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Timothy
ОглавлениеDie Sache mit dem Vergessen
Freitagmorgen, der letzte Arbeitstag für diese Woche. Früher habe ich mich auf die Wochenenden gefreut, auf die freie Zeit und die schönen Momente, die ich in der Regel gemeinsam mit Elizabeth in Kilkenny verbracht habe. Doch mittlerweile bin ich meist lieber im Büro, als alleine zu Hause, wo ich meine Zeit ohnehin nur damit vergeude, Trübsal zu blasen, bis er sogar mir zu den Ohren raushängt.
Ich nehme an meinem Schreibtisch Platz und bereite gerade meine Verhandlung vor, die in zwei Stunden stattfindet. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, aber ich war immer schon ein guter Anwalt und es ist wichtig, diesen Ruf beizubehalten, also reiße ich mich zusammen. Aber kaum habe ich die nötige Konzentration aufgebracht, klopft es an der Tür. Genervt schaue ich auf und rufe „Herein“. Jeff steckt den Kopf durch die Tür. „Störe ich?“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch, schaue auf meinen Aktenstapel und verneine seine Frage, obwohl die korrekte Antwort mehr als offensichtlich ist. Er nimmt die Dokumente auf meinem Schreibtisch ebenfalls wahr, beißt sich auf die Lippen und tritt dann trotzdem ein. Er sieht so aus, als wolle er sich kurz fassen, also sage ich nichts.
„Wie geht es dir?“ Ich lache. „Willst du mich nicht mal was Neues fragen?“ Jeff zögert, spricht dann weiter. „Doch. Gibt es Neuigkeiten? Hast du am Wochenende was vor?“ Ich suche nach einer Ausrede und finde eine, die unter Anwälten gerne gewählt wird und gar nicht so unglaubwürdig klingt. „Ich habe zu tun. Ich werde mir die Berkley-Akten mit nach Hause nehmen, nächste Woche findet die große, mehrtägige Verhandlung statt. Ich will nichts übersehen haben.“
Jeff nickt. „Und sonst? Nix Neues?“ Ich lache erneut und schüttele den Kopf. „Nein, nichts Neues.“ Er muss ja schließlich nicht alles wissen. Dabei fällt mir etwas ein: Gab es vielleicht tatsächlich etwas Neues? Ich habe seit meiner Anmeldung gestern Abend und meinem Versuch, Kontakt zu einer weiblichen Person aufzunehmen gar nicht mehr nach einer Antwort geschaut. Ich beschließe, dies gleich nachzuholen. Ich kann mich ohnehin kaum auf meine Akten konzentrieren. Jeff gibt auf und lässt mich mit meiner Arbeit und meinen Sorgen alleine.
„Also schön. Falls du doch noch Lust haben solltest auf ein Bier, melde dich einfach. Bis dann.“ Und schon war ich wieder alleine. Ich versichere mich, dass er tatsächlich nicht mehr durch meine modernen Glaswände links und rechts meiner Tür schauen kann und logge mich ein. Die hohe Zahl der eingegangen Nachrichten springen mir sofort ins Auge, und anhand der Nicknamen sortiere ich augenblicklich mehrere Nachrichten aus, ohne sie gelesen zu haben, denn an Sex bin ich derzeit definitiv nicht interessiert. Außerdem scheint es, als suche ich nach einer ganz besonderen Nachricht, als ließe mich seit gestern die Hoffnung nicht los, dass diese eine Person auf meine Nachricht reagieren würde. Und dann finde ich sie: forgottengirl, AW: Ein nettes Hallo. Ich zögere einen Moment, ehe ich die Nachricht öffne, als müsste ich mich auf etwas vorbereiten, den Moment auskosten, die Vorfreude bewusst wahrnehmen.
Es öffnet sich ein Fenster, das mehrere Zeilen enthält, was mich schon mal recht positiv stimmt. Immerhin hätte sie sich auch gar nicht auf meine Nachricht melden können oder mir kurz und knapp zu verstehen geben, dass ihrerseits kein Interesse daran besteht, mich kennen zu lernen, und sei es erst einmal nur als Bekanntschaft. Stumm lese ich die Zeilen bei denen ich das Gefühl habe, dass zierliche Finger sie getippt haben müssen.
„Hallo lonelylawyer,
vielen Dank für dein tatsächlich überaus nettes Hallo, worüber ich mich sehr gefreut habe. Ich muss zugeben, ich bin zum ersten Mal bei einem solchen Portal angemeldet und weiß nicht recht, was von mir erwartet wird, deshalb versuche ich, mein Bestes zu geben.
Deine Nachricht wirft viele Fragen in mir auf, und obwohl diese recht persönlich sind wage ich es, sie dir zu stellen. Weshalb bist du denn so traurig und einsam? Sicher gibt es hierfür einen bestimmten Grund, oder nicht? Sofern du möchtest und ich dir damit nicht zu nahe trete, darfst du dich mir gegenüber gerne öffnen, denn ich denke, deshalb sind wir hier.
Ich muss zugeben, ich habe ein wenig auf deinem Profil geschnüffelt, das zwar nur spärlich ausgefüllt ist, aber dein Foto sagt sehr viel über dich aus, soweit es tatsächlich dich zeigt und nicht einen Mann, der deutlich hübscher ist, als du dich selbst finden möchtest. Bei diesem Anblick kann ich mir kaum vorstellen, dass jemand wie du einsam und traurig ist, daher bin ich sehr auf deine Antwort gespannt.
Ich selbst bin weniger ein vergessenes Mädchen, als ein verlorenes. Das hat auch einen bestimmten Grund, an dem ich jedoch selbst noch sehr zu knabbern habe, sodass ich dir hierüber zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Erklärung liefern kann, aber ich hoffe, dies eines Tages nachholen zu können. Allerdings hoffe ich, dass du mich tatsächlich so schnell nicht vergessen wirst, denn es ist schon schlimm genug, dass ich mich scheinbar selbst vor einiger Zeit vergessen habe.
Mehr dazu beim nächsten Mal.
In der Hoffnung, dich nicht allzu sehr verschreckt zu haben, freue ich mich schon jetzt auf deine Antwort und auf den weiter bestehenden Kontakt mit dir.
Liebe Grüße,
forgottengirl.“
Wieder und wieder lese ich mir ihre Worte durch und schlucke schwer. Sie scheint ein Geheimnis zu haben und ich spüre, wie sie mein Interesse weckt. Ihre Zeilen drängen mich quasi dazu, mehr über sie zu erfahren, aber ich weiß, dass auch ich private Dinge von mir preis geben muss. Aber immerhin hab ich selbst davon angefangen, also mache ich mich daran und kläre sie auf. Lange versuche ich, mir die richtigen Worte zurecht zu legen. Zeile für Zeile setzt sich meine Antwort an diese geheimnisvolle Frau zusammen, gepaart mit weiteren Fragen, die ich an sie richte und deren Antworten ich kaum erwarten kann.
Gerade lese ich meine Nachricht noch einmal Korrektur, als Jeff erneut in mein Büro hinein späht. „Ähm, Tim? Musst du nicht langsam los?“ Erschrocken schaue ich auf die Uhr, die über seinem Kopf prangt. Mist, die Verhandlung! Die Akten liegen noch in der gleichen Position auf meinem Tisch, wie noch eine Stunde zuvor. So lange habe ich mit dem Beantworten der Nachricht gebraucht. Eilig drücke ich auf Senden, packe meine Sachen zusammen, bedanke mich bei Jeff für den Hinweis und renne zum Fahrstuhl. Kaum, dass ich im Auto sitze, rufe ich meine Sekretärin an und bitte sie, mir den Sitzungssaal und den Namen des Richters zu nennen, der die Verhandlung führen wird.
Zehn Minuten später betrete ich gerade noch rechtzeitig den Gerichtssaal und hoffe das Beste, nicht nur in Bezug auf die Verhandlung.