Читать книгу Vermiss mich nicht - Nicole Beisel - Страница 4
Lilly
ОглавлениеWie ich wurde, wer ich bin
„Hallo, mein Name ist … ähm … Lilly Jenkins, ich bin ungefähr 26 Jahre alt und leide an Amnesie.“
Ich sitze in einem kleinen Raum mit weißen Wänden und einem großen Tisch an der Wand, auf dem Getränke und Kekse bereit stehen. Stühle stehen aneinander gereiht im Kreis, ich schätze, es sind etwa 10 Stück. Ich blicke in fahle Gesichter. Gesichter, die zeigen, dass die Menschen hier in diesem Raum Angst haben. Sie sind unsicher, fühlen sich verloren trotz der vielen Gleichgesinnten, die allesamt das gleiche Schicksal untereinander teilen. Ich selbst fühle mich nicht anders, auch ich komme mir fehl am Platz vor. Es ist der erste Sitzungstag von 25, und niemand von uns weiß, was uns erwartet.
Ich fühle mich unbehaglich, ich kenne niemanden hier im Raum, aber außerhalb dieser vier Wände ist das nicht anders, denn ich kenne noch nicht einmal mich selbst. Und genau deswegen bin ich hier. Ich frage mich, wer all diese Menschen sind, genauso, wie ich mich frage, wer ich wirklich bin. Ich habe keine Antwort hierauf, und auch die restlichen Teilnehmer der Gruppentherapie sind ratlos. Wir alle leiden unter diesem Gedächtnisverlust, der uns alles genommen hat, was wir je hatten. Unser Leben, unsere Familien und Freunde, unsere Erinnerungen und unsere eigene Persönlichkeit – alles einfach weg. Der Gruppenleiter, ein Mann Mitte vierzig, schmal und kurzsichtig, wie es scheint, ist der Einzige, der noch die Fähigkeit hat, sich selbst treu zu bleiben.
Aber nicht alle von uns haben auch tatsächlich alles vergessen. Einige haben noch Familienangehörige, die ihnen helfen, die Vergangenheit wieder zurück zu holen. Andere haben noch ihren ursprünglichen Namen und kennen ihr Geburtsdatum und ihren Wohnort. Manche können sich sogar noch an besondere Familienereignisse oder an ihre eigenen Kinder erinnern.
Ich schaue mich erneut in der Runde um, lausche den Berichten der Betroffenen und spüre Neid in mir aufkommen. Ich beneide diese Menschen um ihre wenigen verbliebenen Erinnerungen, und das, obwohl ich nicht einmal weiß, ob mein bisheriges Leben tatsächlich so lebenswert war. Trotzdem habe ich das Gefühl, etwas sehr wichtiges verloren zu haben: Mich selbst.
In dieser heutigen ersten Sitzung erfahre ich, dass die meisten unter uns nur wenige Jahre älter sind als ich und überwiegend hier aus der Gegend kommen, soweit sie noch davon berichten können. Sie erzählen von den Gründen für ihre Amnesie, die meisten wurden – gemäß den Erzählungen der Ärzte und Familien – Opfer eines Unfalls, aber nur wenige können sich an den eigentlichen Vorfall erinnern.
Auch ich erzähle meine Geschichte, oder zumindest die Geschichte, die mir der behandelnde Arzt im Krankenhaus erzählt hat.
Grund für meine Amnesie ist scheinbar ein fester Schlag auf den Hinterkopf, der mich wohl augenblicklich zu Boden gehen lassen musste. Wer mir das angetan hat, weiß niemand, aber es wird noch immer von einem ungeklärten Verbrechen ausgegangen. In diesem Fall scheine ich die einzige Zeugin zu sein, aber ich kann keinerlei Angaben machen, da ich keine Erinnerung mehr habe an die Zeit vor meinem Krankenhausaufenthalt. Auch dieser schlimme Vorfall an sich könnte für meinen Ausfall mit verantwortlich sein, sagen die Ärzte. Das Gehirn hat wohl die Fähigkeit, Erinnerungen auszuschalten, die ein traumatisches Erlebnis zur Folge hatten. Nun, ein Verlust, den ich nur bedingt bedauere.
Jedenfalls wurde ich gefunden, bekleidet, aber ohne Ausweis, ohne Dokumente, ohne Bewusstsein und – wie sich später herausstellte – ohne Gedächtnis.
Niemand wusste, wer ich war, niemand hat nach mir gesucht und auch heute scheint mich niemand zu vermissen. Keine Eltern, keine Geschwister oder gar Kinder, kein Ehemann, keine Freunde. Ich scheine niemandem zu fehlen, und diese Erkenntnis versetzt mir einen kleinen Stich, obwohl ich ja noch nicht einmal selbst jemanden vermisse.
Traurig und verwirrt zugleich beende ich meinen Bericht, ernte zahlreiche, mitleidige Blicke mit einem Hauch Verständnis in den Augen meiner Mitstreiter. Nach zwei Stunden ist die erste Sitzung um, die nächste folgt am nächsten Donnerstag.
Ich will gerade zur Tür raus, als ich eine Hand an meiner Schulter spüre, sanft, aber mit der bestimmten Bitte, mich umzudrehen. Ich erschrecke kurz über diese Berührung, hatte ich doch fast vergessen, wie sich das anfühlt, obwohl ich selbst tagtäglich irgendwelche Dinge berühre. Dinge, keine Menschen.
„Ja?“ Zwei schüchterne grüne Augen schauen mich unsicher an. Die Haut drumherum ist hell und mit einzelnen Sommersprossen versehen, die Haare kinnlang und von rotbrauner Farbe, die an einen warmen Herbsttag erinnern. Habe ich den Herbst je richtig kennen gelernt? Sicher, ich weiß nur nicht mehr, wann das war.
„Tut mir leid, dass ich dich so überfalle. Lilly, richtig? Hi, ich bin Rachel.“ Ich erwidere ihren sanften Händedruck, ich kenne ihren Namen noch aus der Vorstellungsrunde. Sie ist die Frau, die nach einem Arbeitsunfall wieder bei ihrer Mutter wohnt.
„Hi. Was kann ich für dich tun?“ Diese Frage kommt mir seltsam vor, denn eigentlich wird diese Frage in der letzten Zeit ausschließlich an mich gerichtet, und nicht umgekehrt. Die Herbstfrau zuckt mit den Schultern „Ich dachte, … Hast du noch ein wenig Zeit? Vielleicht könnten wir zusammen was trinken gehen?“ Ich überlege einen Moment. Warum eigentlich nicht? Sie scheint nett zu sein, und außerdem ist das der erste mehr oder weniger private soziale Kontakt seit … ich weiß es nicht mehr. Aber ich spüre, dass ich ihr vertrauen kann und bin froh über ihr Angebot. „Gerne.“ Augenblicklich weicht ihre Unsicherheit einem breiten Lächeln als Zeichen der Erleichterung. Ich folge ihr aus dem Gebäude hinaus auf die recht belebte Straße nahe der Stadt. Wir sprechen kaum ein Wort, sondern legen den direkten Weg zu einem kleinen Café zurück, das sie bereits gut zu kennen scheint. Wir nehmen Platz und atmen tief durch, ehe wir unser eigentliches Gespräch beginnen.
„Ich freue mich, dass du mein Angebot angenommen hast. Irgendwie fühle ich mich in letzter Zeit ein wenig … einsam.“ Ich nicke, denn ich weiß genau, was sie meint. „Ja, das kenne ich. Ich bin froh, dass du mich gefragt hast. Vielleicht tut es mir doch ganz gut, mich auch außerhalb dieser Gruppe auszutauschen. Ich muss sagen, ich komme mir ein wenig vor, wie auf einer Anklagebank. Schuldig irgendwie, fehlerhaft, nicht ganz richtig. Dabei kann ich ja gar nichts dafür. Niemand kann etwas dafür, aber trotzdem fühle ich mich unwohl.“
Ich zucke mit den Schultern und lächle verlegen als ich merke, dass ich einfach drauf los geplappert habe. Aber mein Gegenüber lächelt und fühlt sich offensichtlich verstanden. Während unsere Tassen vor uns platziert werden, beißt sie sich auf die Lippe. Irgendetwas scheint ihr auf dem Herzen zu liegen, und derzeit bin ich gerne bereit, ihr zuzuhören. Zumindest glaube ich, dass ich das gleich tun soll.
„Was ist los? Erzähl schon,“ ermuntere ich sie zum Reden. Sie schnauft und gibt sich einen Ruck. „Du hast erzählt, dass du nichts mehr weißt aus deiner Vergangenheit und dass niemand weiß, wer du bist. Auch dein genaues Alter kennst du nicht. Ich stelle mir das furchtbar vor. Wie lebt man denn damit? Wie geht das Leben weiter, wie fasst man wieder Fuß? Ich meine, du musst doch jemand sein?“
Ich weiß genau, was sie meint und erzähle ihr vom Erlangen meiner neuen Identität, an die ich mich auch nach zwei Monaten noch immer nicht gewöhnt habe. „Die Polizei und die Ärzte haben mir sehr geholfen. Sie haben mir Beratungsstellen genannt, haben sich für mich mit der Verwaltung in Verbindung gesetzt und dafür gesorgt, dass ich – zumindest vorläufig – eine neue Identität bekomme. Ich habe also einen neuen Namen bekommen, den ich mir aussuchen durfte und habe eine kleine Sozialwohnung zugeteilt bekommen. Ich wurde mehrfach ärztlich untersucht um eventuelle Krankheiten oder sonstige Merkmale festzustellen. Auch zur Feststellung meines Alters war eine Untersuchung notwendig, und scheinbar muss ich um die sechsundzwanzig sein. Arbeiten kann ich derzeit nicht, Versicherungen musste ich allesamt neu abschließen und der Staat unterstützt mich finanziell. Keine tolle Situation, aber ich hatte quasi nichts, als ich mich im Krankenhaus wiederfand. Irgendjemand hat mir innerhalb von Sekunden alles genommen.“
Ich bin versucht, meinen Tränen freien Lauf zu lassen, reiße mich aber zusammen und schlucke den Kloß in meinem Hals tapfer herunter. Mittlerweile habe ich Übung darin. Die rothaarige Frau sieht mich an, als sei ich eine bewundernswerte Person, ein Star oder so was. Ihre grünen Augen sind weit aufgerissen, der Mund steht ihr offen vor Staunen. Kaum merklich schüttelt sie den Kopf. Tief im Innern muss sie erleichtert sein über die Tatsache, dass sie glimpflicher davon gekommen ist als ich.
„Das tut mir sehr leid. Und es gab wirklich niemanden, der eine Vermisstenanzeige aufgegeben oder sonst irgendwie nach dir gesucht hat? Ich meine … Jeder hat doch irgendjemanden, oder?“ Ihre Stimme ist kaum mehr ein leises Piepsen und ich spüre deutlich, wie unangenehm ihr diese Fragen sind. Traurig lächelnd schüttele ich den Kopf. „Nein, niemand. Auch auf die Anzeige der Polizei hat sich bislang niemand gemeldet der glaubt, mich zu kennen. Es ist noch nicht einmal sicher, ob ich überhaupt hier aus der Gegend stamme. Niemand weiß auch nur überhaupt etwas über mich, und am wenigsten ich selbst.“
Plötzlich erkenne ich, wie gut es tut, offen mit jemandem darüber zu sprechen, der mir einfach nur zuhört. Jemand, der mich nicht behandeln oder etwas erforschen will, sondern einfach jemand, der sich für mich – wer auch immer ich bin – interessiert.
„Tja, so wurde ich zu Lilly Jenkins. Ich bin gespannt, wie sie eines Tages sein wird.“