Читать книгу nur Tod und Verderben - N. H. Warmbold, Nicole Heuer-Warmbold - Страница 5

Kapitel 2 – Eiron

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Die Frauen tuschelten. Es war unglaublich, diese Frauen waren auf der Flucht, mit ihren Kindern, ihren wenigen Habseligkeiten, sie hatten ihr Heim, ihre Männer hinter sich gelassen, Tod und Zerstörung, und sie hatten nichts Besseres zu tun, als über sie zu tuscheln. Natürlich nie, wenn Mara in der Nähe war, aber sie spürte ihre Blicke, hörte die eine oder andere Bemerkung, wenn sie, Mavi vor sich im Sattel und begleitet von Janek, vorüber ritt. Vermutlich war es nicht wichtig, schon gar nicht wichtig genug, um sich darüber zu ärgern, aber Mara wunderte sich doch.

Noch bevor sie das Lager abbrachen und weiter zogen, absolvierte Mara jeden Morgen, meist mit Janek, seltener mit Ron oder einem anderen Gardisten, Basisübungen, Jons Worte im Hinterkopf. Womöglich ein weiterer Anlass zu Getuschel, doch eine notwendige und willkommene Ablenkung. Genau wie die wenigen Gelegenheiten, zu denen Mara den Wallach einfach laufen ließ: einfach dahin rasen, mit dem Wind um die Wette jagen, weitab vom Zug Richtung Westen und dann in einem großen Bogen zurück. Sie brauchte das, liebte es, in den Steigbügel fast stehend, weit vorgebeugt; genoss mit allen Sinnen. Und Mavi offenbar ebenso, denn am dritten oder vierten Tag murmelte er leise „Noch mal“, kaum dass sie zu den anderen zurückgekehrt waren. Mara nickte nur. „Wenn er sich ausgeruht hat.“

Später dann, die Sonne ging bereits unter und die anderen stellten die Wagen einmal mehr im Kreis für das Nachtlager auf, gab Mara ihrem Pferd erneut die Zügel frei. Sollten die Frauen reden.

Am Abend, nach einem Rundritt durch treibenden Schnee, wurden sie bei ihrer Ankunft im Lager bereits erwartet. Ein junges Mädchen blickte ihnen mit empörter Miene entgegen, die Hände in die Hüften gestemmt. „Ihr habt es natürlich nicht nötig, beim Aufbau des Lagers zu helfen, was? Reitet da auf Eurem großen Pferd herum, reitet nur so zum Spaß, zu Eurem Vergnügen durch die Gegend, während andere, während wir hier schuften! Nicht genug, dass wir den ganzen Tag durch Matsch und Schnee laufen, hetzen müssen, während Ihr selbstverständlich reitet, als wärt Ihr ein Gardist, für den Ihr Euch offenbar haltet mit Eurem Schwert, Euren Waffen, diesem Mantel und der ganzen Schutzkleidung. Nein, Ihr lasst Euch auch noch von Frauen wie mir bekochen und bedienen, und Ihr … Ihr …“ Das Mädchen wusste nicht weiter, schnappte nach Luft.

Mara nickte kühl, stieg aus dem Sattel und hob Mavi herunter. „Ja. Du kannst den Wallach herumführen, du siehst ja, er ist völlig verschwitzt. Aber vorher braucht er Wasser, nicht zu viel auf einmal. Und nachher bitte trockenreiben.“

Mit offenem Mund starrte das Mädchen Mara an, griff wie von selbst nach den Zügeln. Mara wandte sich ab, ließ das Mädchen stehen und ging ins Lager hinein, begegnete achselzuckend Bahadirs erstauntem Blick. „Jedem, was er braucht.“

Ungläubig sah er sie an. „Ihr seid wirklich … Sie brauchte das?“

„Jup. Einen Grund, sich noch ein bisschen mehr über mich aufzuregen.“

Bahadir schaute sich nach dem Mädchen um, das sich fürsorglich um Maras Pferd kümmerte. „Aber … Anstatt weinend zusammenzubrechen?“

„Besser, wenn sie noch einige Tage durchhält.“

„Wisst Ihr denn …“

„Sie wird es mir erzählen.“

„Mara, Ihr …“ Er trat zögernd einen Schritt auf sie zu und legte die Hände an ihre Oberarme, sah beinah überrascht auf Mavi und lächelte Mara verhalten an. „Kommt Ihr zurecht?“

„Bahadir, das ist …“ Mehr als nur irritiert musterte sie ihn, doch änderte das nichts an seinem sanften, fast schon zärtlichen Lächeln. „Das halbe Land zieht in wenigen Tagen in die erste Schlacht des Krieges, während die andere Hälfte schon jetzt vor den Folgen dieses Krieges zittert und leidet, und Ihr fragt mich, ob ich zurechtkomme?“

„Ja. Ihr ganz persönlich, Euer Mann ist …“

Mara sparte sich die Worte, den Wutausbruch, sie sah Bahadir an, dass es ihm ernst war, und schüttelte brüsk seine Hände ab. „Es geht mir gut, danke.“

Schon am selben Abend hockte sich das Mädchen still neben Mara, nachdem es Ron und ihr – sie saßen ein Stück entfernt von Bahadir, Liz, Ondra und den anderen – einen weiteren Becher Tee gebracht hatte, druckste herum. Ron lächelte kalt und schaute Mara an. „Soll ich gehen?“

Sie wandte sich an das Mädchen. „Und, soll er gehen?“

„Ähm …“ Das Mädchen biss sich auf die Lippen, senkte den Kopf. „Ich… Herrin, ich, ich weiß nicht, es …“

Nahezu lautlos erhob sich Ron, streifte mit den Fingerspitzen Maras Schulter und verschwand in Richtung des Feuers der Gardisten. Mara rückte näher an das Mädchen heran und legte ihm die Hand auf den Unterarm. „Wir sind allein.“

Das Mädchen nickte vage und knetete seine Finger, Hände. Schwieg. Abwartend blickte Mara in die Flammen, lauschte dem Knacken und Knistern, dem Wind. Dem leisen Schluchzen neben ihr, das sich langsam zu heftigem Weinen steigerte und mit einem plötzlichen, heiseren Aufschrei abbrach. „Sie haben sie umgebracht!“

Danach nur noch Weinen, lange, unterbrochen von lautem, aber unverständlichem Wehklagen, Mara saß einfach nur dabei. Spürte den Schmerz des Mädchens, diesen wilden, unerträglichen Schmerz seines Leids, das es schier zerriss. Irgendwann begann Vica, so hieß das Mädchen, zu erzählen, erzählte davon, wie seine Eltern von den Ostländern, die Dalgena erobert und geplündert hatten, getötet worden waren. Vica selbst sei ihnen nur entkommen, weil sie sich an den Rat der Mutter gehalten und rechtzeitig versteckt hatte. Jetzt sei sie allein, völlig allein, von ihrer Schwester wüsste sie nur, dass diese bereits sehr viel früher – die Nachbarn hätten sie als feige verlacht – mit ihren Kindern und den Eltern ihres Mannes aus Dalgena geflohen sei, von ihrem Bruder hätte sie nichts mehr gehört, seitdem der mit den Soldaten nach dem Kampf um die Stadt in die Berge, die östlichen Ausläufer der Tameran-Kette, gegangen sei. „Er hat uns gesagt, wir sollten versuchen, nach Samala Elis durchzukommen, aber meine Eltern …“ Wieder schluchzte Vica. „Sie glaubten, es würde schon nicht so schlimm werden, und wenn es gar nicht mehr ginge, könnten wir im Frühling, wenn das Wetter … Aber sie haben sie einfach totgeschlagen! Mein Vater hat noch versucht, sich schützend vor meine Mutter zu stellen, doch die Männer … Sie haben einfach auf ihn eingeprügelt, bis er sich nicht mehr gerührt hat, und überall war Blut und … und meine Mutter hat so entsetzlich geschrien, immer weiter, sie hat überhaupt nicht mehr aufgehört und ich habe mir die Ohren zugehalten, um ihr Geschrei nicht mehr hören zu müssen, und dann … Ich habe nicht gesehen, was die Männer getan haben, aber ich weiß es, ich weiß es!“

Vica schlug die Hände vors Gesicht und wiegte sich vor und zurück, unablässig, bis Mara ihr die Hand auf die Schulter legte. Sie fuhr regelrecht zusammen, wimmerte. „Ich bin alt genug, ich weiß, was sie getan haben. Ich weiß, warum meine Mutter wollte, dass ich mich verstecke, so verstecke, dass niemand mich findet. Aber es war so entsetzlich, ich, ich … ich konnte nichts tun, ich hatte solche Angst, ich …“

„Du hast alles richtig gemacht, Vica. Du hättest deinen Eltern nicht helfen können, nicht gegen eine Gruppe bewaffneter …“

„Drei, es waren nur drei, versteht Ihr? Und sie waren betrunken! Ich erkenne betrunkene Männer, ich bin ihnen früher oft genug in der Wirtschaft meiner Eltern begegnet, auch wenn Mutter mich … Die Männer, Soldaten, waren betrunken, ich … ich konnte es sehen, als … als dann auch noch die anderen kamen, noch zwei Soldaten, die waren nüchtern. Dann sind sie alle gegangen, nachdem sie die ganze Einrichtung zertrümmert und unser Haus in Brand gesteckt hatten. Ich … musste warten, bis sie weg waren, und der Rauch … Ich weiß nicht mehr, wie ich weggekommen bin, ich kann mich nicht erinnern, es war … Da waren Leute, alte Leute, keine Ostländer, und die haben mich mitgenommen. Sie hatten den kleinen Jungen bei sich, aber es ist nicht ihr kleiner Junge.“

„Mavi?“

„Ich weiß nicht, ob er so heißt, er spricht nicht. Die alten Leute sagten, seine Mutter sei tot.“

Mara nickte, soviel wusste sie von Hiron. Das alte Ehepaar, Nachbarn von Gela und Mavi, hatten den Jungen völlig verstört im Garten aufgefunden.

„Warum ist der Kleine jetzt bei Euch?“

„Sein Vater, Hauptmann Hiron, hat mich darum gebeten.“

„Oh. Ja. Dann ist nicht seine ganze Familie tot, sein Vater lebt noch. Das ist gut.“

Ja, Hiron lebte noch. Mara nickte schweigend und ließ den Arm um Vicas Schultern gelegt, bis die beinah eingeschlafen war, plötzlich hoch ruckte und sich verlegen zu ihrem Schlafplatz begab.

* * *

Bahadir lenkte sein Pferd neben Ron, dessen Pferd, und erntete einen kühlen, abweisenden Blick. Gar nicht einfach, mit dem Mann zu reden, Ron war nie lange an einem Ort, ständig unterwegs. Und Bahadirs Pferd deutlich kleiner und langsamer als das des Gardisten, schreckhaft und nervös wegen des ewigen Windes; Bahadir fror, er fühlte sich überflüssig, erschreckend hilflos. „Das sind also die berühmten Ebenen?“

Ron musterte ihn kurz. „Berühmt?“

„Irgendwer nannte sie das Herz Manduras.“

„Ah, ja. Heimat der alten Könige.“

„Eure Vorfahren?“

Der Gardist schüttelte brüsk den Kopf. „Sadurnim.“

„Und Ihr, wo liegt Eure Heimat?“

„Weiter westlich, fast am Meer. Wo liegt Eure Heimat, Priester?“

Bahadir verzog schmerzlich das Gesicht. „Noch viel weiter westlich, jenseits des Meeres. Ich … meine Familie stammt von der Nordinsel Erian Jasas.“

„Was macht Ihr dann hier, im Krieg? Ihr seid kein Krieger, kein Zauberer und offenbar auch kein Mann, der die Herausforderung, gar die Gefahr sucht.“

„Nein“, musste er zustimmen. „Ich bin der Hüter des Schwertes.“

„Ach? Und welche Aufgabe hat der Hüter des Schwertes, Priester?“

„Spart Euch Euren Spott, Gardist! Ich bin oberster Priester des Jägers in Seinem Heiligtum in Débar und ich diene … Der Hüter des Schwertes unterstützt bedingungslos das Kind der Frau vom Meer, dem das Schwert gebührt.“

„Ihr dient zwei Herren, Priester. Und beide sind sehr … wirklich. Nah. Wolltet Ihr mir von Euren Schwierigkeiten berichten?“

„Ich?“ Bahadir lachte. „Ihr begehrt die Frau Eures Hauptmanns, Ron, und Ihr macht überhaupt keinen Hehl daraus. Mir erscheinen Eure Schwierigkeiten ein wenig konkreter.“

Rons Lächeln war eisig, seine hellen, graublauen Augen blickten hart. „Ihr kommt langsam zum Kern, Priester.“

„Ihr … Ihr seid ein verflucht guter Gardist, wisst Ihr das?“

„Aye.“

„Ich verstehe nur nicht, wie Ihr dann …“

„Wie auch, Ihr seid Priester, gebt etwas auf Eure Enthaltsamkeit, Ihr … Verdammt, warum sollte ich Euch das, warum sollte ich Euch irgendetwas erklären?“

„Vielleicht möchtet Ihr ja darüber reden, mit einem unbeteiligten … Beobachter?“

„Mit Euch? Ihr seid doch alles andere als unbeteiligt, Priester. Und wozu sollte ich darüber reden, etwa, um mich hinterher besser zu fühlen? Erleichtert? Ganz sicher nicht.“

Bahadir biss sich auf die Lippen, unterdrückte ein Seufzen. „Aber ich möchte mit Euch reden.“

„Wüsste nicht, worüber wir reden sollten.“

„Es ist mir ein Anliegen! Könnt Ihr Euch nicht vorstellen, dass ein anderer … dass ich nicht so einfach damit fertig werde, was sich dort …“ Er wies hinter sich, die Richtung stimmte vermutlich nicht, doch darum ging es auch nicht. „Was sich vor einigen Tagen zugetragen hat? Ihr seid Soldat, für Euch ist es ja vielleicht Alltag, Menschen zu töten und zu verstümmeln, mitzuerleben, wie Menschen Gewalt angetan wird. Aber für mich nicht!“

Ron musterte ihn kalt. „Ihr habt doch gar nicht getötet, Priester.“

„Nein, aber ich … Als diese Soldaten über hilflose, unbewaffnete Menschen hergefallen sind, über Frauen und Kinder, da …“ Sich nur nicht erinnern, er presste die Augen zusammen, kämpfte gegen das Zittern an.

„Ja. Ich halte das für eine normale Reaktion, und hättet Ihr anders empfunden, gehandelt, würde ich Euch ungern in meiner Nähe haben wollen.“

„Klingt fast, als …“

Ron fiel ihm lachend ins Wort, kein freundliches Lachen, aber immerhin ein Lachen. „Bildet Euch bloß nichts ein, Priester. Ich mache mir nicht viel aus Männern, schon gar nicht Männern wie Euch.“

Bahadir bemühte sich erfolglos, nicht rot zu werden, das Gespräch entglitt ihm immer mehr. „Und Ihr braucht auch keinen Freund.“

„Ich sag Euch was, Priester. Wenn ich mal reden will, komm ich zu Euch.“

* * *

Sie hatten ihn in irgendein dunkles Loch gesperrt, vermutlich ein Keller. Er glaubte nicht, dass es in dem kleinen Dorf so etwas wie einen Kerker oder gar Verlies gab. Falls sie noch in dem Dorf waren, er konnte nicht sicher sein, war über lange Zeitspannen nicht bei Bewusstsein gewesen. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit die Ostländer ihn erwischt hatten, wusste nicht, ob es Tag war oder Nacht. Welcher Tag, welche Nacht, war die Schlacht schon vorüber? Es war beständig dunkel hier, anders als in der Scheune; ein einziges Mal hatte er Nahrung bekommen, irgendeine Pampe, einen Krug mit Wasser, aber was hieß das schon. Er fror, er war noch immer nackt, hatte nicht einmal eine Decke, gar nichts. Fieber und Schmerzen, seine Schulter … Nun, sie hatten den Bolzen rausgezogen, aber sein Bein … Er lebte, immer noch, nachdem sie ihn dreimal verhört hatten, wie dieses Schwein Kahane es nannte. Aber wie lange noch, es war lediglich eine Frage der Zeit, bis sie ihn totschlugen.

Manchmal dachte er an das Mädchen. Er hatte nichts mehr gehört, hatte nicht mehr nach ihm gefragt; falls es noch lebte, wollte er ihre Aufmerksamkeit nicht noch zusätzlich auf das arme Geschöpf lenken. Das erste Mal war bereits ein Fehler gewesen.

Er glaubte nicht mehr, er würde es schaffen, würde diesen unmöglichen Auftrag, den ihm niemand erteilt hatte, überleben. Die Zeit …

Er hörte schwere Schritte auf dem niedrigen Gang vor der Holztür, lachte innerlich, er würde sterben, er konnte nichts tun. Die Soldaten, es waren immer andere, zerrten ihn grob aus dem Loch, schleiften ihn den düsteren Gang entlang, unter Schlägen und Tritten eine kurze, steile Treppe hinauf, in eine schmuddelige Küche. Der Herd, das Gestell für die Haken und Zangen, Kahanes Peitschen und Messer, ein Tisch, ein paar Stühle, er kannte die Einrichtung, atmete tief durch, wartete mit geschlossenen Augen. Spürte ihre Nähe, und das konnte nicht sein! Sie war nicht hier, sie war in Sicherheit, sie und Mavi, daran musste er glauben!

Ich werde dir ein paar Dinge über die Frau erzählen, an die du so oft denkst.

Langsam, um sich sein Erschrecken nicht anmerken zu lassen, wandte er den Kopf und starrte zu Satorian. Bisher hatte dieser sich keins von Kahanes Verhören entgehen lassen, jedoch selten viel gesagt, nie etwas getan. „Ich denke an keine Frau.

Oh doch, Hiron, das tust du. Du denkst an sie, wenn der Schmerz unerträglich wird. Weißt du, sie ist deine Treue, deine Verehrung nicht wert.

Es war lächerlich, so absurd, dass er keuchend zu lachen begann und die Soldaten ihn prügelten, bis er aufhörte. Satorian deutete seinen Wächtern, ihn auf einen Stuhl zu setzen. Keine Fesseln, nur die auf ihn gerichtete Armbrust eines weiteren Soldaten.

Diese Frau, Mara I’Gènaija, angebliche Zauberin … Nun, wir beide wissen, worin ihr Zauber besteht: ein göttliches Gesicht und der Gestank ihrer Möse, aber das nur am Rande. Sie ist eine Hure, eine Hure der schlimmsten Sorte. Sie macht für jeden die Beine breit, wenn sie sich etwas davon verspricht, aber das weißt du längst, oder? Hiron, sie treibt es mit jedem, wirklich jedem, wenn es ihr nützt. Sie hat Graf Barreck verführt, da war sie noch nicht mal zwölf. Hat sie dir nicht erzählt?

Er rührte sich nicht, wenn er sich bewegte, war er tot. Er wollte Satorians Verleumdungen und Lügen, womöglich genau die Worte, die er auch schon an Domallen und Davian gerichtet hatte, an diesen Sakar, nicht hören, aber Satorian hatte Mittel, jemanden zum Zuhören zu zwingen. „Manche Mädchen fangen so früh an, sicher, das gibt es, gerade im Süden, aber die wenigsten machen so weiter. Auf Ogarcha war sie einem jungen Mann fest versprochen, die Hochzeit für den Sommer geplant. Aber plötzlich, kurz vor der Vermählung, hat sie sich einem anderen zugewandt, der ihr offenbar besser in ihre Pläne passte. Doch nicht genug, dass sie ihren Bräutigam für einen völlig Fremden sitzen lässt, sie hat ihren neuen Liebhaber auch dazu gebracht, wie, muss ich ja wohl nicht erklären, diesen jungen Mann für sie zu ermorden.

Hiron ballte die Fäuste und zwang sich, Domallens Namen nicht laut auszusprechen, knirschte mit den Zähnen.

Dann erst war diese verlogene, hinterhältige Frau zufrieden, oder soll ich sagen befriedigt, und verließ mit ihrem neuen Liebhaber schleunigst die Burg im Süden. Den traurigen Rest kennst du, nehme ich an, auch dieser Mann war ihr nicht genug. Was glaubst du, warum sie diesen Hauptmann geheiratet hat?

Um Domallen los zu werden.“ Aber war es wirklich so gewesen? Und überhaupt, wozu erzählte der Zauberer ihm das, was tat er mit ihm?

Ganz recht, aber das war es nicht allein. Sie wollte das Gerede zum Schweigen bringen, um in aller Ruhe mit ihrem Treiben weiterzumachen. Und jener Hauptmann hat einen gewissen, gewalttätigen Ruf. Es macht ihr Spaß, sie richtet Männer reihenweise zu Grunde, bloß um ihre Begierde zu befriedigen. Wie viele Liebhaber hatte sie, seit sie im Norden lebt?

Ich weiß es nicht.“ Ein paar, und wenn schon, andere Frauen … Satorian redete bereits weiter. „Nein, du weißt es nicht. Und solch einer dreckigen, verdorbenen Metze gelten deine Gedanken, wenn deine letzte Kraft schwindet? Du tust mir Leid.

Das ist nicht …“ Er wollte es nicht glauben, es war lächerlich, Satorian erzählte ihm diese verdammten Lügen doch nur, um ihn fertig zu machen. Der Zauberer wusste nichts von Mara, lediglich, dass sie seine Schwäche war, die der verfluchte Zauberer gnadenlos ausnutzte. „Aber sie …

Sie hat dich zurückgewiesen, ja. Hat dir schöne Augen gemacht und dich dann eiskalt zurückgewiesen. Hast du dich nie nach dem Grund gefragt?

So war es nicht! Mara hatte ihm nie schöne Augen gemacht, hatte ihn nie weiter beachtet, vielleicht diesen verfluchten Bastard Ron, aber … Er folgte dem Gedanken nicht weiter, er war gefährlich, schadete ihm, Satorian wusste, was er tat, und womöglich kannte er seine Gedanken. Mara … Aber sie war nicht hier, musste nicht erleiden, was er erlitt, sie wurde nicht wieder und wieder zusammengeschlagen, gefoltert und gedemütigt, sie saß nicht nackt und gefesselt auf einem Stuhl, während jemand ihr dreckige, schändliche Lügen über den Menschen erzählte … Hör auf damit! Er presste die Augenlider zusammen, ließ den Kopf hängen und bemühte sich ruhig zu atmen, er brauchte seine Kraft, seinen letzten Rest Stärke. Verdammt, er war Gardist, und die Gardisten waren die Besten der Besten. Er konnte doch jetzt nicht aufgeben, er musste durchhalten, klammerte sich an ihren Namen, suchte diesen ach so schwachen Kontakt.

Du sagst gar nichts.

Ich habe nichts zu sagen.

Gar nichts?

Wusste Satorian, wer er war, erinnerte er sich? „Glaubt Ihr, sie weihen einen Gardisten in ihre Pläne ein? Glaubt Ihr, Domallen oder auch nur mein Hauptmann fragt mich um Rat, mich?!

Vielleicht hätten sie dann weniger Schwierigkeiten.

Was für …

Das Auftauchen weiterer Soldaten unterbrach ihn. Kahane kam, begleitet von einem weiteren Mann, ins Zimmer, und Hiron musste sich zwingen, nicht zu reagieren, ruhig und untätig auf dem Stuhl sitzen zu bleiben, als er ihn erkannte. Barreck musterte ihn kalt lächelnd. „Einen interessanten Gesprächspartner habt Ihr da, Satorian. Ich störe doch nicht etwa?“ Spöttisch verbeugte er sich in seine Richtung. „Hauptmann Hiron Ligoban. Ihr habt Euch kaum verändert, wenn Ihr mir die Bemerkung gestattet.

Barreck.

Doch weder Barreck noch Kahane legten Hand an ihn, und die Soldaten schafften ihn wieder in den Keller zurück. Als hätten sich ihre Pläne abrupt geändert – oder bloß ein Trick.

* * *

Der heftige Schneefall der letzten drei Tage war in strömenden Regen übergegangen, alles war nass und trübe, grau, die Ebenen durch die Regenschleier ein eintöniges Nichts, die Weite nur zu ahnen. Mara führte den Wallach am Zügel neben dem Wagen, auf dem Ondra mit ihren Kindern saß, platschte missmutig durch den Schlamm. Mavi hockte, in ihren Reitmantel gewickelt, wie ein Wichtel im Sattel, nicht mehr wie ein verschrecktes, panisches kleines Tierchen. Ron dachte nicht im Traum daran, zu Fuß zu gehen: ein Gardist ritt, und nicht allein, weil er zu Pferde beweglicher war. Er hielt den Zug zusammen, achtete darauf, dass niemand zurückblieb oder vom Weg abkam. ‚Wie ein Hütehund’, hatte Bogat, der ältere Mann in Ondras Begleitung, der Verwalter ihres und Leifs Hauses in Dalgena, gesagt, und so ganz falsch war der Vergleich nicht. Obgleich Mara die Flüchtlinge nicht als Schafe sah. Und er, Ron, hatte – natürlich – Späher ausgesandt, nach hinten und zu den Seiten. Es war nicht notwendig, sie wurden nicht verfolgt, Mara wusste es, Liz wusste es ebenso, doch Ron hatte ihr bloß ruhig zugehört, verhalten genickt und trotzdem getan, was er für richtig hielt. Nun, er hatte das Kommando, und vermutlich fühlten sich die Leute sicherer. Beschützt, behütet. Manchmal hörte Mara ein Lachen von einem der Wagen, häufiger allerdings Jammern und Klagen. Von denen, die gehen mussten.

„Ihr versteht euch gut? Du und … ähm, Ron?“

Verwundert sah Mara zu, wie Ondra vom Wagen herunterkletterte, um neben ihr zu gehen. Sie hatten die letzten Tage nicht viel miteinander geredet und Mara war sich ziemlich sicher, Ron gerade nicht nachgeschaut zu haben, nachdem er ihr mitgeteilt hatte, sie kämen gut voran. „Ja, manchmal.“

„Nur manchmal?“

Mara zuckte die Achseln. „Manchmal ist es schwer, mit ihm zurechtzukommen.“

„Den Eindruck hatte ich ehrlich gesagt nicht, er sieht dich …“ Ondra seufzte, biss sich auf die Lippen. „Ich habe gesehen, wie ihr euch geküsst habt, Mara.“

„Ah, verstehe. Und Liz oder sonst jemand, am wahrscheinlichsten aber Liz, hat dir davon erzählt, dass ich mit Davian verheiratet bin.“

„Woher … Das ist richtig, ja. Liz-Rasul …“, Ondra stockte, „der Zauberer … er hält sehr viel von dir, von deinen Fähigkeiten.“

Sie schwieg einen Moment, den Kopf gesenkt, ein dickes Tuch zum Schutz vor dem Regen eng um sich geschlungen. „Was ich … Du hast tatsächlich diesen brutalen, versoffenen Kerl geheiratet?“

„Wenn du damit Davian meinst, ja.“

„Aber warum, du … Himmel, Mara, du, du …“ Betreten schaute Ondra auf den Boden vor ihren Füßen, nicht zu Mara. „Musstest du … Glaubtest du, ihn heiraten zu müssen?“

„Nein, wieso? Ich wollte …“ Mara schüttelte ärgerlich den Kopf und lachte dann plötzlich auf, als sie verstand, worauf Ondras Frage abzielte. „Oh, nein, wirklich nicht. Ich musste Davian nicht heiraten. Wir wollten beide. Heiraten.“

„Aber …“ Wieder zögerte Ondra, und Mara war sicher, sie stellte nicht die Frage, die ihr zuerst durch den Sinn ging. „Du bist doch schwanger?“

„Hm, ja. Bist du allein drauf gekommen oder hat dir das auch Liz erzählt?“

„Mara, du …“ Ondra griff nach Maras Oberarm, ließ aber sofort wieder los, als ihre Finger das kalte Metall des Kettenhemdes berührten, ihr Gesicht blass. „Sei doch nicht so schrecklich schwierig und empfindlich!“

Mit zusammengekniffenen Augen musterte Mara sie, entspannte ihre Hände. „Weißt du, ich habe keine Lust mehr auf diese ewig gleichen Reaktionen und Vorhaltungen. Ich liebe Davian und er liebt mich und wir erwarten ein Kind. Doch jetzt ist er bei seiner Einheit, nicht hier, und in wenigen Tagen wird die erste große Schlacht dieses Krieges stattfinden und ich … Und Ron … ja, verdammt, er ist mein Leibwächter, aber er ist auch ein Freund, obwohl er das wohl nicht gern hört, und wenn wir uns küssen, dann … dann hilft mir das, dann macht es die Sache ein klein wenig leichter. Für den Augenblick.“

„Welche Sache, du … Meinst du damit meinen … Hiron?“

„Unter anderem, ja. Ihn und die anderen Gefangenen und … und noch eine Reihe anderer Dinge. Geschehnisse.“

„Lassan sagte, du wüsstest … du hättest gesagt …“ Ondra fasste nach Maras Hand und umklammerte sie. „Lebt er? Mara, lebt er?“

Noch. Doch wie lange würde Hiron durchhalten? Mara nickte nur, ihre Kehle eng, und blickte Ondra ruhig ins Gesicht. Diese weinte fast. „Weißt du, ob … Ist er …“

Mara war übel. „Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich dir irgendwelche Einzelheiten nenne, Ondra?“

Erschrocken, entsetzt starrte Ondra sie an und ließ ihre Hand los. „Nein, ich … Heißt das, du weißt, was …“

Erneut nickte Mara und konzentrierte sich auf das Gefühl der nassen, glitschigen Zügel in ihrer Linken, die Wärme des Wallachs neben ihr. Mavi war fast eingedöst und Mara berührte sein Knie, beinah froh über die Ablenkung. „He, fall mir nicht runter. Willst du lieber auf einen Wagen?“

Blinzelnd sah er Mara an und schüttelte stumm, fast schon trotzig den Kopf. Sie grinste verhalten, tauchte unter dem Hals des Pferdes durch und schwang sich in den Sattel, nickte Ondra zu. „Ich kann dir nichts sagen.“

Ondra nickte gleichsam, Tränen in den Augen. Oder Regen. „Und … und der Kleine?“

„Mavi? Oh, er wird reden, wenn er es für notwendig hält. Lass ihm Zeit.“

„Mara, du … Pass bitte auf dich auf.“

„Das macht Ron. Jedenfalls heute noch und morgen.“

„Wie meinst du das?“

„Er kommt nicht mit uns nach Samala Elis.“

„Obwohl er dein … dein Leibwächter ist?“

„Vor allem ist er Gardist, und die Garde kämpft.“

„Gilt das denn nicht für alle Gardisten, die uns begleiten?“

„Vermutlich werden sie ebenfalls gehen, ebenso die meisten Fußsoldaten. Hier besteht keine Gefahr mehr, Ondra, wir sind auf den Ebenen.“ Mara schaute um sich, lachte rau. „Auch wenn ich davon nicht viel sehe.“

Durch den treibenden Regen war das Dorf nur aus nächster Nähe auszumachen. Die niedrigen Häuser wie ein Schwarm Vögel in eine weite Senke gedrückt, geschmiegt, um zumindest ein wenig Schutz vor dem ständigen Wind zu finden. Am westlichen Rand der Senke ein dichtes Gehölz, Buschwerk und Laubbäume, eine Ahnung, ein Hauch von neuem Grün. Am südlichen Dorfrand ein Weiher, ein recht großer Weiher, gespeist von einem schmalen Flüsschen. Ungewollt dachte Mara an frisch gefangenen Fisch, über offenem Feuer gebraten. Aber Bratfisch für mehr als zweihundert Leute … sie seufzte, schloss zu Ron auf. „Das ist es?“

„Aye.“

„Wie viele Einwohner?“

„Das letzte Mal bin ich vor anderthalb Jahren vorbeigekommen, da waren es an die neunhundert Menschen. Jetzt wohl noch fünf-, sechshundert.“

„Keinerlei Befestigung, schon gar keine Mauer, nicht mal ein Zaun.“

Ron musterte sie. „Wir sind hier mitten in Mandura.“

„Ja, ich weiß. Lass die Wagen dichter zusammenrücken, ein Teil der Gardisten vorneweg, der Rest und die Fußsoldaten als Eskorte neben den Wagen. Und sie sollen das Vieh festbinden.“

„Und du?“

„Ich?“ Grimmig erwiderte Mara seinen Blick, schob die Kapuze in den Nacken und setzte den Helm auf. „Wir reiten an der Spitze.“

Sie wartete, bis Ron seine Anweisungen erteilt hatte, und drückte dann dem Wallach die Fersen in die Flanken.

Nur zögernd kamen die Dorfbewohner aus ihren Häusern, misstrauisch aufgrund der Bewaffneten, noch eher mürrisch, nichtsdestotrotz neugierig, was derart viele Wagen und Menschen wohl bedeuten mochten. Traten an den Rand des kaum befestigten, matschigen Weges, der durch das Dorf und zu dem freien Platz in der Dorfmitte führte.

„Gunda! Gunda, das gibt es doch gar nicht, Gunda!“

Laut rufend drängte sich eine Frau durch die Menschen am Wegesrand, rannte auf einen der Wagen zu.

„Hella! Oh, Hella, wir …“ Mit einem Schrei, der zu einem lauten Schluchzen, heftigem Weinen wurde, erhob sich die Angerufene, Gunda, drückte einen Jungen an ihre Seite. Dem Jungen, er war vielleicht zehn Jahre alt, waren die Tränen seiner Mutter sichtlich unangenehm, er machte sich brüsk von ihr los und sprang vom Wagen. Ein kleines Mädchen in Mias Alter schloss sich ihm an und fiel fast in den Matsch, hätte es nicht einer der Fußsoldaten aufgefangen und auf die Füße gestellt. Eine Ziege meckerte durchdringend. Sonst nichts, kein Laut, nur das Rauschen des Regens. Die Leute, die Bewohner des Dorfes schwiegen abwartend, trotz der tränenreichen Begrüßungsszene, die sich direkt vor ihren Augen abspielte. Ärgerlich sah Mara zu Ron und ließ den Wallach zwei Schritte weiter vorgehen. „Einer hier, der für das Dorf spricht?“

Ein alter, schon ziemlich gebrechlich wirkender kahlköpfiger Mann, der sich auf einen Stock stützte, trat zögernd vor, räusperte sich. „Das … wäre dann wohl ich, mein Sohn ist der Dorfschulze. Aber der ist mit all unseren Männern in den Krieg gezogen.“ Er spie aus, hustete.

„Euer Name?“

„Wieso, was hat mein Name …“ Unsicher schaute er zu Mara hoch, leckte sich über die Lippen. „Ich bin Fabro, mir gehört die Dorfschenke dort“, deutete er hinter sich. „Noch.“

„Gut, Fabro, wir brauchen Unterkunft und Verpflegung für rund zweihundert Menschen. Jetzt.“

Fabro starrte Mara völlig entgeistert an. „Zweihundert? Unmöglich, das … Ich glaube nicht, dass wir so viele Leute unterbringen können, wo sollen die denn …“

Mara nahm den Helm vom Kopf und beugte sich zu ihm vor, und sie sah deutlich seine Gedanken, hörte das geflüsterte ‚der rote Dämon’, ‚Domallens Hexe’ aus der Menge, Angst, ja Entsetzen in Fabros Blick. „Ich bin sicher, ihr könnt es.“

„Aber versteht doch, Herrin, wir sind nur ein kleines, armes Dorf, wie … Wer sind überhaupt all diese Leute?“

„Flüchtlinge aus Dalgena, dreißig Gardisten, zwei Dutzend Fußsoldaten. Ach ja, wir haben einige Verletzte …“

„Aus Dalgena? Ich verstehe nicht, warum denn Flüchtlinge …“

„Die Stadt wurde von den Ostländern erobert und geplündert. Diese Menschen sind gerade noch heraus gekommen, Fabro, sie haben alles verloren, ihre Heimat, ihre Nächsten, und sie brauchen jetzt wirklich einen trockenen, warmen Platz für die Nacht, eine heiße Suppe, vielleicht etwas sauberes Wasser. Versteht Ihr das, Fabro?“

Mit offenem Mund starrte der Alte Mara an und nickte. „Ja. Ja, natürlich, Herrin, alles, alles, was Ihr wünscht. Das … es wird schon irgendwie gehen, ganz bestimmt, ich bin sicher …“ Er winkte ein paar Leute herbei. „Und Ihr, Herrin?“

Verhalten lächelte sie, lenkte den Wallach auf die Schenke zu. „Ich brauche bloß eine ruhige Kammer.“

„Ja, natürlich. Ihr werdet sehen, wir bekommen das hin, Herrin. Aber kommt doch erst einmal aus dem Regen raus, tretet bitte ein, Eure Männer …“

Mara grinste, nickte in Rons Richtung. „Seine Männer, er hat das Kommando. Ich teile ihm nur meine Wünsche mit.“

Fabro kicherte. „Natürlich, Herrin, wie Ihr sagt.“

Um sie herum wurde geräumt, um in dem kleinen Gastraum Platz für die Jungen zu schaffen, die hier zusammen mit Janek schlafen würden. Die eigentliche Gaststube diente als Speisesaal. Ungerührt löffelte Mara ihre Suppe, leidlich warm und nicht sonderlich schmackhaft, aber nahrhaft, und das Brot war recht gut, während ihr Bogat berichtete, wer im Dorf bleiben würde. Zwei Paare, von denen entweder er oder sie aus dem Dorf stammten, ihnen gehörten ein Pferdefuhrwerk und zwei Kühe, drei alte Männer, die schlicht nicht mehr weiter wollten oder konnten sowie Gunda und ihre drei Kinder, die mit ihrer kleinen Ziegenherde bei ihrer Base unterkam.

„Es gefällt Euch nicht, oder?“

„Ihre Entscheidung.“

„Aber Ihr würdet nicht so entscheiden.“

„Nee, ich nicht, doch ich lebe in Samala Elis.“

„Ihr haltet die Stadt für sicherer?“

„Ganz ehrlich?“ Mara musterte ihn ernst. „Ich bezweifle, dass irgendein Ort, irgendeine Stadt in Mandura wirklich sicher ist. Am ehesten vielleicht noch Kirjat, aber auch das … Wie viele Leute habt Ihr verloren, Bogat? Aus Eurem Haushalt?“

Er biss sich auf die Lippen, wandte den Blick ab. „Drei. Hat das die Dame Ondra …“

„Nein. Und ich wollte nicht auch noch …“

Schnell winkte Bogat ab, legte kurz die Hand auf Maras Handgelenk. „Ist schon in Ordnung. Herrin, so nennen sie Euch doch, und Ihr wisst … Dinge. Wir waren noch nicht einmal durchs Nordtor, da fing … Eine Gruppe Ostländer, fünf, sechs Kerle, sie hielten uns wohl für leichte Beute, fingen uns ab, zerrten die beiden Frauen, Magda und Emilie, vom Wagen. Einer wollte sich die Kleine greifen, doch der Junge … mein Enkelsohn stürzte sich wie ein Wilder auf den Mann. Er hatte keine Chance, ein sechzehnjähriger mit einem großen Küchenmesser gegen diesen gerüsteten, schwer bewaffneten Kerl, er … Ich weiß nicht, was passiert ist, ich habe wie wahnsinnig auf die Tiere eingedroschen, Valera schrie die ganze Zeit, die Kleine brüllte wie am Spieß, Ondra hat mir … Wir sind weg, einfach nur weg. Und sie haben uns nicht verfolgt. Kurz danach, noch in Sichtweite Dalgenas, ist ein Pferd zusammengebrochen, offenbar hatte es ein Angreifer verletzt, jedenfalls ist der Wagen … Wir kamen vom Weg ab, ich schaffte es gerade noch, dass wir nicht kippten, trotzdem hat auch das zweite Pferd was abgekriegt. Wir haben das Allernotwendigste runtergeholt, einen Teil trug das lahme Tier, einen Teil wir, Lebensmittel vor allem, warme Kleidung für jeden, Decken, ein paar Windeln für Garik. Später haben wir uns mit anderen zusammengetan, und noch später …“ Bogat sah ihr offen ins Gesicht, wischte sich die Tränen fort. „Später kamt Ihr.“

Mara nickte nur.

„Ihr seid gut, kleine Zauberin, wirklich gut, vorhin … Nicht nett, aber gut.“ Er tätschelte Maras Hand und erhob sich.

„Bogat?“

„Ja, was …“

„Es ist nicht Ondras Schuld.“

Bogat schluckte, nickte knapp. „Ich weiß.“

Ron stand am Fuß der steilen Stiege, die zum Dachboden hinaufführte, unsichtbar fast, ein regloser, dunkler Schatten auf dem schlecht beleuchteten Flur. „Wo hast du deinen Aufpasser gelassen?“

„Lassan ist … auf dem Hof, bei den anderen Gardisten.“

„Und der Kleine?“

„Mit Janek und noch ein paar Jungen in irgendeiner Stube.“ Vage deutete Mara mit der Hand und ließ sie auf das wackelige Geländer fallen. „Alle sind irgendwo untergebracht.“

„Gute Arbeit.“

„Danke. Die Leute … sie möchten helfen, gern sogar, bloß … mitunter brauchen sie halt einen Anstoß.“

„Von dir?“

Mara zuckte nur die Achseln und sah ihn abwartend an.

„Wirst du morgen … Sehe ich dich …“ Er fluchte unterdrückt, seine Haltung angespannt. „Verdammt, Mara, ich kann das nicht … Ich kann nicht gehen, ohne dich … Ohne ein … Verfluchte Scheiße, Mara, ich reite morgen in die Schlacht und ich …“

„Ja.“ Rasch legte sie die Finger auf seinen Mund. „Bleibst du ... kommst du noch mit rauf?“

„Was …“

„Begleitest du mich bitte noch hoch, Eiron?“

Er korrigierte sie nicht und folgte ihr wortlos die Treppe hinauf. Den engen, niedrigen Gang entlang zu der Dachkammer, die der Wirt Mara versprochen hatte: kaum hoch genug, um sich nicht den Kopf an den Dachbalken zu stoßen, und gerade einmal Platz für ein schmales Bett und einen kleinen Schemel, auf dem ein Becher, ein Krug mit Wasser und eine einsame Kerze standen.

Mara wandte sich zu Ron um, wusste aber nichts zu sagen, zu viel, ihr Hals wie zugeschnürt. „Ich ...“ Sie verbiss sich das hilflose Lachen. „Tut mir leid, das ... ist ein bisschen eng für ...“

„Zwei?“ Zärtlich schloss er sie in seine Arme. „Macht doch nichts, kein Grund ... Nicht weinen.“

„Aber es ist schlimm“, schluchzte sie. „... richtig schlimm, alle, Davian, Reik, ich ertrag ... Ach, verdammt, und ich sollte endlich lernen, mich richtig abzuschirmen, ich ... Wie soll ich denn ...“

„Mara“, unterbrach Ron sie, küsste die Tränen von ihrem Gesicht und zog sie mit sich herunter auf die enge Liege. „Wir könnten ja wenigstens die Schutzkleidung ablegen.“

„Ja ...“, erwiderte sie. „Die auch. Du lässt mich aber nicht los!“

„Ich liebe Herausforderungen“, murmelte Ron leise und fummelte dabei an den Verschlüssen der Schutzweste, dem Kettenhemd herum. „Und das kleine Wörtchen ‚auch‘. Hilfst du mir?“

Rasch hatte Mara ihm aus der Schutzkleidung, den Arm und Beinschützern geholfen. „Dann musst du morgen ...“

„Aye“, gierig küsste Ron sie auf den Mund. „Doch das ist morgen und noch sehr, sehr fern. Jetzt will ich dich wenigstens richtig im Arm halten können, dich spüren, nicht hartes Leder und kaltes Metall.“

„Sag das doch ...“, sie zerrte sich noch Jacke und Hemd aus. „Weiter?“

„Bis auf die Haut“, Ron zog sie eng an sich, seine Hände unter dem letzten Hemd, warm auf ihrem Leib. „Wirst du zurechtkommen, wenn ich ... wir ...“

„Ja“, betätigte Mara brüsk und lehnte den Kopf an, strich mit den Fingerspitzen über die nackte, ein wenig kühle Haut seines Oberkörpers. „Ich gehe nach Samala Elis, nicht in die Schlacht. Ihr ...“

„Wir werden kämpfen, Liebste“, sacht fuhr er durch ihr Haar. „... und zurückkehren.“

„Sicher?“

„Du bist die Zauberin, aber ... soweit es in meiner Macht steht, ja. Ich werde zu dir zurückkehren.“

„Gut.“ Sie umfing seine Hand, drückte sie an ihre Lippen.

Mühsam stemmte Mara sich hoch, als es zaghaft an der Tür klopfte. „Ja?“

Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, Vica schaute verlegen in die Kammer. „Ich … Herrin, ich bringe Euch heißen Tee und Haferbrei und …“

„Oh …“ Noch immer verschlafen und fröstelnd angelte Mara nach einem Hemd in dem Durcheinander – ihr Durcheinander, Ron hatte seine Sachen natürlich mitgenommen, als er schließlich in der Früh gegangen war – auf dem Boden vor dem Bett und zog es rasch über. „Das ist nett, danke. Stell es irgendwo hin.“

„Vielleicht … ähm, vielleicht auf den Schemel? Dann könnt Ihr …“ Vorsichtig trat Vica über Maras Ausrüstung hinweg, stellte die Schale auf den Schemel und reichte Mara ehrerbietig den Becher. „Bitte sehr.“

„Ich danke dir. Sind schon viele wach?“

„Ein paar, auch der Priester und der … der dunkelhäutige Zauberer. Und natürlich die Gardisten und Soldaten, ich soll Euch … Der Gardist mit der Narbe im Gesicht lässt Euch ausrichten, sie würden nach Sonnenaufgang aufbrechen.“

Gerade einmal genug Zeit für einen Schluck Tee, fluchend stand Mara auf und schlüpfte in ihre Hose. „Ich komme. Den Haferbrei … esse ich dann unten.“

„Aber Ihr …“

„Was?“

Vica zuckte zusammen und errötete. „Ich … ich könnte Euch helfen, oder nicht?“

„Wobei? Beim Anlegen der Arm- und Beinschützer etwa?“

„Nun, wenn Ihr mir sagt, was ich tun muss, ich könnte bestimmt …“

„Das ist nicht nötig. Und auf die Schützer kann ich vorerst verzichten. Aber danke für das Angebot.“

Vica knickste, den Blick verlegen gesenkt, wandte sich um und verschwand eilig, Mara hörte sie die Stiege hinunterpoltern.

Sorgfältig zog Mara sich an, so lange würde Ron halt warten müssen, legte das Kettenhemd an und band den Schwertgürtel um. Die anderen Sachen konnte sie später holen, sie würden erst in einigen Stunden weiterziehen. Stieg die Treppe hinab und trat auf den dämmrigen Hof, den Teebecher in der Hand.

Liz, Bahadir, Janek sowie einige der jüngeren Frauen, darunter Vica, standen schweigend nahe der Wirtshaustür, um die Männer zu verabschieden.

Sie waren abmarschbereit, Gardisten wie Soldaten, zweiundfünfzig Mann. Bis auf Manik und zwei Fußsoldaten, deren Verletzungen sich entzündet hatten, würde Ron alle mit nach Osten zur ersten Schlacht des Krieges nehmen. Lassan, noch nicht wie die anderen zu Pferde, trat einige Schritte auf Mara zu und verbeugte sich respektvoll. „Herrin.“

„Lassan. Ich wünsche Euch viel Erfolg.“

„Ich danke Euch, Herrin. Es war mir eine Ehre, Euch begegnet zu sein, und …“ Er brach ab, blickte betreten zu Boden. „Ich wollte Euch lediglich helfen. Ich hoffe inständig, Ihr habt mein Verhalten nicht missverstanden, und … Wäre schön, wenn ich Euch noch einmal begegne.“

Ron grüßte sie nach Art der Garde, das Gesicht kalt, unbewegt. „Keine Schutzweste?“

„Brauche ich nicht mehr. Vielleicht ziehe ich sie nachher über, um nicht aus der Übung zu kommen.“

„Hm, mach das. Ich …“

„Sag Davian, es geht mir gut.“

„Sonst noch was, soll ich ihm vielleicht auch noch …“

„Nein.“ Verhalten schüttelte Mara den Kopf. „Pass auf dich auf, Ron.“

„Pass du auf dich auf.“ Er nickte in Richtung ihres Leibes. „Pass gut auf dich auf. Ich will dich wieder sehen, Mara I’Gènaija.“

Er gab das Kommando zum Abmarsch.

(359. Tag)

nur Tod und Verderben

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