenn sie es bewusst getan hätte, um diesem grässlichen Leben zu entkommen. Ich rannte zu ihr, versuchte sie aufzuhalten … Doch ich war zu spät!“
Keeth seufzt. Er weiß ganz genau, was damals passiert ist. Branko ist nie darüber hinweggekommen, dass seine jüngere Schwester Jaden hier in dieser Höhle vor vier Jahren tödlich verunglückt ist. Ein Phänomen, das sich bis heute Niemand erklären kann. Zielstrebig war sie einfach auf diesen Abgrund, der sich in der Höhle befindet, zugegangen. Auf Brankos Rufe reagierte sie nicht und bevor er den Ernst der Lage erfassen konnte und sie hätte stoppen können, hatte sie sich in die Tiefe gestürzt. Sie hatte im Fallen nicht einmal geschrien oder ihm zugerufen. Keeth schüttelt es bei dem Gedanken an diese grausigen Ereignisse. Dass die faulenden Überreste der Schwester und Freundin vielleicht nur wenige hundert Meter weiter unten von ihnen entfernt liegen könnten, wollte er sich gar nicht vorstellen.
Tränen laufen Branko über seine Wangen, während er sich weiter Schritt für Schritt der finsteren Stelle nähert. Brankos Knie geben nach, wollen sein Gewicht nicht mehr tragen. Sie zittern regelrecht. Schluchzend fällt er nur wenige Zentimeter vor dem Abgrund auf die Knie, in den seine Schwester damals stürzte. Er vergräbt das Gesicht in seinen Händen, während Keeth sich dem Freund vorsichtig nähert.
„Meine Mutter hat so oft versucht sie zu erreichen, aber ihre Seele antwortete nie … Als ob … als ob sie nie gelebt hätte … nie existiert hat …“, ruft Branko in seine Hände hinein.
Behutsam legt Keeth eine Hand auf Brankos bebende Schultern. Brankos Stimme verstummt, sein Brustkorb hebt und senkt sich unregelmäßig unter dem Schluchzen, während er sich die Tränen und den Rotz mit einer Hand aus dem Gesicht wischt und versucht, seine Fassung wieder zu erlangen. Hilflos blickt Keeth zu ihm herab. Dann kippt Branko entkräftet rücklings um.
Bitte, lass ihn jetzt keine Herzschwäche haben!, betet Keeth ängstlich und fällt ebenfalls neben seinem Freund auf die Knie. Erleichtert stellt er fest, dass Branko bei Bewusstsein ist. Er starrt stumm an die Höhlendecke, die er aber vor Dunkelheit nicht sehen kann. Von oben tropft vereinzelt eine salzige, leicht modrige Flüssigkeit auf ihn herab – auf seinen Bauch, seine Oberschenkel, seine Brust. Schweigend und in Gedanken, sitzend und liegend, stieren sie beide in Richtung des tödlichen Schlunds.
„Branko! Du bist da?“
Mit einem Satz schnellt Branko plötzlich in die Senkrechte und blickt entsetzt in alle Richtungen.
„Hast du das gehört?!“, ruft Branko.
Keeth nickt und blickt sich etwas ängstlich um. Doch es ist niemand zu sehen.
„Branko! Ich konnte fliehen! Aber ich brauche deine Hilfe!“, erklingt die weibliche Stimme wieder in Brankos Kopf.
Für ihn hallt sie von den Höhlenwänden wider und ist verzerrt. Doch Branko hat keinerlei Zweifel daran, wem diese Stimme gehört. Ein grelles Licht durchfährt plötzlich die Höhle. Ächzend reißen sich die beiden jungen Männer die Hände schützend vor ihre Augen und wenden ihre Köpfe ab. Nur langsam ebbt das Licht ab und die beiden heben ihre Blicke wieder. Was sie sehen, raubt ihnen den Atem: Dort, in dem grellen Schein, scheint jemand zu stehen. Eindeutig ist eine Silhouette zu erkennen, die sich immer deutlicher aus dem Licht heraushebt. Etwas materialisiert sich, die Projektion einer jungen Frau … Es ist … Jaden!
Oh, großer Gott. Sie sieht aus wie damals!, sind Brankos erste Gedanken, als er das Abbild seiner toten Schwester erblickt.
Das strohblonde lange Haar mit den leichten Locken, diese sehr zierliche, mädchenhafte Gestalt in dem viel zu weiten blassroten Kleid, das zerschlissen zu sein scheint und ihr wie Fetzen am Körper hängt. Dieses unglaubliche Himmelblau ihrer Augen leuchtet. Ihr Blick ist fest und fixiert nur Einen von ihnen: Branko.
„Ich bin es wirklich, ihr dürft es glauben“, spricht die schimmernde Gestalt, die genau über dem Abgrund schwebt.
Keeth öffnet vor Erstaunen und Unglauben seinen Mund. Als ihm bewusst wird, wie verdutzt er wohl ausschauen muss, schließt er ihn unauffällig wieder. Er kann nicht fassen, was er dort sieht. In Branko toben die Gefühle, nein, ein wahres Gefühlschaos. Er will aufspringen und zu ihr rennen, sie umarmen, will lachen und weinen gleichzeitig. Aber der feste Blick ihrer Augen setzt ihn auf seinem Platz fest. Etwas stimmt hier nicht, das ist für ihn eindeutig.
„Ich habe nicht viel Zeit“, erklärt Jaden. „Ich brauche deine Hilfe, Branko. Ich habe Schreckliches durchlebt und noch Schlimmeres erfahren! Ich war lange eingesperrt. Ich konnte lange Zeit nicht fliehen … Erst jetzt ist es mir gelungen …“
Während sie spricht wird ihre Stimme deutlich leiser. Sie scheint langsam zu verstummen, auch ihre Projektion fängt an zu verblassen.
Es scheint sie viel Kraft zu kosten, sich uns zu zeigen und mit uns zu reden, durchfährt es Branko. Ihre Erscheinung wird jetzt schon wieder schwächer …
„Ich werde verfolgt.“ Die hallende Stimme Jadens klingt nun nicht mehr sicher und fest, vielmehr zittrig und ängstlich. Ganz eindeutig hat sie große Furcht. „Sie sind schon auf dem Weg, um mich zurückzuholen, da bin ich mir sicher! Ich muss gleich wieder gehen, sonst finden sie mich!“
Panisch blickt sich die Erscheinung in der Höhle um, als vermute sie, dass gleich ihre Verfolger aus den undurchdringlichen Gesteinswänden herausgesprungen kämen, um sie einzufangen.
„Wer sind ‚sie‘ und wohin willst du gehen?“, will Branko wissen.
Wer - um Gottes Willen - hat meiner Schwester das alles angetan? Wer verfolgt sie?, denkt er.
Jaden schüttelt verzweifelt den Kopf und ringt mit ihren Händen.
„Dafür ist jetzt keine Zeit, Branko, ich muss fliehen!“ Undeutlich sehen die jungen Männer, dass Jaden auf ihren Lippen kaut und nachzudenken scheint.
„Bitte, Branko, sag’ unserer Mutter Bescheid, dass ich wieder da bin! Ich brauche mehr Energie. Sie weiß sicher was zu-“
Plötzlich versiegt die Stimme der Erscheinung endgültig. Die Lippen bewegen sich noch, doch es kommt kein Ton mehr von ihnen. Wie bei einem Film, dessen Tonspur versagt. Jadens Lichtgestalt flimmert immer stärker, die Abstände des Flackerns werden mit den Sekunden immer kürzer. Verwirrt und verzweifelt blickt Branko das ehemalige Bild seiner Schwester an.
„Jaden?!“, ruft er unsicher und mit ansteigender Panik. Nach einem letzten grellen, blendenden Aufleuchten ist Jadens Abbild so schnell verschwunden, wie es aufgetaucht ist. Verzweifelt streckt Branko die Arme nach der verblassenden Gestalt aus, krabbelt ängstlich in ihre Richtung, ruft dabei immer wieder ihren Namen.
„Jaden! Jaden!“
Geistesgegenwärtig stürzt Keeth sich auf ihn und bewahrt ihn so davor, selbst in den tödlichen Abgrund hinabzustürzen, den Branko anscheinend vollkommen ausgeblendet hat.
„Bist du verrückt, Mann?!”, brüllt Keeth empört, während er sich von dem Freund wieder herunterrollt. Doch Branko hört ihn nicht. Platt und mit ausgestreckten Armen liegt er auf dem Bauch, spürt dabei den kalten, harten Höhlenboden und ruft immer wieder wimmernd den Namen seiner Schwester in die wieder entstandene Dunkelheit. Die scharfen Steinkanten, die sich in seine Haut bohren und sie an manchen Stellen aufreißen, fühlt er kaum. Sein aufsteigender emotionaler Schmerz ist zu groß. Auch Keeth, der nun hinter ihm steht und versucht, ihn an den Füßen vom Abgrund wegzuzerren, nimmt er immer noch nicht wahr.
War das real?, fragt sich Branko, während Keeth ihn ächzend über den felsigen Boden schleift und spitze Steinkanten Hemd und Teile seiner Brust weiter aufreißen.
War sie es wirklich oder halluziniere ich nur?! Aber wenn es wirklich wahr ist, muss ich Mutter Bescheid sagen. Wir müssen ihr helfen! Wo ist sie eingesperrt? Wer sperrt sie all die Jahre ein? So viele Fragen strömen Branko durch den Kopf. Er merkt dabei, wie seine Kraft schwindet und alles um ihn herum beginnt sich zu drehen. Dann wird es schwarz um ihn herum.
Branko liegt auf dem Höhlenboden, seine Augenlider zittern. Doch sie sind zu schwer, er kann sie einfach nicht öffnen.
Will ich das denn überhaupt?
Die Erinnerung an einen wirren Traum hängt in seinem Kopf. Er hat von Jaden geträumt. Sie war wieder da, hat zu ihm gesprochen und um Hilfe gefleht … Seine wunderschöne, arme, tote Schwester … Immer wieder will sein Unterbewusstsein ihn - der Verstorbenen gleich - in die Tiefe ziehen. Dann hört er ein leises Knistern und spürt eine wohlige Wärme auf seiner kalten klammen Haut. Hinter seinen Lidern flackert etwas hell.
Ist sie wieder da? War es doch nicht nur ein Traum?
Nach unzähligen Versuchen gelingt es ihm endlich, mühselig die Augen zu öffnen. Was er dann erblickt, lässt ihn wünschen, doch wieder in die Tiefe seines Unterbewusstseins hinab tauchen zu können. Er ist tatsächlich in dieser Höhle, in der er Jaden augenscheinlich gesehen zu haben glaubt - es war nicht nur ein Traum! Einige Schritte von ihm entfernt brennt ein Lagerfeuer. Das Licht wirft unheimliche Schatten an die Höhlenwände.
War Keeth nicht hier?
Aber Keeth ist nirgends zu sehen. Branko versucht erst einmal, seine wirren Gedanken zu ordnen, versucht sich klar zu machen, was geschehen ist.
Was ist nur passiert? Hab‘ ich das alles nur geträumt oder war Jaden wirklich wieder da? Aber wenn sie hier war, wo ist Keeth? Wieso sollte er mich allein zurücklassen, wenn er wirklich hier war?
Branko versucht aufzustehen, doch ein ziehender Schmerz lässt ihn aufjaulen und zurücksinken.
„Ah! Scheiße! Was zum …?!“, ruft er laut in die Höhle.
Irritiert führt er die Hände vor sein Gesicht und betrachtet sie. Sie sind schwielig, die Nägel eingerissen, die Nagelhaut quasi zerfetzt. Das ist nichts Neues für ihn. Auch die Schnitte und Risse auf den Handrücken wundern ihn nicht. Allerdings sind nun auch seine Handflächen aufgerissen, das Blut ist an manchen Stellen noch nicht ganz getrocknet. Er folgt an seiner rechten Hand den roten Striemen hinauf über seinen Unterarm. Schließlich hebt er den Kopf, um seinen restlichen Körper betrachten zu können. Sein gräulich-blaues Shirt ist fast vollständig in Streifen gerissen und stellenweise braun verfärbt. Oft genug hat Branko getrocknetes Blut gesehen, um es selbst im schwachen Feuerschein erkennen zu können. Ihn erschrecken seine offensichtlichen Verletzungen nicht wirklich. Ihn interessiert viel mehr, was geschehen ist, seitdem er das Bewusstsein verloren hat.
Und wo ist Keeth, verdammt?
Mit dem Ende dieses Gedankens sieht er eine Hand durch den Wasserfall greifen. Sie kommt ihm so groß vor, dass eine plötzliche Panik von ihm Besitz ergreift. Im Feuerlicht erscheint sie gelblich. Branko will aufstehen. Sein Instinkt sagt ihm, dass er wegrennen soll, doch seine Verletzungen hindern ihn daran aufzustehen. Zudem ist die einzige Möglichkeit zu flüchten, nach vorne hinaus aus der Höhle durch den Wasserfall. Er würde diesem Fremden direkt in die Arme laufen. Und was wäre, wenn es ein Dämon ist?
Wie gelähmt starrt er auf die immer näherkommende Hand und den Arm, der sich daran anschließt. Sein Puls rast, als eine zweite Hand sich ihren Weg durch das Wasser bahnt.
„Keeth? Keeth, bist du das?!“, ruft er hoffend den Armen entgegen.
Unter Aufbietung seiner verbleibenden Kräfte stemmt Branko sich auf seine Unterarme und schiebt sich mühselig in den Schutz der Dunkelheit weiter in die Höhle. Ein zweites Paar Hände greift durch den tosenden Wasserfall.
Oh, nein, das sind zwei Dämonen! Gegen zwei habe ich nun wirklich keine Chance … Jetzt ist es aus!, denkt Branko panisch. Mein Leben geht zu Ende! Was passiert jetzt mit Jaden?! Es tut mir so leid, dass ich dir nicht helfen kann! Damals nicht und heute nicht. Wahrscheinlich ist es besser, wenn ich sterbe. Ich hoffe, Mutter wird das alles alleine überleben … Gott schütze-
Branko wird in seinen Gedanken jäh unterbrochen, als sich die beiden zu den Händepaaren gehörenden Körper unter Ächzen und Stöhnen durch den Wasserfall drücken. Sein Herz setzt einen Schlag lang aus, seine Atmung versagt fast, er hält die Luft an, seine Augen sind weit aufgerissen. Jetzt sind sie in der Höhle! Er will nur weg!
Dann fällt ihm ein tonnenschwerer Stein vom Herzen. Erleichtert stößt er die angehaltene Luft aus den Lungen, als er Keeth erkennt. Die zweite Person sieht ihm zuerst ähnlich, scheint aber weiblich zu sein. Ist das Lysha? Was zum großen Gott will denn Keeth‘ Cousine hier?
Sie wuchten einen kleinen Jutesack hinter sich hoch. Erschöpft lassen sich die beiden auf den steinigen Boden fallen und atmen die feuchte Luft tief ein und aus. Branko hat seine Fassung wiedergefunden.
„Keeth, was zum Teufel denkst du dir dabei, Lysha herzubringen?“, ruft Branko entsetzt.
Er ist verwundert darüber, was ihm da über die Lippen kommt. Eigentlich wollte er eher fragen, wo Keeth gesteckt hat.
„Wo warst du, verdammt?“, setzt er dann doch noch nach.
Mühselig rappelt sich Keeth wieder auf und hilft seiner Begleitung ebenfalls auf die Beine. Mit dem geschulterten Sack kommen sie auf Branko zu. Achtlos lässt Keeth den Beutel vor Brankos ausgestreckte Beine fallen und lässt sich dann im Schneidersitz neben diesem nieder. Lysha bleibt neben dem Feuer stehen, dreht ihr sanddornfarbenes langes Haar ein und wringt einen nicht unerheblichen Schwall Wassers aus diesem heraus. Das Gleiche wiederholt sie mit ihrem arg mitgenommenen roten Shirt, bevor sie sich etwas von den Männern entfernt in der Nähe des Feuers niederlässt.
„Lass mich doch erstmal Luft holen und freu dich lieber, dass wir hier sind“, pampt Keeth zurück.
„Was sollte ich denn tun?! Als du das Bewusstsein verloren hast, hab’ ich die Zeit genutzt, uns was zu Essen zu organisieren.“ Beiläufig nickt er mit dem Kopf in die Richtung seines weiblichen Mitbringsels und zuckt dann entschuldigend mit den Achseln.
„Ich war dann schon fast wieder auf dem Rückweg, als Lysha mir hinterher gebrüllt hat.“
„Wenn du einfach mal Bescheid gesagt hättest, bevor du für Stunden verschwindest, hätte gar nicht nach dir suchen brauchen!“, meldet sich Lyshas Stimme.
Keeth ignoriert sie, als er fortfährt:
„Naja du kennst sie ja, sie ist nicht wirklich leise … Sie hätte nur die Wächter aufgeschreckt. Ich wollte eigentlich, dass sie zurück in den Unterschlupf geht. Du kannst dir denken, wie sie diesen Vorschlag fand … Natürlich ist sie mir trotzdem gefolgt. Und nun ja, jetzt ist sie halt hier. Sie ist einfach zu stur … Naja, liegt wohl in der Familie“, sagt Keeth augenverdrehend und schüttelt theatralisch den Kopf.
Lysha hört ihrem Cousin indessen nicht zu, sondern bläst sich warmen Atem in die kalten Handflächen und rutscht so nah wie möglich ans wärmende Feuer.
„Klar, das klingt nach Lysha“, bestätigt Branko. „Und jetzt? Kannst du mir mal verraten, wer mich so zugerichtet hat? Meine Erinnerungen sind so verschwommen … Das kann alles nicht real sein. Ich habe geträumt, dass Jaden wieder da ist … Mein Kopf spielt mir bestimmt schon wieder Streiche. Vermutlich, weil ich solange nichts gegessen und getrunken habe …“
„Dann halt endlich die Klappe und iss was!“, unterbricht ihn Lysha rüde.
Sie erhebt sich wieder von ihrem Platz und öffnet den mitgebrachten Sack. Dann schüttet sie viele verschiedene Beeren, essbare Blätter und Wurzeln in ein verdrecktes Leinentuch.
„Und wenn du fertig bist, reden wir weiter. Keeth hat mir erzählt, was passiert ist. Und wenn das alles wahr ist, solltest du bald wirklich wieder etwas klarer bei Verstand sein“, sagt sie.
Dann rückt sie noch ein Stück näher an Branko heran und betrachtet ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem verschmitzten Lächeln. Sie hält ihm das Tuch mit den Beeren hin.
„Wenn das überhaupt möglich ist bei dir, du Chaot!“, setzt sie noch hinzu.
Verunsichert von ihrer Nähe und ihrem seltsamen Tonfall, klaubt Branko mit zittrigen Fingern einige der Beeren aus dem Tuch. Er bemüht sich, langsam zu essen. Doch jede Faser seines Körpers schreit nach Nahrung und letztendlich lässt er alle Selbstbeherrschung fahren und stürzt sich wie eine Bestie auf das Essbare.
„Branko, langsam! Sonst verschluckst du dich noch!“, tadelt ihn Lysha mütterlich. „Wir nehmen dir doch nichts weg, wir haben bereits im Wald gegessen.“
Lysha lässt ihren Blick nun über Brankos geschundenen Körper wandern. Die Musterung löst ein unbehagliches Gefühl in ihm aus, doch tapfer beschließt er, sie zu ignorieren und weiter zu essen. Sein Magen knurrt bereits protestierend und freut sich darauf, gefüllt zu werden. Noch ehe Branko sich‘s versieht, stürzt sich Lysha auf ihn und reißt ihm skrupellos die letzten Überreste seines Hemds vom Körper. Schockiert lässt er die Beeren fallen, die er gerade in die Hand genommen hat, und streckt abwehrend seine Hände aus. Bedrohlich hockt sie nun über ihm, ein süffisantes Lächeln kräuselt ihre fein geschwungenen Lippen.
„Mein Gott, Lysha, was soll das?“, brüllt Branko sie an.
„Was denn? Nicht so schüchtern, mein Süßer.“
„Soll ich euch allein lassen?“, mischt Keeth sich nun ein, verdreht wieder die Augen, kann aber die Belustigung in seiner Stimme kaum unterdrücken.
„Nein! Lass mich nicht allein mit dieser Irren“, ruft Branko halb verunsichert, halb verzweifelt.
„Keine Sorge, Branko. Ich glaub‘, sie weiß, was sie tut“, sagt Keeth und erhebt sich.
Anscheinend will er sie beide tatsächlich alleine lassen.
„Und was dir guttut!”, setzt Lysha augenzwinkernd hinzu.
„Wehe, du gehst jetzt, Keeth!“, ruft Branko.
„Komm schon Branko, stell dich nicht so an. Ich will doch nur deine Schmerzen lindern und deinen Kummer vertreiben“, flötet Lysha keck weiter.
Branko kann nicht glauben, dass das gerade tatsächlich passiert. Offensichtlich träumt er noch immer. Er kann hier gar nicht wirklich in einer düsteren Höhle mit aufgerissenem Oberkörper liegen, unfähig sich zu rühren und auf sich eine wirklich attraktive junge Frau sitzen haben, die ihn ganz eindeutig verführen will. Und das nicht einmal diskret und in Gegenwart ihres Cousins, der das Ganze offensichtlich auch noch unterstützt. Seine Lenden schlagen Alarm und er versucht sich zu beherrschen.
Was stimmt hier eigentlich nicht?!, fragt sich Branko.
Er fühlt, wie ihm die Hitze in den Kopf steigt. Er ist einfach nur völlig durcheinander. Die Situation scheint ihm vollends zu entgleisen, als Lysha sich plötzlich in den Ausschnitt greift.
Die zieht sich jetzt nicht wirklich aus, oder?, schießt es Branko durch den Kopf.
Doch seine Befürchtungen werden gemindert, als sie eine kleine Tube aus ihrem Shirt hervorzieht, diese aufschraubt und etwas von der orange-roten Salbe zwischen ihren Händen verreibt.
„Ich bin auch ganz vorsichtig, auch wenn es jetzt ein wenig wehtun könnte.“
Verunsichert schaut Branko zwischen Keeth und Lysha hin und her. Keeth bricht nun in schallendes Gelächter aus. Auch Lysha trägt ein breites Grinsen auf den Lippen. Mit einem Satz ist nun auch Keeth bei ihm und packt seine Handgelenke.
„Hey! Was soll die Scheiße?“ Panisch versucht Branko sich aus seinen Griffen und von ihrem Gewicht auf seinen Beinen zu befreien.
„Wollt ihr mich umbringen?“, ruft er.
„Versuch erst gar nicht dich zu befreien. Ich bin zwar leicht, aber mich kriegst du so leicht nicht weg.“ Fast mitleidig blickt Lysha auf ihr Opfer hinab, während sie noch immer ihre Hände knetet.
„Es tut mir so leid, Branko. Aber wir müssen es tun, wir haben keine Wahl.“
Branko glaubt zu sehen, wie sich die Blicke von Lysha und ihrem Cousin verdunkeln. Plötzlich schnellen ihre Hände auf Brankos Kehle zu. Panik und Adrenalin schießen durch seinen Körper, er bäumt sich auf, will ihr ausweichen. Doch Keeth ist plötzlich hinter ihm und drückt seine Hände gnadenlos zu Boden. Auch Lyshas scheinbares Fliegengewicht scheint sich keinen Millimeter von ihm herunter zu bewegen. Gerade in dem Moment als Branko befürchtet, dass sein Geist ihn bereits vor dem tödlichen Würgegriff ins Bodenlose befördern würde, ändert Lysha den Kurs. Ihre Hände erreichen seine Kehle nicht. Stattdessen stoppt sie kurz davor und legt ihre kalten eingeriebenen Handflächen auf seine Brust und lässt sie über seinen Oberkörper wandern. Branko fragt sich noch schockiert, ob ihm das jetzt lieber sein soll, als ein Mordversuch, da schießt plötzlich ein entsetzlicher Schmerz durch seinen Körper. Sein Oberkörper brennt wie Feuer. Der Wunsch, doch noch in eine gnädige Ohnmacht zu fallen, wächst sekündlich in ihm. Doch sie will ihn nicht überkommen. Die Schmerzen holen ihn immer wieder in die Realität zurück.
„Ah, Lysha, bist du wahnsinnig? Was tust du da?! Bring mich doch einfach um, wenn du den Mumm hast!”, ruft Branko halb entsetzt.
„Halt’ still! Ich kann dich kaum festhalten“, presst Keeth hinter ihm zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Falls du dich übrigens gefragt hast, wieso du dich kaum noch bewegen kannst: Es waren die Beeren. Wir mussten dich betäuben, du hättest sonst nicht zugelassen-”, beginnt Lysha zu erklären.
„Was denn?! Dass ihr mich hinterhältig umbringt?“, fährt Branko dazwischen. Die Schmerzen rauben ihm beinahe den Atem, doch Lysha setzt die Prozedur unbeirrt fort.
„Ihr seid genau solche Bestien wie die Wächter! Ihr seid das Letzte!“, ruft er verzweifelt.
Doch bevor Branko seine Schimpftirade fortsetzen kann, merkt er, wie das unendliche Brennen und Stechen auf der Brust aufhört und einer wohligen Wärme und Linderung seiner Schmerzen weicht. Seine Gesichtszüge entspannen sich, genau wie seine Muskeln und sein ganzer Körper.
„Es tut mir leid, Süßer, dass ich dich verarschen musste“, behauptet Lysha mit entschuldigendem Lächeln und einem Blick, bei dem jede Zitrone sich in Zucker verwandelt hätte. „Aber ich hätte dir diese Salbe sonst nicht auftragen können. Und mir musste es doch auch ein wenig Spaß machen oder?“
Könnten Blicke töten, wäre Lysha in diesem Moment wohl zumindest bewusstlos zu Boden gegangen. Dieses egoistische kleine Biest! Würden diese paralysierenden Beeren und die seltsam lindernde Wirkung der Salbe ihn nicht so dermaßen beeinflussen, würde Branko die Salbe nehmen und sie ihr direkt in ihr schönes Gesicht reiben. Und Keeth würde er sein dämliches Grinsen mit dieser Salbe direkt von den Lippen polieren. Doch statt seine Wut herauszuschreien, murmelt er nur:
„Ihr seid scheiße … Und jetzt geh runter von mir, Lysha.“
Kichernd rollt Lysha sich von ihrem Freund herunter und setzt sich wieder zurück ans Feuer.
„Tut mir leid Branko, aber es war zu witzig“, versucht Keeth zu erklären.
„Ja, zum totlachen!“, murmelt Branko sarkastisch.
Dann seufzt er und wechselt plötzlich das Thema.
„Also, solange ich mich nicht bewegen kann, erzählt mir mal, was hier passiert ist und was ich oder wir hier machen.“
Keeth erzählt Branko, was vorgefallen ist und auch, dass Jaden wirklich hier erschienen war, dass dies alles kein Traum gewesen ist.
„Also ist sie wirklich zurück?! Wir müssen sofort zu meiner Mutter!“
Branko möchte am liebsten sofort aufspringen und seinen Worten Taten folgen lassen. Aber die Wirkung der Beeren steckt noch zu tief in seinen Knochen. Es gelingt ihm kaum, sich aufzusetzen. Keeth schüttelt den Kopf und streicht sich nachdenklich über den kleinen Kinnbart.
„Nein, wir müssen heute Nacht hierbleiben. Hier sind wir sicher vor den Wächtern. Morgen werden wir zurückgehen und überlegen was wir tun.“ Er wirft dem Freund einen strengen Blick zu. „Branko, wir dürfen uns gerade jetzt keine Fehler mehr leisten!“
Branko seufzt ergeben.
„Du hast recht. Doch Mutter wird wissen, was wir tun können. Wenigstens um Jaden mehr Energie und Kraft zu liefern“, sagt er.
Langsam realisiert Branko die ganze Situation und wie absurd das alles ist. Seine Gedanken beginnen wieder zu rasen. Irgendwann überkommt ihn Müdigkeit, denn er ist immer noch nicht ganz bei Kräften.
Als die Sonne aufgeht und das Tageslicht durch den Wasserfall bricht, wachen die drei langsam auf. Branko kann sich mittlerweile wieder etwas besser bewegen. Er streckt seine Gliedmaßen, um die Steifheit aus ihnen zu vertreiben und richtet sich dann ganz langsam auf. Auch Lysha und Keeth erwachen langsam, stehen auf und sammeln die Überreste der letzten Nacht auf, um sie mitzunehmen. Im Licht der ersten Sonnenstrahlen verlassen sie ihr Versteck in der Hoffnung, dass die Wächter dort draußen noch schlafen …