Читать книгу nur Tod und Verderben - N. H. Warmbold, Nicole Heuer-Warmbold - Страница 7
Kapitel 4 – Soltan, …
ОглавлениеEtwas … stimmte nicht, fühlte sich ganz und gar falsch an. Dann zwang ein schneidender Schmerz Lucinda in die Knie, sie konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Schämte sich ob der Aufmerksamkeit der Passanten, die gleich ihr und Joles, Ninas älterem Sohn – Nina hatte ihre beiden Jungen, die für Trubel, Leben und eine gewisse Lautstärke im Haus sorgten, nun doch in die Stadt geholt – auf dem Weg zum Markt waren. Es war ein glücklicher Zufall, dass Rami gerade vorbei gekommen war, sie umstandslos auf seine starken Arme genommen und zu Gettis Haus zurückgetragen hatte, weit war es ja nicht. Ihr trotzdem unendlich peinlich, oder wäre es gewesen, sie kannte den Mann doch gar nicht, wären ihre Sorgen und Ängste um ihr ungeborenes Kind nicht so überwältigend gewesen. Auch wenn die Schmerzen jetzt auf ein erträglicheres Maß abgeklungen waren.
Nina verordnete ihr, nach einer, wie Lucinda schien, recht oberflächlichen Untersuchung, strenge Bettruhe. „Wenn du das möchtest, kann ich dich auch eingehender untersuchen. Falls dir das die Angst nimmt. Oder ich kann Joles zum Tempel schicken, damit der eine der Heilerinnen holt. Liegt bei dir.“
„Du weißt …“ Schniefend wischte sich Lucinda die Tränen vom Gesicht. „... du kannst, ich meine …“
„Ich bin keine fertig ausgebildete Heilerin“, unterbrach Nina ihr Gestotter und legte ihr begütigend die Hand auf den Unterarm. „Wenn du das meinst. Aber ich habe tatsächlich ein bisschen Erfahrung als Hebamme.“
„Und du meinst …“
„Du solltest dich schonen, ja. Für Arbeiten im Garten ist es auch wirklich noch zu früh im Jahr. Bleib die nächsten drei, vier Tage im Bett, ruh dich gründlich aus. Wir werden, selbst ohne deine Kochkünste, schon nicht verhungern.“
„Ich möchte nicht, dass sie es erfahren.“ Dass irgendjemand, schon gar nicht im Tempel, also ihre Tante, von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Nicht jetzt. „Und du weißt, was du zu tun hast?“
Nina nickte und tätschelte ihre Hand. Dann schaute sie sich nach ihrem Sohn um. „Würdest du bitte die Tür von außen schließen, junger Mann?“
„Sie wollte mir so ’n kleines Messerchen kaufen“, hielt Joles seiner Mutter vor.
„Heute nicht mehr, Lucinda geht es nicht gut.“
„Und warum schickst du mich weg, ich kann doch helfen?“
„Nicht dabei. Du und dein Bruder … Wo ist Leon überhaupt? Ihr könnt Lucinda nachher gern noch Gesellschaft leisten, solange es ihr nicht zu viel wird, ja?“
„Och, Menno …“ mit finsterer Miene trat Joles an Lucindas Bett, fasste nach ihrer Hand. „Du stirbst aber nicht!“
„Nein, ich sterbe nicht“, versicherte Lucinda ihm. „Es geht mir auch schon wieder ein bisschen besser. Dein Messer bekommst du, Joles, versprochen.“
„Na gut …“, Joles schlurfte zur Tür und schloss sie, von außen. Sie hörten ihn die Treppe hinunter poltern und nach seinem Bruder rufen.
Nina blickte sie auffordernd an. „Würdest du die Füße aufstellen? Und keine Angst, ich tu dir nicht weh.“ Sie schob ihr die Röcke weit über die Knie hoch und drückte ein kleines Läppchen gegen ihren Unterleib. „Wie lange blutest du schon?“
„Seit ges… vorgestern. Abend. Aber nicht sehr.“ Ängstlich presste Lucinda die Lippen aufeinander. „Heißt das, ich verliere mein Kind?“
„Das heißt erst einmal gar nichts“, erklärte Nina fast schroff. „… nur, dass du dir in letzter Zeit wohl zu viel zugemutet hast. Solche Blutungen kommen vor, und solange sie nicht schlimmer werden …“ Sie zuckte die Achseln, legte leicht die Hand auf Lucindas Bauch. „Nicht erschrecken, ich werde dich jetzt anfassen.“
Lucinda schnappte nach Luft, nickte und kniff die Lider zusammen, aber nichts geschah. Stattdessen setzte sich Nina zu ihr aufs Bett, drückte sogar ihre Knie ein wenig gegeneinander. „Mädchen, es ist alles in Ordnung, ich tu dir doch nichts. Hast du … Möchtest du darüber reden?“
„Muss ich?“
Nina lachte, schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Ich glaub‘, ich bin auch nicht gut im Zuhören und Verständnis heucheln. Keine Geduld.“
Lucinda stimmte, anfangs noch etwas gezwungen, in ihr Lachen ein. „Aber Danke für dein Angebot.“
„Gern geschehen. Und so, wie du meine zwei verwöhnst …“
„Ich mag deine Söhne“, betonte Lucinda.
„Die beiden mögen dich, was mich sehr wundert und freut. Kann ich dich etwas fragen?“
„Ja, frag.“
„Dieser große … sehr große Mann, Gardehauptmann, ich habe da so etwas … Ist er dein …“
„Nein.“ Lucinda schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich war mit Hauptmann Sandar viele Jahre lang verlobt, es gab sogar einen Vertrag, geschlossen von unseren Familien. Aber ich habe … löste die Verlobung. Das erschien mir alles schon so fest. Vorgezeichnet, das ganze Leben, und ich hatte arge Bedenken, Probleme … mit mir selbst. Du kannst dir vorstellen, wie Sandar das aufgenommen hat, jeder.“ Sie lachte rau. „Danach … war gar nichts mehr fest und stabil, so als hätte ich jeden Halt, jede Sicherheit verloren. Und in der Situation …“, sie zögerte.
„Ein anderer Mann?“
„Doch der völlig falsche, ich war naiv, entsetzlich dumm. Er … na ja.“ Sie wandte den Kopf ab, legte die Hand ans Gesicht. „Ich habe im Traum nicht damit gerechnet, dass Sandar zu mir kommt, um sich zu verabschieden, ich habe mich so unglaublich gefreut, ihn zu sehen. Jetzt hoffe ich wirklich sehr, dass es ihm gut geht.“
„Bestimmt, genau wie deinem Bruder“, wieder tätschelte Nina ihren Unterarm, umfasste ihre Hand. „Kann ich?“
Lucinda nickte, redete einfach weiter, derweil Nina sie rasch und kundig untersuchte. „Um Getti mache ich mir eigentlich nie Sorgen. Seltsam nicht?“
Nina brummte zustimmend. „Dein Bruder kommt zurecht. Mach dir keine Gedanken und schlaf erstmal ein wenig.“ Sorgsam deckte sie Lucinda zu, strich ihr sogar flüchtig über den Kopf.
* * *
Mit mehr als hundertdreißig Flüchtlingen waren Mara, Bahadir, Liz, Ondra und deren Kindern in Samala Elis angelangt. Und mit ihnen ein zaghafter Frühling und endlich wahrhaftige Neuigkeiten, nicht bloß Gerüchte.
Jo’quin war nach wenigen Tagen mit Bedauern von ihrem – Davians – Haus wieder ins Gasthaus am Osttor übergesiedelt, wo Bahadir mit zwei weiteren Priestern wohnte: dem schon älteren Geoff sowie dem sehr, sehr jungen Farid. Alle anderen Priester des Jägers waren, wie es schien, irgendwo im Land unterwegs … verteilt – Bahadir hatte sich nur äußerst vage zu ihnen und ihren Unternehmungen geäußert.
Mara selbst hatte kaum etwas anderes getan, als die Fragen seiner Majestät und seiner Berater, der wenigen Hauptleute in der Stadt, zu beantworten – vor allem Hauptmann Ferrin hatte alles ganz genau wissen wollen, immer wieder nachgefragt. Natürlich hatte sie einen ausführlichen Bericht des Rittes über die Ebenen angefertigt. Über Hauptmann Hiron allerdings mochte sie weder viel sagen noch detaillierte Berichte schreiben, lediglich, dass dieser wohl gefangen genommen wurde; es war zu nah, zu schmerzlich.
Sie freute sich, Meister Dibistin wieder zu begegnen, dem Ersten des Rates der Zauberer von Mircabor, ein schroffer, recht kleiner und leider schwer erkrankter Mann. Mara ermunterte ihn, sie zu einem Spaziergang im Garten des Palastes zu begleiten. „Die Luft ist so angenehm mild und duftet bereits nach dem Frühling. Die Bewegung wird Euch guttun, Meister.“
Grummelnd, doch unterdrückt schmunzelnd willigte Dibistin ein. „Solange Ihr nicht von mir erwartet, es dem jungen Roderick gleich zu tun und ein Dutzend Mal die Treppen hoch und runter zu hasten, Kind.“
Irritiert sah sie zu Rod, der mit hochrotem Kopf erklärte: „Euer Mann hat mir dazu geraten, vor … Ist schon was her, im Herbst. Und ich glaube, ich war zu dem Zeitpunkt nicht mehr nüchtern. Ich habe ihn gefragt, wie ich besser …“, er schluckte, leckte sich nervös die Lippen und wich ihrem Blick aus. „… in Form komme.“
Mara fragte nicht, ob es half, sie wollte dem Jungen, der mittlerweile ein zuverlässiger Helfer bei der Versorgung verletzter Soldaten war, unermüdlich in den Gardeunterkünften sowie den Häusern unterwegs, nicht zu nahe treten. „Du hast dich mit Davian betrunken?“
„Na ja, ich … wir, also Euer Mann, Hauptmann Sandar Sadurnim und ich haben in dessen Haus gemeinsam gegessen und getrunken, geredet. War der Vorabend Eurer Hochzeit, glaub‘ ich, und …“ Rod half Meister Dibistin, auf einer der steinernen Bänke Platz zu nehmen, lächelte versonnen, offenbar war es damals ein netter Abend gewesen. „Kennt Ihr Hauptmann Sandar Sadurnims Haus?“
„Aye. Ich war ein paarmal bei Sandar zu Gast. Und du …“ Kopfschüttelnd musterte sie den Jungen. „… mit Sandar und Davian?“
„Traut Ihr mir das nicht zu … Herrin?“
„Es überrascht mich.“ Mara musste ein Lächeln unterdrücken. „Das ist nicht unbedingt die Gesellschaft, in der ich dich … War gut? Der Abend?“
„Großartig, obwohl ich … Sie haben mir ja nur drei Gläser Wein erlaubt, weil ich … Aber ich durfte dort übernachten, in diesem wundervollen Haus, und dann am nächsten Morgen habe ich ein üppiges Frühstück bekommen. Hauptmann Sandar Sadurnim ist ein sehr großzügiger Mann.“
„Das ist er, und ein guter Freund.“
Überrascht ob dieser Bestätigung sah der Junge sie an, lächelte verlegen.
Und nach einigen Tagen, sie fühlte sich unruhig, als wäre sie noch nicht vollständig angekommen, fand Mara sich vor den großen Toren der Schmiede wieder. Neugierig schaute sie sich in dem gewaltigen, düsteren Raum um, es schien keiner da zu sein. Doch dann hörte sie Schritte hinter sich.
„Was machst … Ihr?“
Achselzuckend wandte sie sich zu Soltan um, lächelte leicht. „Ich.“
„Aber was … Was wollt Ihr denn hier?“
„Störe ich?“ Mara musterte ihn, seinen nackten, muskulösen Oberkörper unter der offenen Weste. „Ich habe noch bei Manik vorbeigeschaut, mich erkundigt, wie es ihm geht, doch Vica war da, und da … na ja, ich wollte nur kurz …“
Soltan schob ihr die Haare aus der Stirn. „Du schwitzt ja.“
„Ja … Ist erstaunlich warm hier.“
„Die Feuer … Ist eine Schmiede.“
„Aha. Ich …“ Sie schluckte, leckte sich über die Lippen. „Fjodar ist noch nicht zurück?“
Soltan lachte leise, Mara krabbelte ein Schauer über den Rücken. „Noch nicht.“ Legte ihr die Hand in den Nacken und zog sie näher, küsste sanft ihre Schläfen. „Vielleicht in ein paar Tagen, eine größere Gruppe Soldaten soll …“ Küsste sie unbeherrscht, die Finger in ihrem Haar vergraben. „… soll zurückkehren. Hier sieht uns jeder, der auf dem Hof vorbeikommt.“
„Und?“
„Wird meiner Frau nicht gefallen.“
„Ich wusste nicht …“ Überrascht machte Mara einen Schritt rückwärts, doch Soltan zog sie gleich wieder an sich, noch enger. „Du bist verheiratet?“
„Hm, du doch auch. Wundert dich?“
„Ich habe nicht darüber nachgedacht. Aber dann …“
„Hinten.“ Er führte Mara, locker ihre Hand haltend, in den hinteren Teil der Schmiede, noch dunkler, und weiter in eine kleine Kammer: ein Tisch, ein paar Stühle, eine Bank an der Rückwand. Nur wenig Licht fiel durch die mit einem löchrigen Tuch verhängte Fensteröffnung. „Setz dich.“
Aber Mara blieb stehen, lehnte sich gegen die Tischkante und betrachtete ihn. Soltan grinste, ein wenig verlegen, und nahm Platz, ein Bein lang ausgestreckt. „Was? Weil ich verheiratet bin?“
„Das nicht, aber … Ich weiß so gut wie nichts von dir.“
„Is’ mir vielleicht lieber so.“ Sinnend strich er über ihren Handrücken, den Blick auf ihre Hand gerichtet. „Was willst du denn wissen?“
„Wieso sollte Fjodar dich erschlagen, ich meine, wieso er?“
„Mein Vater ist ziemlich … Er mag dich wohl ziemlich gern, so, wie er redet.“
„Fjodar ist dein Vater?“
„Mein Pflegevater.“ Soltans Lachen war wie gewürzter Apfelwein, Mara bekam einen trockenen Mund. „Mein eigentlicher Vater … Fjodars Frau ist eine gute Freundin meiner Mutter, und er hat uns, meine Mutter und mich, bei sich aufgenommen, als mein Vater sich aus dem Staub gemacht hat. Fjodar … ich verdanke ihm viel, alles, er hat mich in die Lehre genommen, als er sah … Na ja, ich hab’ mich wohl nicht allzu blöd angestellt, heute bin ich ein recht guter Schmied. Waffenschmied.“
Abrupt stand er auf und trat vor sie, viel zu dicht. „Warum immer noch dieser schwere Mantel?“
„Schützt vor …“ Mara ächzte unterdrückt und atmete viel zu hastig, als er ihr den Reitmantel von den Schultern schob. „… dem Regen.“
„Es regnet nicht.“
„Wird es bald.“ Sie legte die Hand auf seinen warmen Leib, prompt spannte Soltan die Muskeln an. „Du trägst keine Waffen.“
„Renn’ nicht den ganzen Tag mit ’nem Zweihänder rum.“ Er wurde immer wortkarger, sein Atem schwerer, und glitt mit den Händen forschend über ihren Körper, grinste dann, den Kopf dicht zu ihr gebeugt. „Keine Schutzkleidung?“
„Bräuchte ich die?“
Soltan küsste sie fordernd, wild. „Nee …“ Fuhr ungeduldig unter ihre Jacke, ihr Hemd, und lachte, als sie erschauerte. „Würd’ dir hier auch nichts nützen.“
Soltan sah Mara nicht an, als er ihr ihre Hose reichte. „Woher hast du das gewusst?“
„Wie bitte?“
Er nickte zum Fenster hin. „Klingt, als würd ’s ordentlich gießen. Regnen.“
„Oh, das. Ich weiß solche Dinge.“
Undeutlich murmelte er etwas Unverständliches und hielt ihre Hand fest, als Mara sich die Jacke überziehen wollte; er schien verlegen. „Du gehst? Einfach so, mein‘ ich?“
„Ja. Ich hatte nicht den Eindruck, du würdest mich unbedingt nach Hause zum Essen einladen wollen.“
„Nee, besser nicht, sie merkt … Dreck, red’ doch nicht so!“
Irritiert zog Mara die Augenbrauen hoch, entzog ihm ihre Hand und schlüpfte in die Jacke, setzte sich. „Was meinst du?“
„Entschuldige, ich bin …“ Er verzog das Gesicht und setzte sich gleichfalls; ihre Knie berührten sich fast. „Du bist die erste Frau, die tatsächlich nur darauf scha… nur das will, und … Is’ ungewohnt.“
„Sonst bist du derjenige?“
„Jup.“ Soltan grinste. „Dabei find’ ich ’s ganz nett, mit dir zu reden, is’ spannend, du bist …“ Er zuckte die Achseln. „Weiß nicht, ungewöhnlich. Wie du dich verhältst.“
„Ah.“
„Ja. Als wär ’s dir egal, was andere sagen, und ob sie mit deinen Entscheidungen einverstanden sind oder nich. Während der letzten Tage bis zur Stadt, die Leute aus Dalgena zum Beispiel.“
„Ich tue, was ich für richtig halte.“
„Auch gegen den Willen anderer?“
„Wenn es notwendig ist. Ich habe alle heil nach Samala Elis gebracht, Soltan.“
„He, ich mach‘ dir doch keine Vorwürfe, ich bestimmt nicht.“ Begütigend tätschelte er ihr Knie und lächelte entschuldigend. „Manche haben halt ziemlich gemurrt.“
Mara presste nur die Lippen aufeinander, was sollte sie sich jetzt darüber ärgern, und zog die Jacke enger um sich.
„Tut mir leid, ich bin nicht so gut mit Worten, sag’ oft das Falsche. Du meintest vorhin, du weißt nichts über … Falls dich das interessiert, ich habe zwei Kinder, einen Jungen, sieben Jahre, und ein Mädchen von vier. Etwa so alt wie der kleine Junge, den du mitgebracht hast, oder?“
„Mavi? Ja, ich … möglich, Hiron hat es mir nicht erzählt.“
Soltan betrachtete sie eindringlich und beugte sich dann vor, griff nach ihren Händen. „Der Hauptmann, Gardehauptmann, den du anfangs dabei hattest? Da war doch ein Hauptmann, du bist nicht einfach mit ’ner halben Gardeeinheit losgezogen?“
„Wird das etwa erzählt?“ Sie grinste fast. „Nein, da war ein Hauptmann.“
„Und weißt du …“
„Nicht viel. Er lebt.“ Hatte überlebt. Was auch immer sie ihm angetan hatten, Hauptmann Hiron Ligoban lebte noch. Mara erreichte ihn gedanklich nicht mehr, wusste nicht, wo er sich aufhielt, genauso wenig wie sie wusste, wo Davian sich aufhielt, wie sie ihren Mann nicht mehr erreichen konnte; sie ballte die Fäuste. Besorgt sah Soltan sie an. „Was ist? Geht es dir nicht …“
„Mei…“ Ihre Stimme zitterte. „Davian ist nicht mehr in Mandura. Und dafür erwarte ich eine verflucht gute Erklärung, ich … Verfluchter Mist, wie kann er das tun, wie kann er mir das verdammt noch mal antun!?“
Der Boden bebte, ruckte. Mara sah Angst in Soltans Blick aufflackern, als die ersten Flammen aufzüngelten. Er beobachtete sie argwöhnisch, ließ sie nicht aus den Augen, seine Stimme angespannt. „Was tust du, kleine Zauberin?“
„Nenn mich nicht so! Ich bin mächtiger, als ihr alle es euch auch nur vorstellen könnt!“
„Ja, gut, aber … Bitte, hört auf damit, Herrin, ich flehe Euch an!“
„Wag es nicht, vor mir niederzuknien, Soltan.“ Sie kniff die Augen ob des Rauches schmal zusammen und wischte nachlässig mit der Hand durch die Luft; das Feuer erlosch augenblicklich. Legte sacht ihre Finger an Soltans Wange. „Fjodar geht es gut, er ist unverletzt. Das kannst du seiner Frau ausrichten.“
Mit zitternden Fingern fasste er nach ihrer Hand, lachte keuchend. „Und wie erklär’ ich die angekokelten Möbel?“
Die ersten Soldaten, die in der Schlacht gekämpft hatten, waren zurück in der Hauptstadt. Knapp dreitausend Fußsoldaten unter Bros Führung, die gleich weiter quer durch die Stadt zur Kaserne am Westtor marschierten, sechshundertfünfzig Reiter vom Nordtor, an der Spitze Hauptmann Sadurnim, zudem zwei Gardeeinheiten, Ladrus und Sandars. Ein Teil des Versorgungstrosses: Fjodar lenkte den zweiten Wagen. Ein anderer Teil war in Birkenhain geblieben, ein weiterer in Kirjat und ein nicht geringer Teil war zerstört worden, die Vorräte geplündert.
Mara war mit Mavi direkt zur Festung geritten, während Janek mit seinem Freund Josch die Ankunft der Soldaten am Osttor beobachtet hatte. Janek hatte ihr Josch bereits auf den Ebenen vorgestellt; dieser war unter denen gewesen, die ihnen zu Hilfe gekommen waren, hatte einen der Wagen gelenkt. Ein nicht besonders großer, dafür aber kräftig gebauter, starker junger Mann in Janeks Alter. Beide waren wenige Tage nach ihrer Ankunft in Samala Elis der Stadtwache beigetreten, sehr zur Freude von Hauptmann Ferrin, der dringend neue Leute brauchte. Ersatz für seine Männer, die nun Teil der Armee waren.
Soltan lungerte am Eingang der Schmiede und folgte Mara bedächtig auf den Gardehof, grüßte knapp und hob Mavi vom Pferd, griff nach den Zügeln des Wallachs. „Braucht Ihr Hilfe?“
„Ich nicht, aber es kommen einige Wagen mit Verwundeten.“
„Verstehe.“ Ungefragt half er ihr aus dem Sattel. „Und um die kümmert Ihr Euch.“
„Auch, aber sicher nicht allein.“ Vor allem erwartete sie Sandar.
Zu ihrer Erleichterung sah Mara ihn zu Pferde sitzen, nicht auf einem Wagen mit den Schwerverletzten, allerdings trug er den dick verbundenen linken Arm in einer Schlinge. Sandar wirkte erschöpft, sein Gesicht bleich und abgespannt, als wäre er sehr müde und litte Schmerzen. Mara schritt ihm entgegen und kämpfte darum, nicht in Tränen auszubrechen. „Sandar.“
„Mara, meine Liebe, mit dir hätte ich ja nun wirklich …“ Überrascht wandte Sandar den Kopf, lächelte auf sie herunter. „Gehofft, ja, aber nicht ernstlich erwartet. Ach Schätzchen, ich freue mich, dich zu sehen.“
„Soll ich dir beim Absteigen helfen?“
„Auf gar keinen Fall, Liebes. Wenn, dann der große, starke Mann neben dir. Soltan, wenn ich mich recht entsinne?“ Soltan nickte mürrisch. „Obwohl ich doch hoffe, allein vom Pferd zu kommen.“
Mit schmerzverzerrtem Gesicht saß Sandar ab und zog Mara in seine Arme. „Was machst du hier? Hast du nichts Besseres zu tun, als müde, zerschlagene, schlecht riechende Soldaten in Empfang zu nehmen?“
„Nichts Besseres, als einen lang vermissten guten Freund zu begrüßen.“
„Das hast du lieb gesagt. Darf dieser Freund dich denn zur Begrüßung küssen?“
„Oh Sandar, natürlich!“ Mara strahlte ihn an und schlang ihm die Arme um den Hals. „Ich tue dir doch nicht weh?“
Sandar beugte sich zu ihr und küsste sie innig. „Du doch nicht, das waren andere. Und dies hier entschädigt für vieles.“
„Ja? Dann sollte ich … fortfahren?“
„Solltest du, Schatz, solltest du …“ Er drückte Mara fest an sich und küsste sie erneut, ausgiebig, bis sich jemand räusperte. Widerstrebend ließ Sandar sie los und drehte sich zu seinem Vater um. „Ein wirksames Schmerzmittel, Hauptmann Sadurnim.“
„Scheint mir auch so.“ Der Kommandant der Truppen vom Nordtor unterdrückte sein Grinsen und nickte ihr zu. „Seid gegrüßt, Mara.“
„Hauptmann Sadurnim.“
„Deine Mutter weilt in der Stadt, wie ich gerade hörte. Also, wenn es dir wieder besser geht, komm doch mal vorbei. Sie würde sich sehr freuen.“ Mit ernster Miene blickte Sandars Vater Mara an. „Wird vermutlich länger dauern, bis er wieder einsatzfähig ist?“
„Das kann ich nicht sagen. Ich weiß allerdings, Euer Sohn sollte strikte Bettruhe halten, so lange er hohes Fieber hat.“
„Ihr kümmert Euch um ihn?“
Irritiert schaute Mara ihn an, dann zu Sandar. „Wenn er das möchte.“
Tage später ging es Sandar etwas besser, er schien deutlich erholt und war nicht mehr ganz so bleich und erschöpft, obgleich er noch immer hustete. Ein tief sitzender, quälender Husten, keine Lungenentzündung, wie Mara anfangs befürchtet hatte.
Ein Grund, warum sie zusammen mit Mavi für einige Zeit in sein Haus gekommen war. Mara hatte Sandar gern, sie schätzte seine Gesellschaft, ihn. Und so hatte sie sein Angebot – Sandar hatte ihr, unabhängig von der Anfrage seines Vaters, einen Boten geschickt – ohne lange nachzudenken angenommen. Sie wollte nicht allein sein, sie wollte nicht ständig über die nachgrübeln müssen, die nicht in der Stadt waren: ihre Männer, wie Bahadir sie unbedacht genannt hatte.
Erfreut blickte Sandar auf, als Mara das Gartenzimmer betrat, erhob sich und kam ihr entgegen, dabei sichtlich das linke Bein schonend. „Mara, meine Liebe. Der Junge schläft?“
„Ja. Mavi ist den ganzen Tag mit den Söhnen deiner Schwester im Garten und auf dem Grundstück herumgerannt und war müde. Doch er hatte mal wieder Freude und Spaß.“
„Setz dich doch“, forderte Sandar sie auf.
Sie setzte sich, über Eck zu seinem Platz. „Es ging ihm heute gut, und das ist schön. Er hat viel durchgemacht … durchmachen müssen, und vorhin … Mavi war endlich einmal entspannt und nicht völlig verkrampft und verängstigt.“
„Du machst dir Sorgen um den Kleinen?“
„Ja, sicher. Ich weiß nicht, was er alles Schlimmes gesehen und erlebt hat.“
„Hast du nachgefragt?“ Sandar schenkte ihr Tee ein.
„Nein. Ich weiß nicht, ob das richtig wäre. Vielleicht ist es dazu zu früh. Er redet nicht darüber.“
„Wenn er denn überhaupt redet.“
„Selten. Aber im Schlaf, er hat häufig Albträume.“
Sandar betrachtete sie ernst. „Weshalb du glaubst, bei ihm bleiben zu müssen.“
Vage hob Mara die Schultern. „Jetzt bin ich hier, um mit dir zu Abend zu essen.“
Er nickte nur, musterte sie weiterhin.
„Was ist denn?“
„Nichts, ich …“ Unvermittelt griff er über den Tisch und fasste nach ihrer Hand, lächelte sie liebevoll an. „Es ist schön, dass du hier bist, Mara. Ich danke dir.“
„Ich bin gern gekommen, Sandar, das weißt du hoffentlich.“
„Ich weiß es, Liebes, ich bin nur … Kein Mann wird gern verletzt, und ein Gardist schon gar nicht. Im Kampf, in der Schlacht ernsthaft verwundet zu werden ist immer auch ein Versagen, ein Zeichen von Schwäche.“
„Vielleicht auch nur dafür, dass der Gegner in der Überzahl war.“
„Vielleicht auch das, ja.“ Sein Lächeln vertiefte sich, als er ihre Hand an seine Lippen zog. „Genau darum liebe ich deine Gesellschaft, meine Teure, dich, du sagst das Richtige und nimmst mein Selbstmitleid, meine trübsinnige, gedrückte Stimmung nicht allzu ernst.“
„Ist das die höfliche Art, mir mangelndes Mitgefühl vorzuwerfen?“
„Ganz sicher nicht. Und auch kein heimlicher Versuch, dir meine Liebe zu gestehen.“
Sorgsam zerschnitt Mara das Fleisch auf ihrem Teller, sah nicht auf. „Ich habe deine Worte gehört, Sandar.“
„Gut.“
„Aber ich weiß nicht … Du sagst das so dahin, so nebenher, dass ich nie genau weiß, was ich …“ Sie runzelte die Stirn. „Was willst du, Sandar?“
Er lächelte verhalten, schaute Mara jedoch nicht an. „Das nenne ich direkt.“
„Möglich, aber ich bin nicht in der richtigen Stimmung für derlei Spielchen.“
„Verzeih, ich wollte nicht …“ Erschrocken hob Sandar den Kopf. „Es tut mir Leid, Liebes, ich wollte wirklich nicht … Du machst dir Sorgen und ich denke nur an mich, an meine kleinen …“
„Sandar, nicht, bitte. Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen. Ich bin … Was weiß ich, unruhig, ungeduldig.“
„Ah, ich glaube, da hätte ich was für dich.“
Irritiert runzelte Mara die Stirn. „Wie bitte?“
„Wenn es dein Pflichtgefühl gegenüber dem Jungen zulässt, komm doch später noch mal zu mir. Natürlich nur, wenn du möchtest, es ist deine Entscheidung.“
Verblüfft starrte ihn Mara an, doch Sandar verzog keine Miene. „Ich … überlege es mir.“
„Mach das.“ Gelassen erhob er sich und küsste Mara flüchtig auf die Wange. „Du entschuldigst bitte, Emmie wollte mir noch ein heißes Bad bereiten.“
Mara schaute nochmals nach Mavi. Als wolle sie Zeit schinden, die Begegnung mit Sandar und eine mögliche Entscheidung, Fehlentscheidung hinaus zögern. Der kleine Junge schlief tief und fest, das hölzerne Spielzeug, das er von seinen neuen Spielkameraden, den Söhnen von Sandars Schwester Estelle, bekommen hatte, ganz fest in der geballten Faust.
Sie lehnte die Zimmertür nur an und wandte sich um, sie war gespannt, was Sandar von ihr wollte, neugierig, auch wenn sie ahnte … nun, sich fast denken konnte, worum es ging. Ihm ging. Obwohl Sandar genau wie ihr klar sein musste … Doch er war unglücklich und sie einsam, keine gute Kombination, Mara mochte ihn, sehr sogar, sie konnte sich viel zu gut vorstellen … Sie biss sich auf die Unterlippe und klopfte an die Tür. Die zu seinem Schlafzimmer; auch nicht …
Sandar öffnete ihr, hastig die Tür aufreißend. „Mara, wie schön.“
„Du hast mich darum gebeten …“ Das klang wie eine Ausflucht, als gäbe sie ihm die Schuld. „… also, wenn ich …“
Er schloss sie eilig in seine Arme, streifte mit den Lippen ihre Schläfe. „Hast du … Befürchtest du, wir landen zusammen im Bett?“
„Ist der Gedanke so abwegig?“ Sie sah ihm ins Gesicht. „Und ‚befürchten‘ ist ganz sicher nicht das Wort, das ich wählen würde.“
„Nein, denn du würdest es genießen“, erwiderte er schroff, fast grob. So wie seine Küsse jetzt weniger behutsam, dafür umso gieriger waren. Seine Umarmung allzu fest, bevor er sie unvermittelt frei gab. „Entschuldige.“
„Schon gut …“, sie machte rasch zwei, drei Schritte und ließ sich auf die gepolsterte Bank am Fußende des Bettes sinken, stützte den Kopf in die Hände.
„Weißt du, ich hätte gern …“, Sandar lachte rau. „Eigentlich wollte ich mit dir trinken, guten Wein, reichlich guten Wein, um das schlechte Gewissen und die Schuldgefühle zu betäuben. Aber den Plan muss ich wohl aufgeben. Ebenso das Flüssige Gold.“
„Du hast …“, misstrauisch sah sie zu ihm hoch.
Sandar zuckte die Achseln, rückte den Sessel näher und nahm dicht vor ihr Platz, hob ihre Füße auf seinen Schoß. „Wär‘ ‘ne wüste Nacht geworden.“
„Schade eigentlich.“
„Aye …“ Er zog ihr Schuhe und Strümpfe aus und begann ihre Füße kräftig zu kneten und zu reiben. „Kann ich dir eine Frage … Was hältst du von Lucinda?“
„Was ich …“ Mara stieß die Luft aus, runzelte die Stirn. „Ich kenne sie nicht gut, ich habe lediglich bei zwei, drei Gelegenheiten kurz mit ihr reden können. Auf dem Fest zu Mittsommernacht schien sie … als müsste sie eine Rolle spielen. Und bei anderen Anlässen hat sie wenig geredet, jedenfalls nicht mit mir. Sie ist wohl nicht mehr …“
„Im Haus ihres Bruders. Lucinda lebt jetzt bei Getti, wo sie sich offenbar deutlich wohler fühlt als zuletzt im Palast.“
Fragend schaute sie Sandar an. Er erwiderte ihren Blick, lächelte etwas verkniffen. „Ich hab‘ … ich war bei ihr, zwei Tage, bevor wir aufgebrochen sind. Wir haben geredet, nicht so viel, doch wir haben uns erstaunlich gut verstanden, also habe ich … Ich bin die Nacht über geblieben. Habe die letzte … genau genommen die vorletzte Nacht, bevor wir in den Krieg zogen, mit ihr … in ihrem Bett verbracht.“
„Und …“
„Sie erwartet ein Kind. Nicht von mir“, erklärte er hastig. „Das … deutete sie an, bevor wir miteinander …“ Er schüttelte den Kopf, massierte weiter fürsorglich ihre Füße. „Jedenfalls ist sie schwanger. Ich habe sie nicht … Aber ich frage mich seither, was ich tun soll.“
„Musst du etwas tun?“, wunderte sich Mara.
„Ich könnt‘ sie ja wenigstens …“
„Das könntest du.“
„Ja“, stimmte Sandar zu. „Das könnte … sollte ich.“ Er lächelte, entspannter jetzt, fast erleichtert. „Gleich morgen.“
* * *
Marok hatte Frauen in seinem Kriegs-Lager gehabt. Dieser brutale Mistkerl von Ostländer hatte zwei Frauen in seinem Zelt, nur zu seinem Vergnügen! Für sein Vergnügen. Der Gedanke widerte Hiron an, noch immer. Dabei sollte er sich einfach freuen, ihnen tatsächlich entkommen zu sein, aber es war … Frauen hatten in einem Heerlager einfach nichts verloren! Dass Domallen ebenfalls … Aber das war etwas anderes, der hatte gute Gründe gehabt, militärische Gründe, Mara war sein Berater, zufällig halt eine Frau, und nicht …
Hiron wollte nicht darüber nachdenken, selbst jetzt noch nicht, es war, als würde sich alles in ihm verkrampfen vor Wut und Abscheu. Und doch wurde er beständig daran erinnert, weil diese Frau bei ihm war. Seit diese Frau bei ihm war, eine aus Maroks Zelt.
‚Gefällt sie Euch, Hiron?’, hatte der Dreckskerl ihn gefragt, an dem Abend vor der Schlacht, und er hatte lediglich genickt. Und nein, er wolle sie nicht haben. Marok hatte das Angebot nicht ernst gemeint, natürlich nicht, laut gelacht, er wollte ihn demütigen, vielleicht auch die Frau beschämen – er wusste nicht einmal mehr genau, auf welche Marok gedeutet hatte. Schön waren sie beide gewesen, sehr schön.
Er hatte einen Trick, eine Falle vermutet, als seine jetzige Begleiterin ihm einige Nächte später flüsternd zugeraunt hatte, sie könne ihm helfen. Nach der Schlacht, die nicht so verlaufen war, wie Marok es sich gewünscht hatte, irgendwo im Kitainagebirge und wiederum in Maroks Zelt. Weshalb Marok ihn am Leben ließ, wusste er nicht, er glaubte nicht, dass er dem Mann irgendetwas verraten hatte. Was auch, dass die manduranische Armee der ostländischen zahlenmäßig unterlegen war, hatte Marok selbst gesehen. Doch sie hatten besser gekämpft; er hatte nicht mitbekommen, wie hoch die Verluste der Ostländer waren, jedoch Maroks Fluchen gehört, seine Unzufriedenheit erlebt. Dieser hatte ihn nicht selbst zusammengeschlagen, dafür hatte er Barreck, seine Leibwache, aber er hatte mitbekommen, wie Marok in jener Nacht seine Wut an den Frauen ausließ.
Er rechnete auch jetzt noch damit, hereingelegt worden zu sein. Obwohl die Frau ihm tatsächlich geholfen hatte. Alles ein Trick. Viel Aufwand für jemanden, der kein ernstzunehmender Gegner mehr war, er war auf einem Auge blind, konnte nur mit viel Mühe gebückt und sehr langsam humpeln, sein linker Arm … besser, er dachte nicht darüber nach. Nicht darüber, was er Marok gesagt hatte, irgendwas über die Ebenen, um im nächsten Augenblick das Gegenteil zu behaupten, lallend, schreiend, schluchzend, weil die Schmerzen ihm schier den Verstand raubten, weil er keine Kraft mehr hatte und sie so fern war. Er hatte sie verloren, er hatte seine Frau verloren, die Mutter seines Sohnes, und er weinte vor Verzweiflung, wusste nicht, wie lange schon.
Die Frau schwieg. Natürlich. Sie war eine Ostländerin, und eine Ostländerin sprach nur, wenn es ihr erlaubt wurde. Oder so ähnlich. Wahrscheinlich stimmte es nicht, doch diese Ostländerin schwieg, aus Angst, vor Scham, warum auch immer. Lange, glatte, rabenschwarze Haare, hätte es nicht die Blonde sein können? Er unterdrückte ein Kichern, reiten konnte sie auch nicht, hing wie ein Sack Getreide im Sattel. Aber er sollte nicht kichern, er geriet sonst ins Stolpern. Schmerzhaft, er musste sich darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Den Gaul, diese Schindmähre von einem Pferd nicht den nächsten Abhang hinunter zu führen, dem kaum sichtbaren Pfad weiter zu folgen. Wohin er sie auch bringen mochte. Die Frau fror, das wusste er, sie war völlig unzureichend bekleidet. Er hatte ihr sogar seine Jacke angeboten, aber sie wollte sie nicht nehmen, und jetzt hatte er nicht mehr die Kraft zu solch einer Geste. Sie würden beide sterben, die Nächte waren zu kalt hier in den Bergen, sie hatten keinen Proviant, keine Decken, nichts, sie waren bereits tot. Er stolperte trotzdem weiter, es blieb nichts anderes zu tun, vor ihm … er blinzelte, wollte nicht stehen bleiben, der Pfad jetzt breiter, fast ein Weg. Und der Weg führte hinab in eine Senke, führte zwischen Mauerresten und Ruinen halbzerfallener Häuser hindurch. Verblüfft blieb er stehen, hörte einen erstaunten, erstickten Laut von der Frau. Gestrüpp zwischen den Mauern, Gras auf den eingesunkenen löchrigen Dächern, die Fenster gähnende Öffnungen, die Läden, die Türen schief, abgerissen, verkohlte Balken. „Das muss …“
Er hatte keine Ahnung, welche Stadt dies einst gewesen war, obwohl er es wissen sollte. Dachte an Dalgena und blinzelte die Tränen fort, schaute um sich, zog langsam das Pferd hinter sich her, suchte. Überall Verfall, aber ein halbwegs dichtes Dach und einigermaßen intakte Mauern sollten doch … Wann, vor wie vielen Jahren war die Stadt aufgegeben worden? Die Schäden waren alt, Jahre, Jahrzehnte, der letzte Krieg mehr als dreißig Jahre her, aber vermutlich waren die Bewohner nicht sofort weg, nicht alle, es gab immer welche, die sich nicht mit dem Unvermeidlichen abfinden wollten, die die Hoffnung nicht aufgaben.
„Halt nach einem Gebäude Ausschau, das noch heil ist. Das zumindest so aussieht.“
„Du…“ Die Frau starrte ihn entsetzt an, senkte eilig den Blick, als er sich zu ihr umwandte. „Du sprichst … meine Sprache?“
„Ja. Nicht die Dialekte, aber ich komme zurecht. Würdest du mir jetzt helfen, du hast zwei gesunde Augen? Wir brauchen eine Unterkunft … Unterschlupf, irgendwas, ein Dach und ein paar Mauern.“
„Du willst … wir bleiben? Hier?“
„Hör mir mal gut zu, Frau. Noch ’ne Nacht unter freiem Himmel überleben wir beide nicht, und in diesen Ruinen tut dir niemand was. Diese verfallene, zerstörte Stadt könnte unsere Rettung sein!“ Und sei es nur für zwei, drei Tage, aber er machte keine Pläne mehr für die Zukunft. „Und jetzt such, bevor es zu dunkel wird.“
* * *
Sandar hatte ihre Füße massiert, fast gedankenlos, hatte geredet und ein bisschen von Lu erzählt, von seinen Plänen, Wünschen, von seinen Vorstellungen. Doch dann hatte er nicht mehr bloß Maras Füße gefühlvoll gestreichelt, sondern auch ihre Beine, hatte nicht an den Knien Halt gemacht, sondern war mit den Händen ihre Schenkel, die Innenseiten ihrer Oberschenkel hinauf geglitten.
Sie hatte ihn nicht daran gehindert. Hatte seinen Namen geflüstert, wie ein Seufzen, als er sich über sie gebeugt hatte, sehr dicht über sie, so dass sie sich an ihn klammern musste, um nicht … Und er wollte sie, schon immer, jetzt, unbedingt, dachte nicht an Davian, dachte zu viel an Davian, als er sie rüber aufs Bett hob, ihre Röcke … Er liebte den Anblick ihrer nackten Beine, das Gefühl ihrer nackten, warmen Haut unter seinen Fingern, konnte nicht von ihrem Hintern lassen und verbot sich … Zerrte ihr stöhnend das Hemd über den Kopf und hätte am liebsten … zog sie auf sich, der Anblick ihrer kleinen, prallen Brüste entzückend, und hielt sie noch ein bisschen, noch einen Augenblick länger, über sich, ließ sie nicht … bevor er sich, sie sich auf ihn … ihn in sich aufnehmend … Sandar wollte schreien, sich brüllend auf sie stürzen, sie wieder und wieder … Und sah sie doch nur verzückt an, wie sie sich auf ihm … wand … bewegte. Kam fast sofort zum Höhepunkt, besser so, er wollte, durfte ihr nicht wehtun.
Liebkoste Mara zärtlich, küsste sie, immer wieder, und tupfte mit der Fingerspitze sacht eine Träne fort. „Denkst du an ihn … Davian?“
„Jetzt gerade nicht, nein.“
Er dachte an ihn. „Wenn er jetzt hereinkäme …“
„Wäre ich überglücklich.“
„Ja, du …“
„Du etwa nicht?“
Sandar berührte zögernd ihre Lippen, lächelte. „Doch, ich auch.“
„Eben. Aber er wird jetzt nicht hereinkommen, es ist viel zu weit … er ist so entsetzlich weit weg, Sandar!“
„Ja, ich befürchte.“
„Du weißt es nicht?“
„Nein.“ Ernst schüttelte er den Kopf, legte die Hände um ihr Gesicht und zog sie näher, küsste sie behutsam. „Ich weiß es nicht. Ich habe eine Ahnung, aber … die hast du vermutlich ebenfalls.“
„Keine gute Ahnung. Ich könnte ihn …“ Und plötzlich war sie wütend, voller Hass und Zorn. „Wie kann er mir meinen Mann wegnehmen, wenn ich ihn brauche? Er kann doch nicht …“
„Doch, Mara, er kann. Und er hat bestimmt nicht leichtfertig …“
„Pah! Erzähl mir noch, ich soll Verständnis für seine Situation aufbringen.“
„Nein, denn das hast du bereits. Du weißt, warum er so gehandelt hat, Mara, so handeln musste.“
„Traut er sich deshalb nicht her?“
„Das … bezweifle ich ernsthaft, Liebes. Jedenfalls ist es nicht die Angst vor deinem Zorn. Keine Ahnung, warum genau Reik, wie viele andere, nicht hier ist.“
„Kennst du die Pläne nicht?“
„Nicht sämtliche Einzelheiten.“ Er schwieg, fuhr Mara durchs Haar, er liebte ihr rotes Haar, liebte ihre Locken.
„Ich habe nicht mitbekommen, wie er weg ist. Les meinte, er … Davian wäre an jenem Abend, nur wenige Tage nach der Schlacht, noch zu Domallen. Danach hat ihn wohl keiner mehr gesehen, nicht mal Ron.“
Irritiert hob Mara den Kopf. „Wieso Ron?“
„Hat er das nie … Ron ist sein Zweiter.“
„Ach so … das.“
„War dir nicht bekannt?“
„Doch. Und sein erster, ähm, Stellvertreter … ist Marten, oder?“
„Jup.“
„Wie viele Stellvertreter … Zweite hast du, auch zwei?“
„Drei. Aber erst seit kurzem, da ich einige Zeit ausfallen werden. Den einen kennst du sogar, Lokar …“ Sandar lachte. „Die beiden anderen vermutlich auch.“
„Den du zu mir geschickt hast? Ziemlich jung.“
„Das kommt dir nur so vor, weil ich bereits so alt bin.“
Mara verzog das Gesicht. „Gerade eben kamst du mir aber gar nicht alt vor, und auch nicht hilflos und krank.“
„Eben habe ich mich auch weder alt noch krank und hilflos gefühlt.“ Er grinste kurz. „Nein, ernsthaft, ich kann nur mit Schwierigkeiten reiten, meine ganze linke Körperhälfte ist praktisch nicht einsatzfähig.“ Er zuckte die Achseln. „Zerschlagen.“
Betroffen blickte Mara ihn an und berührte seine fest bandagierte Schulter. „Dann habe ich dir …“
„Unsinn, Liebes. Du hast mir ganz sicher nicht wehgetan, Mara, das darfst du nicht einmal denken. Du …“ Zärtlich lächelte er sie an. „Selbst wenn ich Schmerzen gehabt habe, du hast sie mich vergessen lassen. Du bist überwältigend, mein Schatz, unglaublich … anziehend, und das trifft es nur ungenügend.“
Sandar stützte sich auf den rechten Ellenbogen und schaute sie sinnend an. „Welch süße Qual dein Anblick, welch grausame Marter der Hauch deines Atems auf meiner bloßen Haut ...“
Mara grinste, wand sich ein bisschen und errötete. „Manik.“
„Du kennst das?“
„Ihn. Aus Hirons Einheit, er liegt verletzt in den Gardeunterkünften und lässt sich von Vica umsorgen.“
„Das wusste ich nicht. Du kennst viele Leute.“
„Na ja, kennen. Er ist ein bisschen seltsam, redet manchmal …“ Sie schüttelte den Kopf. „Und er wollte mir nicht verraten, wie es weitergeht, behauptete, das wäre unpassend vor einer jungen Frau wie Vica.“
„Verständlich, es ist tatsächlich recht … anzüglich.“ Er grinste unterdrückt, zog Mara näher und flüsterte ihr ins Ohr. Sie lauschte, wie gebannt, schien plötzlich unruhig und wich seinem Blick aus. „Oh, das …“
„Zu unanständig?“
„Eindeutig. Mich wundert nicht, dass er mir das vor Vica nicht sagen wollte, das …“ Ihr fehlten offenbar die Worte, und er begann, ihr zärtlich am Ohr zu knabbern, ihr neckend in den Nacken pustete und ganz sacht mit den Fingerspitzen über den Rücken zu streichen. Vielleicht hatte sie aber auch schlicht kein Interesse mehr, nach den richtigen Worten zu suchen.
(390. Tag)