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Lilly

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Die Außenwelt und ich

Rachel hilft mir, einen kleinen Schritt in die richtige Richtung zu machen, obwohl sie selbst unter ihren Gedächtnislücken leidet. Ich bin dankbar für den Kontakt zu ihr und bin froh, mich auch über belanglose Dinge austauschen zu können. Irgendwann driftet unser Gespräch von unserer Krankheit ab und geht über zu normalen, alltäglichen Dingen, über die wir einander berichten. Stück für Stück spüre ich, wie ich mich ein wenig normaler fühle, menschlicher, nicht mehr ganz so fremd wie zuvor. Klar, ich bin in den letzten Wochen einkaufen gegangen, besuche regelmäßig meinen neuen Hausarzt und einen Neurologen, der mir vom Krankenhaus empfohlen wurde und mache hin und wieder einen Spaziergang. Aber als Kontakte kann ich all diese Gänge nicht bezeichnen.

Ich genieße die Zeit mit Rachel und bin froh, sie kennen gelernt zu haben. Nachdem zwei Stunden vergangen sind, tauschen wir unsere Daten aus und beschließen, auch außerhalb der Selbsthilfegruppe in Kontakt zu bleiben und uns hin und wieder zu treffen. Da ich derzeit noch kein Handy besitze, muss ich mich auf die Nummer meiner Festnetzleitung beschränken, was jedoch für keinen von uns ein Problem darstellt. Ich bin froh, dass sie ein wenig selbständiger ist, als ich, was daran liegt, dass sie doch noch mehr aus ihrem alten Leben weiß als ich aus meinem.

Wir verabschieden uns mit einer netten Umarmung und machen uns auf den Weg. Es ist früher Nachmittag und ich weiß nicht recht, was ich mit meiner Zeit anfangen soll. Meine Einkäufe sind alle erledigt, Bücher besitze ich nicht und der kleine Fernseher, der zur Wohnung gehört, gibt um diese Tageszeit auch nichts Vernünftiges her. Ich habe kein Handy und auch keinen Computer, und doch drängt es mich dazu, mich ein wenig sozialer zu verhalten. Kontakt zu Menschen aufnehmen, neue Leute kennenlernen. Aber wie soll ich das anstellen, ohne die entsprechenden Geräte zur Verfügung zu haben? Ich laufe weiter und stoße auf ein Internet-Café. „Pro Stunde 1,50 €“ steht in großen Lettern an der Tür geschrieben. Ich krame in meiner Tasche, rechne kurz nach und betrete den dunklen und nicht sonderlich gut besuchten Raum. Meine Bestellung beschränkt sich auf ein Wasser und ich zahle für eine Stunde Internetzugang. Ich ziehe mich an den hintersten Tisch zurück und öffne die wohl größte Suchmaschine der Welt. Die Ergebnisse meiner Suche zeigen mir sämtliche soziale Netzwerke an, ebenso wie Seiten für Singles und sonstige einsame Menschen. Menschen wie mich. Mein Blick fällt auf ein ganz besonderes Portal und ich beschließe, mir eine gültige Email-Adresse zuzulegen und mich dort anzumelden. Schnell habe ich mein Profil bestätigt und ausgefüllt, ein Foto von mir selbst existiert jedoch nicht, was ich im Augenblick auch gar nicht schlimm finde. Ich sehe zwar nicht unbedingt schlecht aus, aber es muss ja keiner von Anfang an wissen, wie ich aussehe.

Auch wenn ich nicht weiß, was mich erwartet und ich mit zahlreichen Anmachversuchen zwielichtiger Kerle rechne, wage ich den Schritt nach vorne. Ich werde ohnehin vorerst nicht sonderlich oft nach neuen Anfragen oder Nachrichten schauen können, aber es tut mir gut, überhaupt irgendeinen Kontakt zu haben. Ich muss mich damit abfinden, dass mein Leben nun von vorne beginnt und ich mir ein neues Umfeld aufbauen muss. Und ich denke, neben Rachel ist das Internet eine gute, vorübergehende Lösung.

Die Stunde ist schnell um. Ich verlasse den Laden und mache mich auf den Heimweg, langsam knurrt mein Magen und ich beschließe, mir eine Kleinigkeit warm zu machen und es mir letztendlich doch vor dem Fernseher gemütlich zu machen. Noch immer komme ich mir fremd vor in diesem Gebäude, aber an anderen Orten fühlt es sich nicht viel anders an. Ich kann nur hoffen, dass ich mich schnell an mein neues Leben gewöhne. Es ist seltsam, wenn man nicht weiß, was man sonst immer gern hatte oder man gerne unternommen hat, welche Hobbies man hatte oder was man gar nicht leiden konnte. Jeden Tag hoffe ich auf einen kleinen Funken einer Erinnerung aus meiner Vergangenheit, aber es kommt nichts. Ich sehe nur das Jetzt und Hier und sehe meine eigene Hoffnung langsam schwinden. Die Ärzte sagen zwar, mein Gedächtnis wird wieder kommen, aber es ist umso schwerer für mich, weil ich niemanden um mich herum habe, der mich oder mein Leben kennt. Ich bin völlig auf mich allein gestellt, was die Wiederaufbereitung meiner Erinnerungen betrifft, aber die Ärzte reden mir immer wieder ein, nicht aufzugeben. Ich möchte gerne wissen, was sie machen würden, wenn sie ihr gesamtes Leben einfach vergessen würden.

Gerade räume ich das Geschirr in die kleine Küche, als das Telefon klingelt. Bis auf einige Ämter und Ärzte kennt niemand diese Nummer, also gehe ich davon aus, dass es Rachel ist und stelle kurz danach fest, dass ich recht hatte.

„Hallo, Lilly. Ich hoffe, ich störe nicht? Ich wollte nur noch mal nach dir hören und sehen, ob alles in Ordnung ist.“ Ich lächle, obwohl sie es nicht sehen kann und setze mich mit dem Mobilteil zurück auf die Couch, wo der Fernseher nun stumme Bilder vorüberziehen lässt.

„Du störst nicht, im Gegenteil. Ich bin froh, dass du anrufst. Hier ist alles so still und öde, und im Fernsehen läuft auch nichts Vernünftiges. Mir geht es ganz gut, wie immer eben. Danke. Und dir?“ Rachel klingt glücklich, beinahe, wie ein kleines Mädchen, das der ganzen Welt zeigen möchte, wie lieb es ihre beste Freundin hat.

„Auch ganz gut, danke. Ich versuche, mich körperlich noch ein wenig zu schonen und surfe hin und wieder im Internet. Meine Mutter kann ohnehin nicht viel für mich tun, obwohl sie sich wirklich Mühe gibt und ich ihr hierfür sehr dankbar bin.“

Das Internet … Ich erzähle ihr von meiner verrückten Aktion vom Nachmittag. „Da hab ich mich einfach angemeldet. Ich kann zwar nicht so oft reinschauen, aber hin und wieder werde ich meine Nachrichten abrufen.“ Mich juckt es in den Fingern, aber meine Idee ist mir zu peinlich, als dass ich Rachel darum bitten könnte, mir einen Gefallen zu tun.

„Verstehe. Du kannst auch gerne meinen Computer benutzen, wenn du möchtest. Du kannst gerne jederzeit vorbei kommen und deine Mails checken. Ich habe nichts dagegen.“ Für einen Moment bin ich sprachlos, wir kennen uns noch keine vierundzwanzig Stunden und schon bietet sie mir ihre Hilfe an. Dann fange ich an, mich aufrichtig zu freuen. „Wirklich? Das wäre ja super. Das ist lieb von dir, vielen, vielen Dank!“ Ich möchte sie am liebsten umarmen und nehme mir vor, dies bei unserem nächsten Treffen nachzuholen. Und prompt liefert sie mir einen weiteren Grund, sie zu mögen. „Das heißt also, du hast dich heute Mittag dort angemeldet und seitdem keine Nachrichten mehr abgerufen?“ Ich schüttele den Kopf, als säße sie mir gegenüber. „Nein, wie denn auch? Ich habe außer einem Telefon und dem Fernseher keine größeren, technischen Geräte bis auf die nötigen Haushaltsgeräte.“

Rachel lacht in ihren Hörer. „Wow, Respekt. Das würde ich gar nicht erst aushalten. Sind denn deine Log-In-Daten sehr geheim?“ Ich ahne, worauf sie hinaus will, und kann es kaum glauben. Ich mag sie, ich vertraue ihr und mein Profil auf dieser Plattform sagt ohnehin nicht viel über mich aus. Außerdem denke ich nicht, dass sie mein Profil manipulieren oder fremde Männer ohne mein Wissen anschreiben würde. „Würdest du denn nach meinen Nachrichten schauen wollen? Wirklich?“ Rachel bejaht ihren Vorschlag mit Nachdruck und ich gebe ihr meine Daten durch.

„Na dann schauen wir mal, forgottengirl. So, Posteingang.“ Ich lausche ihrer Stimme und spüre, wie mein Herz schneller schlägt, obwohl es hierfür überhaupt keinen Grund gibt. Ich schiebe die Aufregung auf meine Neugier und bin gespannt, ob sich überhaupt schon jemand mit mir in Kontakt setzen will.

Rachel berichtet von meinen eingegangenen Nachrichten und fasst sie kurz zusammen. „Also, du hast eine Willkommensmail, wie jeder sie bekommt. Herzlich Willkommen, viel Spaß, das Übliche. Dann sind zwei Mails dabei von Profilen ohne Bild, aber die Nicknames sagen nichts Gutes über die Mitglieder aus. Hot_Hero und Big_Ben.“ Ich muss laut lachen und möchte gar nicht wissen, was in ihren Mails geschrieben steht. Als ich denke, das war’s auch schon wieder, fährt Rachel fort. „Und dann ist noch eine dabei von einem scheinbar hübschen Kerl, soweit man seinem Profilbild trauen kann. Er nennt sich lonelylawyer. Soll ich dir die Mail mal vorlesen?“

Meine Gesichtszüge werden wieder ernst, mein Puls beschleunigt sich und die Aufregung eines Teenagers macht sich in mir breit. „Ja, bitte.“

„Hallo, forgottengirl. Ich bin lonelylawyer und bin tatsächlich ein einsamer und derzeit sehr trauriger Anwalt, der hofft, hier Gleichgesinnte zu treffen. Keine Sorge, ich suche keine sexuellen Kontakte und bin auch kein Schwerverbrecher, sondern freue mich einfach auf einen netten Austausch und darauf, neue Leute kennen zu lernen. Dein Profil ist mir auch ohne Foto sofort ins Auge gesprungen, als ich deinen Nicknamen gelesen habe. Ich hoffe, dass du keine Frau bist, die ich wieder vergessen muss und hoffe, du findest den Mut, mir zu antworten. Ich würde mich sehr freuen. Herzliche Grüße, der Anwalt.“

Ich schlage mir die Hand vor den Mund und muss kichern. Rachel stimmt mit ein, während sie scheinbar weiter surft und sich auf seinem Profil umschaut. Sie liest mir alles Wissenswerte vor. „Er sieht sehr gut aus, gepflegt, wie ein Anwalt eben aussehen sollte. Zumindest hoffe ich, dass er das auch wirklich ist auf dem Foto. Er ist Anfang dreißig, Anwalt, lebt in Cookstown und hört gerne Musik. Viel mehr steht hier nicht drin, auch nichts über seinen Beziehungsstand, aber ich schätze, das wird dich eh nicht interessieren.“

Ich gebe ihr recht. Ich kenne mich selbst kaum, wie soll ich da jemand anderes kennenlernen oder zulassen, dass jemand sich in mich verliebt wenn ich noch nicht einmal weiß, ob ich überhaupt liebenswert bin? Die rothaarige Frau reißt mich aus meinen Gedanken. „Hey, es ist noch nicht allzu spät und wir wohnen doch gar nicht so weit voneinander weg. Was hältst du davon, wenn ich meinen Laptop und meinen Surfstick einpacke und meine Mutter bitte, mich zu dir zu fahren? Sie hat sicher nichts dagegen, aber ich will dich auch nicht stören oder dir zu nahe treten.“

Ich denke nach. Ein Abend zu zweit wäre eine willkommene Abwechslung, ich müsste nicht mehr aus dem Haus und ich hätte die Möglichkeit, dem Anwalt zu antworten. Denn das werde ich auf jeden Fall tun, die Nachricht klang sehr aufrichtig und nett. Zu gerne nehme ich ihr Angebot an und sehe uns beide gemeinsam eine halbe Stunde später gemeinsam auf dem Sofa sitzen. Ich freue mich, sie zum zweiten Mal an diesem Tag zu sehen und löse meine versprochene Umarmung ein.

Sie startet ihren Laptop, stellt eine Internetverbindung her und öffnet mein Profil. Dann übergibt sie mir den kleinen Computer, damit ich mir selbst ein Bild von diesem Mann machen kann. Er sieht tatsächlich gut aus und wirkt sehr gepflegt. Jemanden wie ihn hatte ich hier nicht erwartet, umso glücklicher bin ich über seine Kontaktaufnahme.

Sekundenlang starre ich sein Profilbild an. Seine blauen Augen sind weit wie das Meer und ich befürchte, mich darin zu verlieren. Sie ziehen mich magisch an, und ich habe keine Erklärung hierfür. Ich weiß nicht, was es ist, ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben und weiß auch nicht, ob ich jemals so empfunden habe, aber ich empfinde ihm gegenüber keine Angst und keine Zurückhaltung. Vorsicht ist plötzlich ein Fremdwort für mich.

Ich rufe erneut meine Nachrichten auf, lösche die beiden ungelesenen Mails der Herren mit den seltsamen Nicknamen und rufe die Nachricht des gutaussehenden Mannes auf, um sie noch einmal zu lesen. Rachel beobachtet mich stumm, als ich auf antworten klicke, meine Finger langsam über die Tasten schweben lasse und meine Antwort schließlich absende. Mein Herz rast, und nach langer Zeit fühle ich mich endlich wieder lebendig.


Vermiss mich nicht

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