Читать книгу Vermiss mich nicht - Nicole Beisel - Страница 8

Lilly

Оглавление

Freundschaft

Es ist Wochenende und normalerweise wüsste ich wie so oft in den letzten Wochen nichts mit meiner Zeit anzufangen. Zum Glück hatte Rachel gestern eine fabelhafte Idee. Kaum war die Sitzung zu Ende, sprach sie mich an.

„Lilly, hast du am Wochenende schon was vor? Ich meine, hast du Beschäftigung?“ Ihre großen Augen sahen mich neugierig an, als konnten sie meine Antwort kaum abwarten. „Nein.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich werde das Wochenende genau so verbringen, wie die letzten Wochenenden auch. Wieso?“ Rachels Gesicht erhellte sich, vermischte sich jedoch sogleich wieder mit Unsicherheit. „Ähm, also, wenn du magst und das für dich okay wäre … Magst du das Wochenende bei mir und meiner Mum verbringen?“ Ihre Augen wirkten nun noch größer als zuvor. Ihre Frage ließ mich anfangs schwer schlucken. Konnte ich mich ihr schon soweit anvertrauen, dass wir ganze Nächte miteinander verbrachten? Konnte ich in einem fremden Haus schlafen, einfach so? Rückblickend auf die letzten Wochen muss ich sagen: Ja, das kann ich. „Klar, gerne! Aber hat denn deine Mum nichts dagegen? Immerhin kennt sie mich doch gar nicht?“ Ich verstumme, denn eigentlich kennt mich sowieso niemand. Auch Rachel scheint zu merken, dass diese Bemerkung überflüssig war. Trotzdem antwortet sie.

„Ach, was. Sie freut sich immer, wenn sie Gäste hat. Meine Mum ist ein sehr liebenswerter Mensch.“ Ich frage ich automatisch, ob diese Feststellung aus ihrer Erinnerung herrührt oder ob sie diese Erfahrung erst vor kurzem gemacht hat. Was habe ich schon zu verlieren? „Okay, gerne. Ich muss nur schauen, wie ich am besten zu dir komme. Wann soll ich da sein?“ Rachel strahlte. „Weißt du was? Ich frage meine Mum, ob wir dich gemeinsam abholen können. Ich rufe dich nachher an, okay?“ Ich nickte, froh darüber, nun eine Verabredung für das gesamte Wochenende zu haben. Genügend Zeit, um sie besser kennen zu lernen – und um ihr Gelegenheit zu geben, mehr über mich selbst herauszufinden.

Mit einer gepackten Tasche, die ich von einer Sozialarbeiterin ins Krankenhaus gebracht bekommen habe, als ich entlassen wurde, stehe ich im Flur und warte auf das heranfahrende Geräusch eines Autos, beschließe dann jedoch, gleich runter zu gehen und vor der Haustür auf sie zu warten. Kaum komme ich unten an, fährt ein kleines, rotes Auto die Straße entlang und hält direkt vor meinen Füßen.

Am Steuer sitzt eine Frau etwa Anfang fünfzig mit kurzem, glatten Haar und einer kleinen Brille auf der Nase. Sie sieht sehr freundlich und offenherzig aus und ich bin gespannt darauf, sie kennen zu lernen. Rachel steigt aus und umarmt mich. „Hallo. Oh, ich freu mich! Das wird toll!“ Ich lache und freue mich ebenso sehr wie sie. Wir packen meine Tasche in den Kofferraum, dann nehme ich auf der Rückbank Platz. Ich beuge mich nach vorne und reiche Mrs. Foster die Hand zur Begrüßung. „Hallo, Mrs. Foster. Ich bin Lilly Jenkins. Vielen Dank fürs Abholen.“ Die Dame erwidert meinen Händedruck und lacht freundlich. „Gern geschehen. Und nenn mich doch bitte Laura. Ich mag diesen Nachnamen einfach nicht.“ Verdutzt schaue ich drein, und Rachel versteht die Frage, die dahinter steckt, sofort. „Meine Mum hat sich vor Jahren von meinem Dad scheiden lassen. Sie hat seinen Namen zwar behalten, aber sie hasst ihn.“

Ich nickte und spüre, wie der Wagen sich langsam in Bewegung setzt. Nun weiß ich immerhin, woher Rachel ihre Herzlichkeit hat und ich bin dankbar dafür, dass die beiden so sind, wie sie sind. Die Fahrt dauert nicht sehr lange und Laura füllt die Minuten mit lautem, aber fröhlichem Gerede. „Ich habe gekocht. Nudelauflauf. Ich hoffe, er wird dir schmecken.“ Nudelauflauf hört sich nicht schlecht an. Mir fällt auf, dass ich schon lange nichts mehr Selbstgekochtes gegessen habe. Mein Magen knurrt und ich hoffe, dass ich die einzige bin, die ihn gehört hat.

Endlich angekommen werde ich durch das kleine, zweistöckige Haus geführt. Unten befinden sich Toilette, Küche, Wohn- und Esszimmer sowie eine kleine Vorratskammer. Im oberen Stockwerk liegen zwei Schlafzimmer und ein großes Bad. Eines der Zimmer gehört Rachel, ausgestattet mit einem großen Bett und einer Schlafcouch, die sicher für mich bestimmt ist. Sofort fühle ich mich heimelig, sicher irgendwie. Mein Blick fällt auf den Computer und sofort denke ich an lonelylawyer und an seine letzten Zeilen. Ich hoffe, er ist nicht sauer, weil ich mich seit einigen Tagen nicht mehr gemeldet habe, aber ich habe leider noch immer keine Möglichkeit gefunden, die mich ihm zumindest virtuell ein wenig näher bringt. Eine freundliche Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. „Kommt ihr? Das Essen ist fertig.“ Wie zwei kleine Kinder springen wir auf und laufen nach unten. An dem kleinen, runden Tisch nehmen wir Platz, während Laura unsere Teller mit großzügigen Portionen füllt. Der Auflauf riecht sehr lecker und sieht appetitlich aus.

„Vielen Dank. Guten Appetit.“ Mein Wunsch wird erwidert und Schweigen füllt den Raum, zumindest für einen kurzen Augenblick. Denn kaum habe ich den ersten Bissen herunter geschluckt, entrinnt mir ein Lob. „Wow, Laura! Das schmeckt sehr gut. Wahnsinnig lecker.“ Sie scheint sich ehrlich zu freuen und tätschelt mir den Arm. „Ich danke dir. Aber dieses Gericht ist kein Hexenwerk. Trotzdem bereite ich es gerne zu.“

Wir essen und ich erzähle ein wenig über mich – oder zumindest über die Person, die ich hier und heute bin. Schon bald beenden wir unser Essen. Ich bedanke mich noch einmal herzlich bei Laura und lasse mich dann von Rachel wieder nach oben führen. Sie scheint es eilig zu haben, und bald weiß ich auch, weshalb. Kaum sind wir oben angekommen, schaltet sie ihren Computer ein.

„Ich wette, du hast noch nicht nach neuen Nachrichten von deinem Anwalt geschaut, oder?“ Von meinem Anwalt … Ich lache schüchtern. „Er ist nicht mein Anwalt. Aber du hast recht, ich hatte noch keine Möglichkeit, weitere Mails abzurufen.“ Rachel lächelte wissend. „Dann holen wir das gleich mal nach.“

Mein Herz schlägt schneller, ich bin gespannt, ob er mir tatsächlich noch einmal geantwortet hat und wie diese Antwort ausfällt. Schnell habe ich mich eingeloggt und meine neuen Nachrichten abgerufen. Einige lösche ich gleich, zwei andere lasse ich ungeöffnet und eine weitere klicke ich an. Rachel schaut mir neugierig über die Schulter. Obwohl sie einen guten Blick auf den Bildschirm hat, lese ich laut vor:

Hallo forgottengirl,

ich habe mich sehr über deine Nachricht gefreut, vielen Dank dafür. Nun, weshalb ich einsam bin? Ich will es dir sagen.

Du kannst es glauben, oder nicht, aber ich wurde verlassen. Meine große Liebe, die einzige, die ich je hatte, hat mich verlassen. Das Ganze ist jetzt auch schon wieder eine Weile her, aber trotzdem komme ich noch nicht so ganz darüber hinweg. Ich habe sehr an ihr gehangen, sie war wunderhübsch und stets elegant gekleidet. Sie hatte einen tollen Job und war auch unter meinen Kollegen sehr beliebt. Wir hatten gemeinsame Hobbies, haben unsere gemeinsame Zeit verbracht, so gut es ging. Ich habe sie geliebt. Ich hatte Pläne, die ich mit ihr verwirklichen wollte.

Und dann war sie weg. Einfach so. Hat mich sitzenlassen und war auch nicht erreichbar für mich. Bis heute kenne ich nicht den Grund, und ich werde ihn wohl auch nie erfahren. Tja, ich bin ein gebrochener Mann. Zumindest jetzt noch. Und um das zu ändern, habe ich mich hier angemeldet. Um wieder unter Leute zu kommen, mich auszutauschen. Manchmal ist es einfacher, sich einem Fremden anzuvertrauen als Menschen, die einen gut kennen und die alles über einen wissen.

Zu gerne möchte ich mehr über dein kleines Geheimnis erfahren, werde jedoch selbstverständlich geduldig warten, bis du bereit bist, dieses preiszugeben. Auch bin ich neugierig auf das Gesicht des vergessenen Mädchens, das du zu sein scheinst. Deine Augen, dein Lächeln, … Ich bin mir sicher, das alles ist sehr liebenswert. Frag mich bitte nicht, warum, und ich hoffe, du fasst das jetzt nicht falsch auf, aber ich kann es fühlen. Du musst jemand ganz besonderes sein. Werde ich je die Möglichkeit haben, dir in die Augen zu sehen und herauszufinden, wer dieses vergessene Mädchen ist?

In seliger Geduld,

lonelylawyer.“

Rachel quietscht vergnügt und stößt mich leicht an. „Er ist Single und will ein Foto von dir.“ Rachel sieht begeistert aus, anders als ich. Dass er alleinstehend ist, interessiert mich herzlich wenig, denn das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist ein Mann, der mit mir zusammen ist und noch an seiner Ex hängt. Und das mit dem Foto ist auch so ne Sache …

„Es ist mir egal, ob er Single ist oder nicht. Und ein Foto von mir existiert nur in meiner Krankenakte und der Akte der Polizei. Und das ist nicht gerade aussagekräftig. Außerdem befindet es sich nicht in meinem Besitz.“ Gott sei Dank, füge ich in Gedanken hinzu. Rachel steht auf und kramt in ihrer Schublade, und ich weiß sofort, was sie vor hat.

„Oh, nein. Nein! Es wird kein Foto von mir geben. Ich sehe schrecklich aus. Er ist hübsche Frauen gewohnt und wird sich nie wieder bei mir melden, wenn ich ihm ein Bild von mir zeige.“ Ich muss zugeben, ich bin froh über diesen netten, platonischen Kontakt zur Außenwelt. Es wäre schade, wenn dieser nach so kurzer Zeit schon wieder abbrechen würde. Rachel lässt die Schultern sinken und nickt verständnisvoll. „Darf ich ihm eben schnell antworten?“ Rachel nickt. „Klar doch. Lass dir Zeit, ich bin unten bei meiner Mum. Komm einfach runter, wenn du fertig bist.“

Sie tätschelt mir die Schulter und lässt mich alleine in ihrem Zimmer zurück.

Dieser Anwalt hat sich mir geöffnet, er hat mir seine Geschichte erzählt. Ich fürchte, nun bin ich an der Reihe. Ich öffne mich, ich erzähle ihm meine Geschichte und erkläre ihm, warum ich ihm kein Bild von mir schicken kann und er – zumindest fürs Erste – auf meine Augen verzichten muss. Wie er schon schrieb: Manchmal ist es einfacher, sich einem Fremden anzuvertrauen. Und genau das tue ich jetzt.


Vermiss mich nicht

Подняться наверх