Читать книгу Youtasia - Nicola Strekow - Страница 7
~ Kapitel 4 Die Suche beginnt ~
Оглавление„D as ist ja wirklich nicht zu fassen! “
Entrüstet stampft der kleine Mann mit dem linken Fuß auf den Boden, wobei ihm durch die Erschütterung die Kapuze vom Kopf rutscht und dabei seine üppige und ungeliebte Lockenmähne enthüllt. Der vor ihm stehende Schreibtisch bebt und ein auf ihm liegender Stift kullert geräuschvoll über die hölzerne Platte, bevor er auf den steinigen Boden fällt.
„Man gibt euch nur eine Aufgabe! Ja, eine verdammte Aufgabe. Und ihr? Ihr vermasselt es! Ihr seid alle nur einfach unfähige, stinkende Kreaturen!“
Betreten blicken die zwei Hünen zu Boden. Wie zwei geprügelte Hunde stehen die großen Soldaten da und warten auf ihre Bestrafung, die wahrscheinlich nach der Ansprache des Lockenkopfs folgt.
„Das ist jetzt schon die Dritte diesen Monat! Wie soll das weitergehen? Lasst uns doch gleich alle freilassen! Wofür eigentlich noch die Mühe?“
Der Mann, der eher so groß wie ein Hobbit ist, macht keinen Hehl aus seiner offensichtlichen Wut. Am liebsten würde er wie eine Katze über seinen Schreibtisch springen und die zwei Hohlköpfe in ihren abgetragenen braunen Umhängen mit bloßen Händen erwürgen. Zu seinem Leidwesen wäre dies jedoch kaum möglich gewesen, denn die beiden Hünen überragen ihn um mehrere Haupteslängen. Nicht zum ersten Mal verdammt der Lockenkopf seine kleine Gestalt, was ihn nur noch ärgerlicher werden lässt. In seinem Anfall erinnert er an einen Stier, der durch ein rotes Tuch in Aggression versetzt wurde. Sein fast eckiges Gesicht ist puterrot gefärbt, seine Nasenlöcher sind fast genauso weit aufgerissen, wie seine Augen mit den gedehnten Äderchen in den Augäpfeln.
Fehlt nur noch, dass Dampf aus seiner Nase kommt, hehehe, denkt einer der Hünen schmunzelnd und es gelingt ihm nur mühsam, ein Kichern in dieser für sie sehr ernsten Situation zu unterdrücken.
Ununterbrochen läuft der Lockenkopf hinter seinem Schreibtisch auf und ab, als wolle er seine Aggression durch die Bewegung abbauen. Dann bleibt er stehen und schaut die verunsicherten Hünen an.
„Was steht ihr noch herum, verdammt? Sucht dieses Miststück!“, fährt er die beiden an. „Argh! Ihr solltet eigentlich das gleiche Schicksal erleiden, wie die anderen Hünen vor drei Wochen! Unfähiges Pack! Ihr habt nur eine einzige Aufgabe und selbst die könnt ihr nicht erledigen!“
Mit einer Bewegung seiner rechten Hand, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen, jagt er die beiden Hünen aus dem Raum. Als die Tür leise hinter den beiden ins Schloss klickt, seufzt der Lockenkopf genervt auf und lässt sich in seinen abgewetzten Sessel hinter dem Schreibtisch sinken. Während er sich die Schläfen massiert, fragt er sich nicht zum ersten Mal:
Bin ich hier eigentlich nur von Idioten umgeben?
Aber was will man auch in solch einer trostlosen und hoffnungslosen Zeit eigentlich erwarten?
Mit einem Mal springt er wieder aus dem Sessel auf. Rastlosigkeit treibt ihn an und der durch die letzten Tage gefestigte Glaube, dass nur er in der Lage ist herauszufinden, was hier vor sich geht. Gleichzeitig empfindet er auch etwas Unbehagen wegen der seltsamen Ereignisse der letzten Wochen. Ratlos tritt er an sein großes Fenster und starrt nachdenklich auf die Stadt hinab. Er weiß nicht, ob ihn der Anblick stolz oder traurig machen soll. In den sandigen Straßen herrscht reges Treiben. Es ist Wochenmarkt. Die meisten Häuser der Stadt sind einstöckig und aus Holz, einige wenige aus Lehm. Viel zu viele Menschen zwängen sich zwischen den aufgestellten Ständen durch. Sie sind nicht gerade ärmlich gekleidet. Einige seiner Soldaten versuchen in der Menge Patrouille zu gehen, stellen sich dann jedoch an eine Hauswand, von der sie einen guten Blick in die Straße haben. Der Lockenkopf hört die Marktschreier und sieht, wie die Menschen Geld und Waren miteinander tauschen. Alles scheint normal und friedlich, wie es in einer Stadt eben sein muss.
Naja, wenn man bedenkt, dass das hier vor etwa 50 Jahren noch Ödland war …, überlegt der Lockenkopf und seufzt theatralisch.
Ziellos setzt er seine Reise durch den karg eingerichteten Raum fort. Er umkreist nun seinen Schreibtisch.
„Was soll ich nur machen? Es ist schon die Dritte, die diesen Monat verschwunden ist. Das ist zuvor noch nie passiert. Wie ist das nur möglich?“, denkt er laut.
Zu oft hat der kleine Mann sich diese Frage in den letzten Tagen gestellt, ohne darauf eine Antwort zu finden. Dann fällt ihm ein, was vor drei Wochen geschehen ist:
„Sie hat sich vor unseren Augen entmaterialisiert!“, behauptete einer seiner Lakaien damals. Sein Kumpan nickte dabei lebhaft.
„’sch schwöre, sie war grade noch da und dann – puff, einfach wusch - wesch!“
Der Lockenkopf hatte ihnen nicht geglaubt und sie kurzer Hand vor dem Rest seiner Aufseher hinrichten lassen. Er war fest davon überzeugt, sie hätten die Sklavin freigelassen oder wären zumindest unachtsam gewesen. Da er weder Verräter noch Träumer in seinem Team und seiner Stadt gebrauchen konnte, ließ er die beiden Lakaien zur Abschreckung hängen. Als acht Tage später ein weiterer der Hünen das Verschwinden eines Sklaven meldete, bibbernd und in der Annahme nun ebenfalls getötet zu werden, musste der Lockenkopf jedoch erkennen, dass er wohl zuvor zwei Unschuldige gehängt hatte. Er ließ diesen einen Hünen am Leben und schickte sofort einen Suchtrupp aus. Aber jetzt, mit dem dritten Verschwinden …
Irgendwer muss eine Beschwörung gefunden haben, um diese Seelen aus dem Gefängnis heraus von ihren Fesseln zu entbinden, denkt er.
Nachdenklich streicht er sich über das glatte Kinn. Absurder Weise kommt ihm dabei wieder einmal der unliebsame Gedanke, warum sein Haupthaar vor Fülle überquillt, ihm aber kein einziges Barthaar wachsen will. Viele halten ihn auf der Straße für ein Kind. Dabei zählt er schon weit über 30 Jahre. Und schon wieder überkommt ihn darüber der Ärger und er beschließt, seinen Frust auf den Straßen der Stadt abzulaufen. Mit dieser Überlegung verlässt der Lockenkopf sein Büro. Gedankenverloren geht er über den Wochenmarkt und schaut nach dem Rechten. Um ihn herum herrscht das rege Treiben, was er aus seinem Fenster bereits beobachten konnte. Die hölzernen Stände sind voller Waren, die vor wenigen Jahren noch als Rarität galten: Töpfe, Schüsseln, Kleider, Obst und Salz. Überall um ihn herum lachen die Menschen und erfreuen sich an diesem schönen Tag und dem wiedergekehrten Wohlstand.
Abwesend tritt er an einen der Obststände, greift sich einen grünen Apfel und betrachtet ihn lange, ohne ihn wirklich zu sehen. Erst auf ein kleinlautes Räuspern des Verkäufers wird er sich wieder seiner Gegenwart bewusst. Er greift in seine Manteltasche und reicht dem Händler die Münzen passend, bevor er seinen Weg über den Markt fortsetzt.
Wie ist das nur möglich?, denkt der Lockenkopf wieder und beißt in seinen Apfel. Wie haben sie erkannt, dass diese Seelen fehlen? Wie und wer konnte sie aus den Käfigen befreien? Wir müssen hier einen Verräter haben! Wieso sollten sie sonst überhaupt auf den Gedanken kommen, nach einer Entfesselung zu suchen? Über 50 Jahre lang ging alles gut. Und jetzt? Ein bösartiges Grinsen stiehlt sich auf seine Lippen. Aber sie legen sich mit dem Falschen an!
Entschieden stampft der Lockenkopf wieder mit dem linken Fuß auf und dreht sich auf dem Absatz um. Dabei wirbelt er so viel Staub mit dem Saum seines Mantels auf, dass es aussieht, als würde er in einer kleinen Windhose verschwinden.
Pfützen, die kleinen Seen gleichen, zeichnen sich in die ansonsten triste Gebirgswüste. Unerbittlich prasselt der Regen schon seit Stunden auf sie nieder. Der ausgetrocknete Boden ist nicht in der Lage, das ganze Wasser so schnell in sich aufzunehmen, von den Felsen rinnen ganze Bäche von staubbraunem Wasser.
„Ich weiß überhaupt nicht, wie der sich das vorstellt! Das ist doch Wahnsinn!“
Verärgert zieht sich Herriett die Mütze noch tiefer ins Gesicht, um sich vor dem Regen zu schützen. Eigentlich macht es keinen Unterschied mehr, denn ihre Jacke, ihre Ausrüstung, ihr Essen - einfach alles ist nass.
„Dieses dumme Ding hier, ja?“, setzt sie ihre Schimpftirade fort und fuchtelt dabei wenig professionell mit dem schweren Gewehr herum. „Nicht mal eine richtige Ausrüstung bekommen wir! Nur dieses alte Zeug!“
Sie weiß kaum noch, wie sie ihrem Ärger Luft machen soll. Nass klebt ihr das rot-braune halblange Haar an den Wangen.
„Selbst, wenn das Schwarzpulver bei all dem Regen nun nicht nass geworden ist und das Ding tatsächlich noch funktioniert: Was sollte es uns gegen entflohene Seelen nutzen? Diese Wesen sind nicht materiell!“
Ihr Begleiter Marek seufzt genervt und setzt dabei tapfer einen Fuß vor den anderen in den schlammigen Boden. Der Regen hat seine Stiefel bereits völlig durchnässt. Bei jedem Schritt spürt er das Wasser darin zwischen seinen Zehen.
„Wir sollen ja auch nicht auf die Seelen schießen, sondern auf die Entführer“, entgegnet er.
„Und der führt die hier an der Leine durch die Gegend spazieren oder was?!“, sagt Herriett spöttisch.
Herriett und Marek befinden sich in der Mitte von You-tasia, in einem Gebirgsgebiet irgendwo zwischen der Stadt Youtana und dem weit entfernten nördlichen Gebiet der Granker; überall gibt es nur Fels, Stein und Sand. Die Zwei bilden einen der Suchtrupps, die auf Befehl des Lockenkopfs ausgesandt wurden, um die verschwundenen Seelen aufzuspüren und nach Youtana zurückzubringen.
„Und ausgerechnet wir werden in dieses Ödland geschickt! Wir machen unsere Aufgaben immer gut und trotzdem bekommen wir immer wieder solche Aufträge! Das ist einfach nicht fair! Dieser fiese kleine Lockenkopf denkt, er sei wohl der mächtigste Mann in Youtana. Pah, so ein Idiot!“, meckert Herriett.
Am liebsten hätte Marek sich die Ohren zugehalten, um Herrietts Gezeter nicht mehr hören zu müssen, denn so geht es schon seit Stunden. Aber leider benötigt er seine Hände gerade an der Waffe.
„Brüll‘ hier bitte nicht so rum, Herriett“, beschwichtigt er die Gefährtin stattdessen. „Du weißt, dass wir hier nicht alleine sind. Wir müssen die Höhlen durchsuchen.“
Herriett zieht eine Grimasse und murmelt:
„Ja, je eher desto besser. Bestimmt ist es da drin auch trockener … Wobei ich bei unserem Glück noch nicht einmal damit rechnen würde …“
Herriett folgt Marek widerwillig und lustlos, als er auf eine der steilen Felswände zugeht und sie mit seinen Augen nach Spaltöffnungen absucht. Entnervt hebt sie ihre Waffe, um ihm notfalls Rückendeckung zu geben. Es dauert einige Zeit und gefühlt einige Millionen von Regentropfen, bis Marek endlich fündig wird.
„Ah, hier ist eine Spaltöffnung! Schau!“
Euphorisch winkt Marek der Freundin und schlüpft durch die Felsöffnung. Herriett folgt ihm aufmerksamer als vorher in die dunkle Höhle hinein. Ein zischendes Geräusch kommt aus Mareks Richtung. Offensichtlich versucht er, etwas anzuzünden.
„Ach, verdammt, es funktioniert nicht! Das kann doch jetzt nicht wahr sein.“
„Jetzt sag‘ bitte nicht, dass die Fackel nass geworden ist“, betet Herriett und verdreht dabei genervt die Augen. „Ich hab‘ dir doch tausend Mal gesagt, dass du sie gut wegpacken sollst!“
„Nein, da kann ich dich beruhigen“, erwidert Marek trocken und versucht hörbar weiterhin, eine Flamme zu entfachen. „Die Fackel ist es nicht. Ich glaube, es sind eher die Streichhölzer.“
„Da bin ich ja sehr beruhigt“, entfährt es Herriett sarkastisch.
Entnervt dreht sie sich weg und lässt ihren Blick gelangweilt durch die Höhle schweifen. Plötzlich wird sie aufmerksam.
„Hey, was ist denn das?“, flüstert sie und stößt Marek dabei unsanft an. „Lass das mal mit der Fackel. Schau mal, da vorne leuchtet doch etwas!“
Verwundert hebt Marek den Kopf und folgt Herrietts Blick weit in die Höhle hinein. Ein ungutes Gefühl breitet sich in ihm aus. Für so etwas kann es nur eine logische Erklärung geben und die beunruhigt ihn sehr. Seine Muskeln verkrampfen sich, seine Hände umklammern schweißnass das marode Gewehr. Seine Anspannung ist ihm deutlich anzumerken.
„Unser Glück scheint nicht abzureißen“, murmelt Marek ironisch und pirscht sich leise ins Höhleninnere vor. „Ich befürchte, die Höhle hier ist bewohnt.“
Plötzlich fällt ihm ein, dass er der Mann bei dieser Expedition ist. Er sollte eigentlich nicht so ängstlich klingen. Verlegen räuspert er sich und versucht, seine Stimme gefasster klingen zu lassen. Schließlich sagt er zu Herriett:
„Vielleicht ist das ja schon unser Kidnapper und wir können ihn nun leicht überwältigen!“
Mit den Schusswaffen im Anschlag, nicken sich die beiden Soldaten noch einmal unsicher zu, bevor sie sich dem schummrigen Licht nähern. Marek geht wieder langsam voraus, Herriett folgt ihm nur wenige Schritte entfernt. In der Höhle ist es so dunkel, dass sie kaum ihre Hand vor Augen sehen können. Nur der leichte Lichtschimmer in der Ferne wird immer deutlicher. Ihnen fällt es schwer ruhig zu bleiben und keine Laute zu erzeugen oder von sich zu geben. Es ist nicht nur die Anspannung, die ihre Zähne nervös aufeinanderschlagen lassen will. Auch ihre vom Regen durchnässten Kleider und die frostige Höhle tragen einen nicht unerheblichen Teil dazu bei, dass ihre Kiefer bibbern und ihre Hände zittern.
Die Lichtquelle scheint sich nun direkt hinter der nächsten Biegung zu befinden. Scharf windet sich der Gang nach rechts. Vorsichtig drücken sich Marek und Herriett an die schützende Höhlenwand. Mit Bedacht hebt Herriett ihren Kopf soweit an, dass sie gerade um die Biegung schielen kann. Wage erkennt sie den Ursprung der Lichtquelle.
„Wow!“, entfährt es ihr etwas zu laut. „Was zum Teufel ist das denn? So was habe ich noch nie gesehen … Das ist … wunderschön!“
Verblüfft schaut Marek zu seiner Kameradin herüber, innerlich spekulierend, was sie dort sehen könnte. Von der Neugierde gepackt, schaut nun auch er vorsichtig um die Ecke und traut seinen Augen kaum. Das Licht strahlt eine wohlige Wärme aus, als ob in einem Wohnzimmer viele Kerzen leuchten, allerdings intensiver. So etwas hat auch er noch nie gesehen.
Nachdem sie sich vergewissert haben, dass ihnen keine Gefahr droht, lässt das Duo die Waffen sinken. Verblüfft und etwas weniger ängstlich, gehen sie langsam um die Ecke. Als sie weiter in diese riesige Höhle eindringen, verschlägt es ihnen den Atem: Die ganze Decke, die Wände und auch ein großer Teil des Bodens dieses Abschnittes der Höhle sind von kristallähnlichen Gebilden aller Größen und Variationen bedeckt. Sie alle schimmern in verschiedenen Violett- oder Pinktönen, manche nur sachte, andere mit voller Kraft. Einige scheinen erloschen zu sein, was ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch tut.
Die Waffen tragen sie nun nur noch lose in ihren Händen. Vor Erstaunen können die beiden Soldaten kaum ihren Mund geschlossen halten. Das Licht ist außergewöhnlich rein und übt einen sehr beruhigenden Effekt auf die beiden durchnässten Kameraden aus. Immer weiter wagen sie sich in die Höhle hinein. Dieses augenscheinliche Naturwunder schlägt sie förmlich in seinen Bann.
„Die sind wie Irrlichter“, murmelt Marek plötzlich und bleibt stehen. Irgendwas beunruhigt ihn. Unruhig lässt er den Blick durch die Höhle gleiten. Herriett hingegen scheint ihm nicht zuzuhören. Unbeirrt nähert sie sich einem der größeren Kristallgebilde und bestaunt die Größe und Ausmaße der Lichtquelle. Fasziniert hebt sie vorsichtig ihre Hand, um den leuchtenden Stein zu berühren. Der Kristall ist mindestens doppelt so groß wie ihre Hand. Doch bevor sie ihn berühren kann, wird sie von Marek unterbrochen.
„Hm, was ist das?“ Etwas an dem Kristall neben ihm, hat Mareks Aufmerksamkeit erregt. „Herriett? Komm’ mal bitte ’rüber zu mir und guck dir das mal an … Herriett?“
„Marek, ich … ich würde ja gerne, aber … aber ich komme hier nicht weg!“, antwortet sie ängstlich stotternd.
Er vermutet, dass sie sich wieder einmal einen kleinen Spaß erlauben will. Dann dreht er sich um und sieht, dass sie in der Luft schwebt! Fassungslos starrt Marek seine Freundin an. Ganz eindeutig berühren ihre Füße den Boden nicht mehr. Noch absurder wird es, als sie langsam und scheinbar automatisch beginnt, sich um ihre eigene Achse um den Kristall zu drehen, den sie gerade berührt hat. Mühsam entringt sich Herriett ihrer Schockstarre und fuchtelt nun wie wild mit ihren Händen und Füßen in der Hoffnung, der unsichtbaren Kraft damit zu entkommen.
„Wa- … was tust du denn da schon wieder?“
Marek ist gerade für einen kurzen Augenblick eher fasziniert als beunruhigt. Seine Neugier galt schon immer den Wissenschaften und er wittert hier ein noch nicht entdecktes Phänomen. Diese Kristalle scheinen die Schwerkraft irgendwie zu beeinflussen.
„Moment, ich helfe dir …“, sagt er zu Herriett.
Doch als er zu seiner Kameradin gehen will, um sie buchstäblich wieder auf den Boden zurück zu holen, rennt er gegen eine unsichtbare Wand.
„Aua! Was ist das denn jetzt?“ Murrend reibt sich Marek über die schmerzende Nase. „Wieso kann ich nicht weitergehen?“
Irritiert hebt er vorsichtig den linken Arm und tastet mit seiner Hand vergeblich in der Luft herum. Eindeutig ist da eine Barriere, doch er kann sie nicht sehen. Eine unsichtbare Mauer versperrt ihm scheinbar den Weg. Während Herriett sich weiter zappelnd in der Luft hängend um ihre eigene Achse dreht und mittlerweile das linke Bein wie eine Balletttänzerin angewinkelt hat, tastet Marek wie ein Pantomime vorsichtig um sich herum. Das ist nicht nur einfach eine Mauer vor ihm: Tatsächlich sind diese Barrieren nun überall um ihn selbst herum. Egal wohin er sich wendet, nach rechts oder links, unter oder über sich: Er sitzt fest. Was die beiden auch versuchen, sie können sich nicht mehr frei bewegen. Panik ergreift von ihnen Besitz. Sie stecken in einer riesigen Höhle fest, zwischen Unmengen wunderschöner Kristalle, die nun eher pulsieren als scheinen. Rätselhafte Kräfte halten die beiden Hilflosen gefangen, die nur wenige Meter voneinander entfernt festgesetzt sind. Minutenlang hämmert Marek gegen die unsichtbaren Wände, die sich immer noch nicht zeigen wollen. Gefühlte Ewigkeiten vollführt Herriett Lufttritte und Schattenboxen, um den Kräften zu entfliehen. Sie ruft, bis ihr langsam die Kraft ausgeht. Frustriert verstummt Herriett, leise und ängstlich wendet sie sich an Marek.
„Sie … sie werden uns doch suchen, Marek, oder? Sie werden uns suchen! Sie müssen!“
„Nein, ich fürchte nicht. Immerhin sind wir der Such-trupp …“, entgegnet Marek wenig hoffnungsvoll.
Entmutigt und erschöpft lässt Herriett ihre Gliedmaßen hängen, den Blick fest und erzürnt auf diese schönen Kristalle gerichtet. Ein leises Wimmern ist von ihr zu hören, kurz bevor ihr die feinen rot-braunen Haare wie ein Schleier vor das Gesicht fallen. Marek setzt sich vor Erschöpfung auf den steinigen Höhlenboden.
Auch er wirkt entmutigt, mit runterhängenden Schultern schaut er betroffen zu Herriett. Es ist nichts zu hören, außer der eigene Atem beider, ein leises Wimmern der Freundin und das leichte Surren der leuchtenden Kristalle. Sie sind nur wenige Meter voneinander entfernt und doch endlos allein.
Dann kommt Marek ein Gedanke. Entschlossen erhebt er sich von dem steinigen kalten Boden und stemmt die klammen Hände in die Hüften, während er beginnt, ihre Situation zu analysieren:
„Hm … Es könnte vielleicht sein, dass wir uns in einer Art Magnetfeld befinden …“, überlegt Marek laut.
Interessiert und mit aufkeimender Hoffnung hebt Herriett den Kopf. Das ist typisch Marek. Er war schon immer mehr der Analytiker und Taktiker.
„Was soll das denn wieder heißen? Ein Magnetfeld? Und wie genau soll das funktionieren?“, ruft Herriett durchgeschüttelt.
„Naja, einfach formuliert entstehen Magnetfelder unter anderem aus elektrischen Strömen.“
Marek scheint einen Vortrag zu beginnen und Herriett hat schon jetzt keine Lust mehr, ihm zuzuhören. Er sieht aber nicht, dass sie die Augen verdreht.
„Aus Kristallen wie diesen kommend, vermute ich. Und magnetische Felder üben ja eine Kraft auf elektrische Ladungen aus, also etwas, das unsere Körper produzieren. Zwischen denen verlaufen imaginäre Feldlinien, die sich vom Nord- zum Südpol orientieren und - ach naja, im Prinzip gibt es zwei Möglichkeiten für uns, hier raus zukommen, sollte es sich tatsächlich um ein Magnetfeld handeln.“
„Aha, jetzt kommen wir also zum spannenden Teil“, bemerkt Herriett schnippisch.
Unbeirrt fährt Marek fort:
„Die erste Möglichkeit ist, die elektrischen Ströme ausschalten, also die Kristalle zerstören. Dazu müssen wir herausfinden, wie diese Feldlinien verlaufen. Sie sollten es möglich machen, mit dem Magnetfeld zu wandern und so zu den Kristallen zu gelangen.“
Er macht eine kurze Pause, scheint zu überlegen, ob er die zweite Alternative überhaupt erwähnen soll. Doch Herriett nimmt ihm die Entscheidung ab.
„Klingt ja sehr realistisch. Was ist die zweite Möglichkeit?“, fragt sie ungeduldig.
Verlegen räuspert sich Marek und streicht sich über den fast kahlen Kopf, der im krassen Kontrast zu seinen üppigen Koteletten und seinem Bart steht.
„Wir können die elektrische Ladung ausschalten beziehungsweise unterbrechen. In diesem Zusammenhang ist diese Ladung einfach auszumachen. Wir sind es ja selbst.“ Unsicher hebt er den Blick zu seiner Freundin, die nur skeptisch die Augenbrauen zusammenzieht und auf eine weitere Erläuterung zu warten scheint.
Währenddessen dreht sie sich unwillkürlich weiter in der Luft. Seufzend ergänzt Marek:
„Ergo müssten wir uns selbst ausschalten … Einfacher gesagt: Wir müssten sterben“, erläutert Marek mit einem ernsten Blick auf seine Waffe.
Herriett benötigt einige Momente, um das Gesagte zu verarbeiten. Es lässt sie verstummen, denn sie weiß, er meint es ernst. Einen Atemzug lang befürchtet sie, dass Marek sich nun tatsächlich selbst umbringt. Ihr Herz scheint einen Schlag auszusetzen, als er tatsächlich die Waffe hebt und - sie lächelnd wieder sinken lässt. Dann sagt er:
„Aber ich denke, wir sollten es erst einmal mit der ersten Variante versuchen, das erscheint mir ein wenig sicherer für unser leibliches Wohlergehen.“
„Ach, du Spinner!“, keift Herriett ihn an und ist sichtlich erleichtert.
Marek übergeht das gelassen.
„Also, ich versuche, die Feldlinien zu finden. Aber du, äh, hängst näher an den Kristallen, von daher vermute ich, dass sich irgendwo in deiner Nähe der Südpol befinden müsste, also sollte ich -“
„Sei einfach wieder still … und such‘ endlich diese verdammten Linien oder was auch immer!“, unterbricht sie ihn rüde.
Langsam kehrt ihre Angst wieder zurück. Das was Marek gerade gesagt hat, klingt nicht besonders vielversprechend.
Marek orientiert sich an Herrietts Koordinaten. Auch versucht er, die Schwingungen auszumachen, die seine Gefährtin so leicht in der Luft rotieren lassen. Konzentriert tastet er sich an der unsichtbaren Wand entlang, die ihn umgibt. Sie ist weiterhin undurchdringlich für ihn. Entgegen seiner Behauptung glaubt auch er nicht daran, dass der unsichtbare Käfig eine Lücke enthalten könnte. Schon gar nicht Eine, durch die er sich hindurchbewegen könnte. Zentimeter für Zentimeter untersucht er Luft und Boden. Je weiter er kommt, desto klarer wird ihm, dass diese Sucherei ihnen keinen Ausweg aus ihrer Situation weisen wird. Aber um auch nicht tatenlos herum zu sitzen, eigentlich nur um das Gefühl zu bekommen, irgendetwas zu tun und auch, um Herriett zu beruhigen, macht er weiter. Er klopft unaufhörlich - fast idiotisch - in der Luft herum. Sein Klopfen erzeugt jedoch keine wahrnehmbaren Geräusche. Nur das leichte Brummen der Kristalle erfüllt die Höhle mit unheimlichen Tönen.
Wie viel Zeit vergangen ist, können die beiden nicht sagen. Marek liegt mittlerweile zusammengerollt auf dem kalten steinigen Höhlenboden. Er versucht nun zu schlafen und so etwas Kraft zu sammeln. Er ist sich sicher, dass das Feld, das ihn umgibt, mit jeder seiner Bewegungen ein Stück kleiner geworden ist. Letztendlich ist er aber keinen einzigen Millimeter vorangekommen. Herriett schläft nicht. Unverändert hängt sie in der Luft und kann nichts tun, sie dreht sich aber nicht mehr. Ihr Kopf ist so schwer auf ihren Schultern. Wie gerne würde sie ihn irgendwo anlehnen. Außerdem hat sie langsam Hunger. Sie erinnert sich: Beim Militär lernt man Hunger und andere Qualen zu erleiden. Anhand der Töne ihres Magens vermutet sie, dass ein halber Tag vergangen sein muss. Marek hatte Recht: Niemand wird sie suchen! Warum auch? Schließlich sind sie der Suchtrupp. Es gibt keine Anderen.
Bevor sie sich noch einen Moment weiter in ihren Gedanken verlieren kann, spürt sie eine Veränderung und horcht auf. Aufmerksam hebt sie ihren Kopf aus der Versenkung und blickt sich in der Höhle um. Bestätigend nickt sie sich selbst zu, denn ihr ist klar, irgendetwas hat sich hier wirklich verändert. Sie kann nur nicht genau ausmachen was es ist. Überzeugt von ihrer Intuition versucht sie, Marek zu wecken.
„Marek! Marek! Wach auf! Spürst du das auch?“, flüstert sie leise.
„Hm? Was denn …?“, murmelt er verschlafen.
„Irgendetwas ist hier!“
Und tatsächlich bemerkt auch er es sofort als er die Augen öffnet. Es scheint, als ob die Kristalle ein wenig heller geworden sind, jedoch nur sehr dezent. Darauf aufmerksam geworden, setzt Marek sich auf und lehnt sich gegen die unsichtbare Käfigwand. Kaum ist er in der aufrechten Lage, passieren mehrere Dinge gleichzeitig: Die Kristalle blitzen auf und gleißendes Licht erfüllt die Höhle und scheint ihnen schier die Netzhäute zu verbrennen. Marek hört ein Poltern und den erstickten Aufschrei einer Frau. Reflexartig reißt er die Arme vor sein Gesicht, um seine Augen zu schützen, doch selbst dafür ist es schon zu spät. Die Helligkeit brennt in seinen Augen, er will blinzeln, traut sich jedoch nicht. Tränen drücken sich aus seinen zusammengepressten Lidern und verzweifelt fragt er sich noch, ob bei Herriett alles in Ordnung ist. War das ihr Schrei? Ein zischendes Geräusch hallt von den Felswänden wider, kurz danach hören sie klackernde Schritte in der Höhle.
Herriett kann ebenfalls nichts sehen. Sie hat die Hände in ihr Gesicht gepresst und schreit. Sie greift sich mit den Händen immer wieder an die Augen, die brennen, als hätten sie die Sonne selbst berührt. Nur nebenbei registriert sie, dass sie sich nicht mehr in der Luft befindet, sondern auf den Boden geknallt ist. Spitze, scharfe Steinkanten bohren sich in ihre feuchte Jacke, während sie sich wimmernd hin und her windet. Sie hört Marek ebenfalls schreien und hofft, dass auch ihn nur das Licht geblendet hat. Doch trotz der schmerzenden Augen und der davor gepressten Hände, nimmt sie dieses gleißende Licht immer noch vor ihren Augenlidern wahr. Es wird langsam - nur sehr langsam - schwächer.
Hörbar nähert sich jemand schrittweise. Das Klackern von Schuhen ist nun deutlich zu hören. Es verhallt sehr schnell. Die Präsenz nähert sich weiter, nicht einmal darauf bedacht, leise zu sein. Die Lichtreflexionen der Kristalle scheinen das Erscheinungsbild des Fremden zu brechen und zu verzerren, doch Herriett und Marek sind nicht einmal ansatzweise in der Lage es mit eigenen Augen zu sehen. Kurz vor ihnen verstummen die Schritte der unbekannten Gestalt und eine männliche, zunächst beruhigende Stimme, fängt an zu reden:
„Keine Angst, das vergeht wieder.“
Marek verstummt und auch Herriett unterdrückt ihr Geschrei. Unsicher durchbricht Herriett die kurze, unangenehme Stille:
„Wer hat das gesagt?“
Es klingt, als würde der Fremdling lächeln. Allerdings ein nicht gerade freundliches Lächeln. Etwas Unheilvolles schwingt in seiner Stimme, als er antwortet:
„Hätte ich gewusst, dass ich Besuch erwarte, hätte ich das Licht etwas gedimmt … Ihr solltet in ein paar Stunden wieder richtig sehen können - womöglich.“
Die beiden Soldaten sind sich nicht sicher, wie sie seine Offenbarung interpretieren sollen. Scheinbar interessiert fährt der Unbekannte fort:
„Hm, mein Alarmsystem hat mir dieses Mal also nicht nur Fledermäuse angekündigt, die es hier sonst nur immer einfängt. Das ist doch mal eine schöne Überraschung, findet ihr nicht?“ Der Fremdling lacht kurz auf und klingt tatsächlich glücklich als er ruft:
„Ach ja, herzlich Willkommen in meinem kleinen Reich. Ihr seid die ersten Besucher seit fast einem Jahr! Ihr wisst wahrscheinlich nicht, wer ich bin, das ist mir schon klar. Aber das wollte ich mir nicht entgehen lassen.“
Seine Stimme klingt nun schon viel düsterer und arroganter. Der mysteriöse Mann unterbricht sich selbst mit einem diabolischen Lachen, was ziemlich selbstverherrlichend klingt und Marek und Herriett einen kalten Schauer über den Rücken jagt.
„Dass ihr widerlichen Menschen auch immer so grässlich neugierig sein müsst.“
Verstört hatte Marek dem Unbekannten gelauscht, doch gelingt es ihm nun, seine Fassung zurückzugewinnen.
„Lass uns frei, unser Chef wird sonst …“, droht er immer noch geblendet.
„Euer Chef? Hahaha! Der, der euch hier hingeschickt hat und euch nun hier elendig verrecken lässt? Pah, dumme, hässliche Menschen. So unnütz … Aber ich will mich nicht beklagen. Denn, wie gesagt, der letzte Besuch ist lange her und ich freue mich immer über etwas Abwechslung und … neues Spielzeug.“
Er beendet seine Begrüßung laut lachend. Doch bevor ihm einer der Gefangenen noch etwas entgegensetzen kann, fallen sie mit einer Handbewegung des Unbekannten in eine tiefe Starre.