Читать книгу nur Tod und Verderben - N. H. Warmbold, Nicole Heuer-Warmbold - Страница 6

Kapitel 3 – Heimkehr

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Der gerüstete, schwer bewaffnete Reiter kam im vollen Galopp auf den Hof geprescht. Er hielt direkt auf Mara zu, die sich verwundert umgewandt hatte, und zügelte keine drei Schritt vor ihr brüsk sein Pferd, sprang ab und riss sie in seine Arme, küsste sie wild. Überaus leidenschaftlich. Was Ron, denn natürlich war es der Gardist Ron, der umgekehrt war – die Soldaten konnten noch nicht einmal den Rand des Dorfes erreicht haben –, leise zu ihr sagte, verstand Bahadir allerdings nicht, wollte er auch gar nicht wissen. Es war Sache der beiden und ging ihn nichts an.

Trauer und die Ahnung einer fürchterlichen Tragödie überfielen ihn, als Ron wieder sein Pferd bestieg und endgültig aufbrach; Bahadir schüttelte abwehrend den Kopf und wich Liz’ Blick aus, mit dem er in die Wirtsstube zu ihrem kargen Frühstück zurückkehrte.

Bahadir setzte sich für sich allein, er wollte jetzt keine Gesellschaft, keine zwanglose Unterhaltung, gar lockere, unverbindliche Gespräche. Wollte für sich sein, gründlich über die Geschehnisse der letzten Tage nachdenken, sich dieser gewaltsamen, erschreckenden Erfahrungen erinnern. Beten.

Was hatte er hier verloren? Er gehörte nicht in dieses kalte Land, er war kein Krieger, genau wie Ron gesagt hatte. Der Hüter des Schwertes, bloß erweckte Mara nicht den Eindruck, als würde sie Beistand benötigen. Ganz sicher nicht seinen Beistand, seine Hilfe. Er war ihr doch nur eine Last, hinderlich wie ein Klotz am Bein, unnötiges Gepäck. Nur manchmal, selten, sehr selten, sagte ihr Blick etwas anderes, als suche sie Trost? Zustimmung? Oder machte er sich selbst etwas vor?

Erstaunt, fast ein wenig beunruhigt sah er, wie Mara in seine Richtung kam, eine Schüssel Haferbrei und einen Becher Tee in Händen, und sich ihm gegenüber an den Tisch setzte, ihn forschend musterte. „Bereut Ihr es?“

Er versuchte ein Lächeln. „Auf einige Erfahrungen hätte ich womöglich gern verzichtet, aber … Nein, ich bereue es nicht. Ich bereue nicht, meine Heimat verlassen zu haben und nach Mandura gekommen zu sein. Und ich bedaure nicht, jetzt mit Euch gekommen zu sein.“

„Ich habe Euch keine Wahl gelassen.“

Bahadir verzog das Gesicht. „Stimmt.“

„Wisst Ihr, warum?“

Unbeabsichtigt schüttelte er den Kopf, biss sich auf die Lippen. „Es … ist verwirrend, ich … Ihr braucht mich offenbar nicht, noch weniger als Liz-Rasul oder diesen Jungen, Janek.“

Wieder musterte sie ihn eindringlich, sein Gesicht, und schob die leer gegessene Schüssel beiseite. „Der Krieg hat gerade erst begonnen, Bahadir.“

Wie unter einem Hieb, als hätte sie ihm ihr Schwert in den Leib gestoßen, zuckte er zusammen, ächzte unterdrückt und krallte die Hände um die Tischkante. „Ich verstehe.“

Sie fühlte, spürte jeden Tod. Wie hatte er das nur vergessen können? Und ein Großteil der Menschen, die ihr etwas bedeuteten, all ihre Männer waren auf dem Weg in die Schlacht. Er erwiderte den Druck ihrer kleinen, kalten Hand.

* * *

Er war allein, völlig auf sich gestellt. Niemand, der ihm helfen, der ihn retten würde, und er konnte sich auch von ihr keinerlei Beistand erhoffen. Es gab nur ihn. Aber er war am Leben, noch immer, nach Misshandlung und tagelanger Folter, trotz seiner zahlreichen Verletzungen, Verwundungen, verdammt, er würde jetzt doch nicht aufgeben!

Einmal mehr wurde die Tür geöffnet. Er reagierte nicht, als der Soldat ihm ein Bündel hinwarf. „Anziehen.

Es war Kleidung, dreckig, stinkend, nicht ganz Lumpen; eine fleckige Hose, ein ärmelloses Hemd, ein besserer Wischlappen, und eine zerrissene Jacke, die linke Seite steif vor Blut. Tatsächlich seine Uniformjacke, er lachte nicht, fragte sich nicht nach dem Grund, sondern zog die Sachen mühsam über, seine Schmerzen ignorierend. Keine Schuhe oder gar Stiefel, natürlich nicht. Schwankend stand er unter der Tür, gebeugt, und ließ sich die Hände auf dem Rücken fesseln. Der zweite Soldat beobachtete ihn argwöhnisch, dann packten beide seine Arme, zerrten ihn aus dem Keller, die Treppe hinauf, einen düsteren, engen Gang entlang und hinaus ans Tageslicht. Geblendet kniff er die Augen zusammen, atmete unwillkürlich schneller, alle Muskeln trotz der Schmerzen angespannt. Überall Soldaten, gerüstete Soldaten, soviel konnte er im grellen Licht ausmachen, Hektik, laute Rufe, Pferde wieherten. Es musste früher Morgen sein und die Soldaten kurz vorm Aufbruch. Seine Wächter wuchteten ihn auf ein Pferd, banden seine Füße unter dem Bauch des Tieres zusammen und legten eine Schlinge um seinen Hals, ein dritter Wächter befestigte den Strick am Sattel seines eigenen Pferdes. Niemand hatte ihm die Augen verbunden, entweder waren die Ostländer unvorsichtig oder sich ihrer Sache sehr sicher; er wusste, wo er war. Keine vier Tagesritte nördlich von Dalgena.

Doch sie ritten nicht auf die Stadt zu, nach Süden, stattdessen in östliche Richtung. Direkt auf das Kitainagebirge zu. Keiner der Soldaten in seiner näheren Umgebung redete, weder untereinander noch mit ihm, und eine gespannte Armbrust war beständig auf ihn gerichtet. Viel Aufwand, um ihn hinzurichten, zu viel Aufwand, sie hätten ihn in dem Loch verrotten lassen können. Er sollte die Situation ausnutzen, er hatte Kleidung, ein Pferd, er sollte…

Ihr hättet keine Chance, Hiron.“ Gelassen lenkte Barreck sein Pferd näher, musterte ihn kalt. „Der Mann hat Befehl, sofort zu schießen, wenn ihr Euch nur falsch bewegt.

Was habt Ihr vor, Barreck?

Ganz allgemein? Das Land erobern. Dalgena haben wir schon, es war enttäuschend einfach.“ Barreck lachte leise. „Ich hörte, Eure Schwester lebt in der Stadt.

Er ballte die tauben Fäuste. „Sie ist raus. Es geht ihr gut.

Das freut mich, zumal … Glaubt Ihr denn, Samala Elis ist sicher? Wir werden auch Eure Hauptstadt erobern, Hiron, jede Stadt, jedes Dorf, jede Ansammlung von Hütten. Bald gibt es in Mandura keinen sicheren Platz mehr, nicht für Eure Schwester, nicht für Euer Mädchen, keine Frau, denn bald, schon sehr bald gehört das Land uns. Ihr werdet es erleben, Hiron.

Nein.“ Er knirschte mit den Zähnen, sie schmerzten, schmeckte Blut.

Nein?“ Wieder dieses Lachen. „Oh doch, Hiron. Um Eure Frage zu beantworten, er will Euch sehen.

Wer? Und warum? Er stellte die Fragen nicht, wusste, er würde keine Antwort bekommen, nicht auf diese Fragen. „Was ist mit meinen Männern?

Mit Euren … Glaubt Ihr etwa, von denen würde noch einer leben? Sie sind tot.

Tot, alle tot. Und er war verantwortlich. Schon bald hatte der eisige Regen ihn durchnässt, er fror erbärmlich, zitterte unkontrolliert. Seine Schuld.

Gegen Abend änderten sie die Richtung, bogen nach Nordosten, dann Norden ab, ritten parallel zur großen Südstraße, wenn auch nicht auf der Straße selbst. Es war ihm gleichgültig.

* * *

Dieser kleine, kahlköpfige alte Mann, Fabro, war Mara gegenüber mehr als höflich gewesen, fast untertänig, als er sie verabschiedete. Liz hatte nicht mitgezählt, wie oft der Mann sich vor ihr verbeugt hatte. Mara hatte kaum auf ihn geachtet, war in Gedanken bereits ganz woanders.

Das Wetter blieb kalt und nass, es regnete ununterbrochen. Liz begann sich zu fragen, wie lange die Leute den Marsch noch durchhalten würden, denn für die meisten war es ein Fußmarsch; viele hatten Husten, manche auch Fieber, die Tiere waren ebenso erschöpft wie die Menschen. Eine elende Quälerei bei dem nassen, tiefen Boden. Nur vereinzelt waren noch Flecken von Schnee zu sehen.

Und Mara … Erst nachdem er sie das dritte Mal angesprochen hatte, reagierte sie und wandte ihm das blasse Gesicht zu, dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab. „Kann ich Euch helfen, Mara?“

„Ich wüsste nicht, wie Ihr mir helfen könntet. Womit?“

„Ich weiß auch nicht genau, nur … Haltet Ihr die ganze Zeit Kontakt?“

„Mit wem, Sakar?“

Er nickte zögernd, auch wenn er seinen Kollegen, ihren Vater, nicht meinte. Nicht in erster Linie. „Zum Beispiel.“

„Nein, nur kurz am Abend und am Morgen. Meister Sakar glaubt, sie seien übermorgen wohl am Ziel, er … Oh, er ist manchmal so unkonzentriert, vermutlich bemüht er sich sogar, aber seine Gedanken sind furchtbar unklar. Und ständig seine Beschwerden über das Wetter, als wüsste ich nicht … Er ist ermüdend.“ Ärgerlich schüttelte sie den Kopf, verzog das Gesicht.

„Kopfweh?“

„Hm, geht schon.“

„Und … Hauptmann Hiron?“

„Hiron …“ Ihr Blick irrte ab, ihre Miene kalt, ohne jede Regung. „Ich fürchte, es geht ihm ziemlich schlecht, er … entfernt sich, aber vielleicht … Vielleicht bringen sie ihn auch nur an einen anderen Ort. Ich weiß es nicht.“

Sie sah ihn hastig an und Liz verspürte Mitleid. Er legte den Arm um ihre Schultern, zog sie näher und lehnte den Kopf an ihren Kopf. „Abendstern …“

„Ich bin müde, Liz, so müde, meine Gedanken …“

„Schließ die Augen, Abendstern, einen Moment nur …“

Sie schnaubte, rührte sich jedoch nicht. „Und dann?“

„Und dann … Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, ich …“ Er strich mit der Rechten über ihr Gesicht, verharrte, bevor er mit den Fingerspitzen ihren Mund berührte, ihre Lippen. Dachte daran, sie zu küssen, ein einziges Mal nur. „Wir sollten weiter.“

Er hörte sie leise lachen, natürlich las sie seine Gedanken. „Aber?“

„Nichts.“ Hilfsbereit half Liz ihr aufzustehen.

* * *

Zwei Tage ritten sie ununterbrochen, legten nur nachts eine kurze Rast ein. Es war kalt, verharschter Schnee bedeckte die kahlen, unwirtlichen Vorberge. Er hatte Fieber und war froh, wenn Barreck nicht mit ihm sprach. Wusste er denn, ob der Kerl ihn nicht anlog, ihm sonst was erzählte? Er wollte nicht glauben, dass sie alle tot waren, dass nicht einer …

Es war sinnlos, er würde es nicht erfahren, nutzlos, länger darüber nachzugrübeln. Kostete ihn nur Kraft, und er hatte keine Kraft mehr, konnte sich kaum auf dem Pferd halten. Und jedes Mal, wenn er aus dem Sattel zu rutschen drohte, zog sich die Schlinge enger um seinen Hals, riss ihn einer seiner Wächter – sie wechselten nicht mehr – grob zurück. Das einzig Warme das Pferd unter ihm, zwischen seinen Schenkeln. Er lachte heiser, konnte nicht aufhören zu lachen, mochten die Soldaten ihn auch schlagen, lachte immer weiter, was sollten sie ihm noch tun, er war so gut wie tot, konnte nicht mehr klar sehen. Bis ihm in den Sinn kam, dass das Flirren und Flimmern vor seinen Augen Schnee war. Heftiger Schneefall, wie an jenem Morgen, als sie aus der Stadt ausgezogen waren. Sie hatte das Lied der Garde gesungen, und wie sie gesungen hatte; er spürte wieder die Erregung, das Hochgefühl, spürte das Blut in seinen Adern pulsieren, hörte sich selbst mit kratziger Stimme singen. Fühlte Barrecks Dolch an seiner Kehle. „Hört auf!

Oder was, Barreck? Ihr tötet mich?“ Er lachte keuchend, sang.

Hört sofort auf damit!

Was wollt Ihr mir schon tun? Mich erneut zusammenschlagen lassen und foltern? Das würde ich nicht überleben, Barreck, das wisst Ihr, und er will mich sehen. Macht, Barreck, stecht zu!

Und Barreck stach zu. Er fühlte sein Blut heiß hervorquellen, nicht sein Hals, der Mistkerl hatte ihm den Dolch durchs Gesicht gezogen, Blut füllte sein Auge, aber er hörte das Lied, sang, spürte ihre Nähe, ihre Berührung. Ihre Finger so kalt.

Sie zerrten und schleppten ihn vorwärts, seine Füße schleiften über den Boden. Steinboden, offenbar in einem Gebäude, er sah nicht viel, war zu schwach, den Kopf zu heben. Die Soldaten hielten inne, jemand trat ihm brutal von hinten in die Beine und er sackte ächzend auf die Knie. Dann trat einer – Barreck – neben ihn und riss seinen Kopf an den Haaren nach hinten. Er blinzelte, versuchte den Mann vor sich zu erkennen. Groß, gewaltig, dunkelhaarig, in einem weiten, pelzbesetzten Mantel. Er, Urlis Marok? Barreck ließ ihn los, verbeugte sich tief. „Mein Herr und Gebieter.

Vermutlich Urlis Marok, Heerführer der ostländischen Armee. Er verstand nicht, was sie redeten, Ostländisch, doch viel zu schnell, der Dialekt … unklar, Davian hätte ihn womöglich verstanden, aber der verdammte Kerl war nicht hier, nicht an seiner Stelle. Er hatte Mühe, bei Bewusstsein zu bleiben, nicht … Noch mehr Tritte, Hiebe, der große Mistkerl hatte ihn angesprochen, die dunkle Stimme … klang ungeduldig, aber fast angenehm, er unterdrückte sein unpassendes Lachen, hob den Kopf.

Du behauptest, ein Gardehauptmann zu sein?

Hauptmann Hiron Ligoban, Angehöriger der Garde seiner Majestät, des Königs von Mandura.

Der Dunkelhaarige lachte verächtlich. „Ligoban, ja? Deine Vorfahren waren einst Könige, und heute … Du stinkst entsetzlich, Mann. Was hast du dort gewollt?

Unwillkürlich schüttelte er den Kopf, erwartete den nächsten Schlag. „Ich verstehe nicht.

Was wolltest du in Dalgena?

Ich war nicht …“ Er zuckte zusammen, unterdrückte sein Stöhnen. Der Dunkelhaarige winkte ab und Barreck ließ ihn in Ruhe. Vorerst.

Was wolltest du vor Dalgena?

Hiron spuckte aus, Blut befleckte den Boden. „Wir hörten von einer größeren Gruppe Flüchtlinge und wollten ihnen gegen drohende Übergriffe beistehen. Ostländer greifen bekanntlich bevorzugt wehrlose Frauen und Kinder …“ Er brüllte vor Schmerz, krümmte sich zusammen, um den brutalen Tritten und Schlägen zu entgehen. Der große, dunkelhaarige Kerl schaute ungerührt zu.

Was willst du damit erreichen, Hauptmann, hoffst du, meine Leute schlagen dich tot? Du stirbst, wann ich es will. Also?

Meine Schwester … bei den Flüchtlingen …“ Es war eine gute Geschichte, die Wahrheit, und er sollte daran festhalten.

Domallen lässt seinen Hauptleuten erstaunliche Freiheiten. Aber er führt ja auch wegen dieser kleinen Hure aus dem Süden Krieg, schlägt jegliche Verhandlungen aus. Lächerlich! Was hat er vor, Hiron?

Kämpfen natürlich, er redete von einer großen Schlacht. Unsere Soldaten sind zehnmal so viel wert wie diese feigen, hinterhältigen ostländischen Schweine! Wir werden euch …

Marok lachte einfach, wandte sich ab. „Sperrt ihn irgendwo ein. Ich werde ihn mitnehmen, der Kerl ist amüsant. Soll er zusehen, wie sein großer König den Schwanz einzieht wie ein geprügelter Hund.

Das verletzte Auge bedeckt mit einem Verband, das gesunde zugeschwollen von der Prügel war Hiron nahezu blind, benommen vom Fieber, seinen Schmerzen, entkräftet, erschöpft. Todmüde und noch immer am Leben, fast hätte er gelacht, keuchte nur, der kalte Wind ließ ihn frösteln. Wieder auf einem Pferd, gefesselt an Händen und Füßen, unterwegs nach sonst wo hin. Zur ersten Schlacht? Marok, es musste Marok gewesen sein, hatte es angedeutet. Viel mehr hatte er nicht mitbekommen.

Eine stark gewürzte heiße Suppe, die er durstig hinunterstürzte, er wusste nicht, wann er das letzte Mal Nahrung zu sich genommen hatte, und sein Magen krampfte, schrie nach mehr. Wenn sie tatsächlich auf dem Weg zur Schlacht waren … aber er konnte nicht sehen, sich nicht orientieren, wie sollte er da … Er wusste, wo die verdammte Schlacht stattfinden würde, er wusste es doch, Domallen hatte jeden Hauptmann in Kenntnis gesetzt, ihre Karten … hatten sie seine Karten? Und wenn schon, was nützten ihnen die Karten, er hatte den Ort nicht markiert, so dämlich war er nicht, auch wenn dieser Bastard Ron davon überzeugt schien. Diese mickrige Ratte, scharf auf die Frau seines … Warum dachte er daran, wieso konzentrierte er sich nicht darauf abzuhauen? Wieder kicherte er, beantwortete seine Frage gleich selbst. Weil er keine Chance hatte, nicht den Hauch einer Chance; seine Hände spürte er gar nicht mehr, so fest waren die Stricke gezogen, seinen Füßen, den Unterschenkeln ging es nicht besser, er war praktisch blind, verletzt, er hatte keine Waffe, nur ein … Er kicherte erneut, es klang irr, er saß auf einem Pferd. Er hatte ein Pferd, das durfte er nicht vergessen, er war hilflos, wehrlos, aber er hatte Kleidung und ein Pferd, ein warmes Pferd zwischen seinen Schenkeln. Ein schöner Gedanke, er lachte leise, zu laut, denn jemand hieb ihm die Faust in die Seite, gegen die verletzte Schulter. „Halt ’s Maul, Nordländer!“

Nicht Barreck. Sein Bewacher offensichtlich nervös, er klang fast ängstlich. Und keine Schlinge um seinen Hals. Absicht und somit ein Trick, Nachlässigkeit? Wie lange, bis sie am Ziel waren und er etwas unternehmen musste, was auch immer. Warum auch immer, ihm fiel kein Grund ein, nichts, er konnte nicht denken. „Hast du Angst, Ostländer?“

Du sollst das Maul halten, oder ich …

Oh ja, du hast große Angst. Hätte ich an deiner Stelle auch, eine Scheiß-Angst.“ Er lachte. „Schon mal gegen richtige Soldaten gekämpft, nicht bloß gegen mit Knüppeln bewaffnete Bauerntölpel? Nein?

Sie hielten. Sein Bewacher löste die Fußfesseln, zwei weitere rissen ihn vom Pferd, stießen ihn grob vorwärts. Er stolperte auf dem unebenen Grund, felsiger Boden, stürzte schwer auf die Knie, unterdrückte seinen Aufschrei. Mit Mühe zerrten sie ihn hoch, seine Beine trugen ihn nicht, schleppten und zerrten ihn voran. Felsen, Steine, dazwischen Schneereste; es war kalt.

Zu schade, dass Ihr den Anblick nicht würdigen könnt, Hauptmann Hiron Ligoban.“ Urlis Maroks dunkle Stimme erklang neben ihm. „Sieh hin, Hiron.“

Er hob den Kopf. Vor ihm, er kniete auf einem Felsvorsprung, die Höhen um ihn zerklüftet, schroff, fiel der Boden zum Tal hin ab. Das Tal, er wusste es. Menschenleer, keine Bewegung, nichts deutete auf die manduranische Armee hin, nichts. „Ich verstehe nicht.“

Nein? Oh, er ist natürlich nicht so dumm, sich jetzt schon zu zeigen. Seine Späher sind sehr geschickt, beinah zu geschickt, fast hätten wir sie übersehen. Seine Armee konnten unsere Kundschafter allerdings nicht übersehen. Es wird eine wahrhaftig große Schlacht morgen, Hiron, und du hast die Ehre, als mein Gast dabei zu sein.

Eure Gastfreundschaft lässt zu wünschen übrig, Marok.

Fühlst du dich nicht gut behandelt, Hiron?“ Urlis Marok lachte. „Begleitet mich in mein Zelt, Hauptmann, wir werden reden.“

Sein Blick ging nach Osten, wo sich das Tal scheinbar verengte, nach Südosten abzweigte, und ihm war übel, als er unter, vor sich das gewaltige Heerlager der Ostländer sah.

* * *

Unmerklich lichtete sich der Himmel über den Gipfeln des Kitainagebirges. Reik hauchte gegen seine Fingerspitzen, fühlte sich erstaunlich ruhig. Noch war es zu dunkel. Er hatte Bedenken gehabt, gegen die Sonne reiten zu müssen, doch diese würde bereits hoch am Himmel stehen, wenn sie über die Berge gestiegen war. Bis dahin hatte die Schlacht längst begonnen. Ungewollt dachte er an Gènaija, unterdrückte den Gedanken aber sogleich wieder. Nicht jetzt.

Es wurde heller, er konnte nun die Armee der Ostländer am anderen Ende des weiten, flachen Tales erkennen, bemerkte, dass diese sich bereits in Marsch gesetzt hatte, und hob die Hand. Seine eigenen Reihen rückten langsam vor, fast gemächlich; er würde die Stellung auf dem Hügel nur ungern aufgeben. Ein kleiner, wenn auch eher unbedeutender Vorteil. Er nickte Remassey zu, linke Flanke vor, gleich danach Sadurnim auf der rechten Seite. Sandar hielt gemeinsam mit Davian die Mitte, besser als Leikov, er verzog den Mund, weitaus besser, Davian war rücksichtsloser, brutaler. Reik lachte rau, Gènaija ließ sich nicht mit irgendwem ein, zog sein Schwert und gab den Befehl zum Angriff.

Kein Zurückschrecken, als die Armeen aufeinander prallten, kein Zögern, als die ersten fielen; sie konnten es sich nicht leisten, zurückzuweichen, sie wichen nicht zurück. Oh Gènaija, Gènaija … Sein Schildarm war taub, sein Schwert so schwer, der Griff glitschig vor Blut. Wessen Blut? Die Sonne stand hoch am Himmel, Schweiß lief ihm über das Gesicht, salzig … Sie begingen nicht den Fehler nachzusetzen, als das Zentrum der ostländischen Reihen wankte und einbrach, der Trick war alt. Er sah Leikov stürzen, seinen Gegner mit sich reißend, sah ihn sterben und nahm seinen Platz links der Mitte ein.

Zeit, den Hügel aufzugeben und unerbittlich vorzurücken; hätte er ein paar tausend Mann mehr, könnte er die Schlacht gewinnen. Die Sonne ging bald unter, er verlor zu viele Männer, er musste an morgen denken, den weiteren Verlauf des Krieges; sie verfolgten die Ostländer nicht, als diese sich bei Sonnenuntergang zurückzogen. Noch nicht.

* * *

Besorgt beobachtete Liz Mara, die zusammengesunken im Sattel hockte, viel zu bleich, und lenkte sein Pferd noch ein bisschen näher; sie hätte wirklich auf einen Wagen gehen sollen, doch hatte sie sich stur geweigert. Ohne viele Worte, sie diskutierte nicht, sagte schlicht Nein, und weder er noch Bahadir konnten sie umstimmen, sie hatten keinen Einfluss auf ihr Verhalten. Nicht wie dieser Ron, aber der war … Er wusste nicht, ob Ron und die anderen Gardisten es rechtzeitig zum Ort der Schlacht geschafft hatten, mochte auch nicht nachfragen. Nicht jetzt, während gekämpft wurde. Dort.

Ein seltsames Gefühl, unwirklich, er hatte den fraglichen Ort, dieses weite Tal, auf der Karte gesehen. Die Markierung, von der Davian ihm gesagt hatte, Domallen hätte sie schon vor der Wintersonnenwende gemacht. Auf einen Hinweis Maras hin, die jetzt neben ihm ritt, gequält aufstöhnte. Sofort griff er nach ihrem Arm und beugte sich weit zu ihr hinüber. „Mara? Mara, was …“ Nicht noch mehr Namen, nicht noch mehr Opfer, Tote, nicht jemand, den er kannte, nicht …

„Hauptmann Narlon ist … Er ist tot.“

Erleichterung durchströmte ihn, es war ekelhaft, falsch, aber er war erleichtert. Doch Mara weinte, schluchzte verzweifelt, und Liz zügelte die Pferde, nahm Mara fest in seine Arme. „Abendstern, nicht doch, nicht …“

„Ich habe es gewusst, Liz, seit dieser verdammten Sitzung, ich habe gewusst, dass er in der Schlacht umkommen würde. Und ich habe nichts gesagt!“

„Ich verstehe nicht, du … Ihr habt seinen Tod vorausgesehen?“

„Nicht nur seinen. Ich habe ihn nicht gewarnt, Liz, ich habe …“

„Nein, natürlich nicht, das wäre …“ Behutsam strich er über ihr nasses Haar, hätte gern mehr getan. Er hätte sie gern geküsst, hätte gern … Abwehrend schüttelte er den Kopf, murmelte leise einen Fluch. Unpassend, seine Gefühle, seine Erregung waren absolut unpassend. „Das solltet Ihr auch nicht tun: einen Menschen vor seinem baldigen Tod warnen. Die Konsequenzen wären … Ich bin der festen Überzeugung, das wäre falsch.“

„Ihr würdet es nicht wissen wollen?“

Er zögerte einen Moment zu lange, wusste, sie hatte es bemerkt. „Nein.“

* * *

Ondra sah zu Mara hinüber, die wie üblich ein wenig abseits von den anderen saß. Für sich allein, jetzt, wo dieser Ron mit den Gardisten und Soldaten weg war, in sich gekehrt; selbst der Priester, der Zauberer Liz und Janek hielten Abstand. Weil Mara es so wollte? Oder war ihre Isolation eine Folge ihres Andersseins, ihrer erschreckenden, verstörenden Fähigkeiten und einer Fremdheit, die sie mitunter umgab wie ein Schleier? Sicher, sie redete mit den Leuten, sie hatte ihnen allen vermutlich das Leben gerettet, ihnen viel Leid erspart, und doch … Seufzend machte Ondra sich auf, wusste Mia und Garik wohlbehütet in Valeras – das Mädchen hatte sich den rechten Arm lediglich verdreht und nicht gebrochen, wie sie befürchtet hatte – und Bogats Obhut und setzte sich neben Mara, die nicht einmal den Kopf wandte, weiter vor sich hin starrte. „Kann ich … Ich weiß nicht, möchtest du lieber ungestört sein?“

Und plötzlich war Mara anwesend, richtig da, schlang die Arme um den Oberkörper. „Nein. Sie ziehen sich zurück. Langsam und geordnet, genau wie er es wollte.“ Ihr verhaltenes Lächeln war fast zufrieden zu nennen.

„Aha. Dann … dann ist die Schlacht endgültig geschlagen?“

„Gestern schon.“

„Und …“

Eilig fiel Mara ihr ins Wort. „Selbst wenn ich es wüsste, Ondra, ich dürfte es dir nicht sagen.“

„Oh. Ich verstehe. Aber du …“

„Ich bin seine Beraterin, ich war bei vielen Treffen der Hauptleute dabei, nicht bei allen. Und ich weiß längst nicht alles.“

Widerstrebend nickte Ondra und berührte flüchtig Maras Hand. „Es tut mir Leid, dass ich neulich so heftig reagiert habe, Mara, ich war …“ Außer sich vor Angst und Entsetzen, sie hatte völlig überreagiert. „Ich habe lange geglaubt, gehofft, du und Reik … Ich habe mir gewünscht, er hätte in dir die richtige Frau gefunden. Und nicht allein, um mein schlechtes Gewissen zu besänftigen, falls du das anmerken wolltest.“

Mara blickte sie nur ruhig an, ungerührt.

„Du … Der Priester sprach davon …“ Ondra ballte die Fäuste. „Er hätte nichts für uns getan, nicht wahr? Genau wie er nichts für Dalgena getan hat. Wir … Leif hat nicht untätig gewartet, er hat alles ihm Mögliche getan. Er hat mir gesagt, wir seien auf uns allein gestellt. Die Lage der Stadt … Und trotzdem hat er gehofft, immer gehofft, bis dann Len mit der kleinen Gruppe Soldaten und Gardisten kam. Da wusste er, dass niemand kommen würde und Dalgena verloren war.“

„Das stand schon vor Beginn des Krieges fest.“

„Komm mir doch nicht … Verflucht, das ist kein Trost, Mara!“

„Nein.“

Wie konnte Mara nur derart beherrscht und gefühlskalt sein? Als sie gestern und heute von der Schlacht sprach, hatte sie ihren Mann oder diesen Ron mit keinem Wort erwähnt, auch nicht Jula, niemanden. „Hast du Reik tatsächlich gedroht, du würdest allein gehen?“

„Nein. Ich habe Reik nicht gedroht, und so wütend, wie er zu dem Zeitpunkt auf mich war, wäre es ihm wohl auch gleichgültig gewesen.“

„Und mein Bruder?“

„Dein Bruder wollte gehen, er brauchte nur die Möglichkeit. Nicht mal einen weiteren Grund.“

Verwirrt schüttelte Ondra den Kopf, musterte Mara forschend und legte dann vorsichtig den Arm um ihre Schultern; Mara trug nach wie vor Kettenhemd und Schutzweste, wenn auch keine Arm- und Beinschützer, gar einen Helm. „Ich danke dir, Mara, für das, was du … Du hast meinen Kindern und mir das Leben gerettet, all diesen Leuten, und …“

„Nicht allen.“

„Nein, leider nicht allen, aber doch so vielen. Und dafür möchte ich dir danken.“

„Ja. Es war mir ein Anliegen.“

„Oh, du …“ Hilflos lachend küsste Ondra sie. „Wie geht es dir, ich meine … Du erwartest ein Kind und reitest mit Rüstung und allem über die Ebenen. Bei diesem Wetter.“

„Weißt du, wie anstrengend und schwierig Wetterzauber sind?“ Maras Grinsen blitzte auf und verlosch sofort wieder. „Ich bin müde, so müde, dass ich zwei Tage durchschlafen könnte. Und ich sehne mich nach einem heißen Bad und einem Bett.“

„Ein bisschen musst du darauf wohl noch warten.“

„Hm, vier, fünf Tage. Wir sind so elend langsam.“

„Die Leute können nicht schneller, Mara, sie sind völlig erschöpft.“

„Ich weiß, und die Zugtiere ebenso. Vielleicht…“ Mara runzelte die Stirn, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Nein.“

Fragend sah Ondra ihr ins Gesicht. „Was?“

„Ist noch zu früh. Aber übermorgen schicke ich Janek los.“

„Du schickst … Wohin?“

„Wohin wohl, Samala Elis.“

* * *

Die Ebenen waren in ihrer Eintönigkeit, in ihrer schier unermesslichen Weite fesselnd und ungemein faszinierend, ihre Leere zugleich aber auch erschreckend, ja beängstigend. Schwer zu begreifen, Mara schüttelte den Kopf und sah hilflos grinsend zu Janek.

„Was?“

„Ich weiß nicht, das ist so … Im Wald fühle ich mich bedeutend wohler, sicherer, doch hier …“ Sie holte tief Luft. „Es ist großartig.“

Janek lächelte, ein bisschen verlegen, wie so oft, wenn er allein mit mir redete. „Ja, ist es. Obwohl ich mich im Wald auch wohler fühle. Bei uns zu Hause gibt es viel Wald, fast nur, Hügel. Die Gegend zählt noch, oder schon, kommt auf die Blickrichtung an, zu den Vorbergen. Ein gutes Stück nördlich des Nesbra.“

„Wie weit?“

„In direkter Linie? So vier, viereinhalb Tagesritte, wie gesagt, es ist sehr hügelig. Und sehr schön. Na ja, ist halt meine Heimat.“

„In der es dir offenbar sehr gut ging.“

„Wieso sagst du das?“

„Es klingt so. Du klingst so.“

Wieder lächelte er, nickte verhalten. „Ja, doch. Es ging mir wohl ziemlich gut, ich … ich konnte im Grunde tun, was ich wollte. Klar hatte ich Pflichten auf unserem Hof, aber das war nicht viel, ’n paar Tiere versorgen. Und wenn mein Vater mich unterrichtet hat, oder wenn ich am Unterricht in der Schule teilgenommen habe, fand ich das toll, es hat mir Spaß gemacht. Die meiste Zeit war ich mit meinen Freunden aus dem Dorf zusammen, oder ich hab’ mit den Hunden die Wälder durchstreift.“

„Du hattest viel Freiheit.“

„Na ja, manchmal bestand Lina, meine ältere Schwester, schon darauf, dass ich ihr im Haus oder Vater in der Schule helfe.“ Er runzelte die Stirn. „Aber es stimmt wohl, ich hatte viele Freiheiten, mehr als die anderen Jungen im Dorf. Und jetzt … ist all das vorbei, jetzt ist Krieg, und ich … Ich habe Angst, Mara.“

„Wovor?“

„Wovor? Ist das nicht …“ Verzweifelt blickte er Mara an und senkte den Kopf. „Dass ihnen etwas passiert. Meiner Familie. Mein Vater ist dort … irgendwo, er hat in der Schlacht gekämpft und … und ich weiß nicht einmal, wie es ihm geht, ich kann nicht … Und meine Schwester, meine zweite Schwester, Marai, ist Priesterin im Tempel in Kirjat. Ich … verdammt, ich hätte sie besuchen sollen, als ich …“ Aufschluchzend unterbrach sich Janek, wandte das Gesicht ab.

Mara lenkte den Wallach näher. „Sie haben erzählt, was in Dalgena geschehen ist?“

„Na ja, erzählt, einige Frauen haben davon berichtet. Nicht mir, so … untereinander, und ich hab ’s halt gehört. Und ein paar von den Mädchen sagten, sie … die Ostländer hätten den Tempel angezündet. Jede erschlagen, die hinauslief, sich vor den Flammen retten wollte.“

„Ja. Ich weiß.“

„Das ist … Wie können diese verdammten Schweine so etwas Feiges und Hinterhältiges tun, das ist … das ist … Was?! Wieso, Mara, wieso passiert so etwas?!“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, warum Menschen solche Dinge tun. Ich kann es dir nicht erklären, ich kann es mir selbst nicht erklären.“

„Aber du …“

Mara musterte ihn fragend. „Ja?“

„Du wusstest das, ich meine … als es geschah?“

„Ich habe es gesehen. Gespürt.“ Miterlebt.

„Wieso du?“

Vage hob sie die Schultern. „Weil ich bin, was ich bin.“

„Eine Zauberin, eine verfluchte Hexe, wie sie sagen?“

„Sagen sie das?“

„Sie sagen noch viel mehr, schlimmere Dinge, aber … Die Leute sprechen es nicht aus, nicht laut, doch sie fürchten dich, sie haben Angst vor dir, dabei … Du bist überhaupt nicht, wie sie sagen.“ Janek wurde rot. „Schon gar nicht, wie die Soldaten sagen, du ... du gehst nicht mit jedem mit, du machst nicht mit jedem rum, das stimmt überhaupt nicht!“

„Nein, nicht mit jedem.“

Argwöhnisch betrachtete Mara die Wolken, die von Westen heranzogen, und fluchte unterdrückt. Dunkle, drohende, immens hohe Wolken, ganze Wolkengebirge. „Das sieht gar nicht gut aus.“

Janek stimmte ihr grimmig zu, zügelte sein Pferd und sah sich eilig nach dem Zug um. „Sieht nach ’nem richtig schweren Gewitter aus, womöglich Sturm, Hagel.“

„Aha, und nirgends …“ Mara schaute suchend um sich, überall weites, völlig flaches Land, keine Erhebung, keine Senke, nichts, sie wären dem Gewitter schutzlos ausgeliefert. „Verdammter Dreck, das kann doch nicht … Hast du irgendeine Idee?“

„Nein, aber … Wir sollten jedenfalls zurück zu den anderen, vielleicht … vielleicht hat schon mal jemand ein Unwetter auf den Ebenen erlebt, vielleicht weiß jemand … ähm, etwas.“

Doch auch die älteren Leute schüttelten nur resigniert den Kopf, Bogat brütete mit Liz über der ausgebreiteten Karte. Eindringlich sah Ondra Mara an. „Du sagtest vor einigen Tagen etwas über Wetterzauber, wie anstrengend die …“

„Ich bin nicht Sakar. Das dort wird ein wirklich schlimmes Gewitter, nicht bloß ein kleiner Schauer, und es kommt direkt auf uns zu.“

„Könnte ich mal die Karte sehen, mir ist da was …“

Verblüfft drehte Mara sich zu Manik um, der sich schwer auf Bahadir und Vica stützte, bleich, das Gesicht schmerzverzerrt. „Ich meine mich zu erinnern, hier irgendwo in der Gegend …“ Er ließ sich ächzend auf die Deichsel eines Wagens sinken, Bogat reichte ihm die Karte. „Was, ein verstecktes, gut geschütztes Dorf, Gardist?“

„Nein, das nicht. Aber ein Steinbruch, eine große Aushöhlung im Boden mit hohen Wänden nach drei Seiten.“

„Hier, auf …“ Unwichtig, Mara unterbrach sich. „Wo?“

„Ähm, ich … Moment, unser Standort ist …“ Seine Finger zitterten leicht.

„Hier etwa.“ Mara deutete auf die Stelle. „Ihr hättet nicht aufstehen sollen, Manik.“

„Verzeiht. Ich hielt es für unpassend, ja anmaßend, Euch an mein Lager zu bitten. Der Steinbruch …“ Flüchtig berührte Manik ihre Finger. „… ungefähr hier.“

„Das ist geradewegs auf das Gewitter zu.“

„Aye, meine Herrin. Wir sollten uns beeilen. Leiht mir ein Pferd.“

Skeptisch musterte Mara ihn. „Könnt Ihr Euch denn im Sattel halten?“

Manik zuckte nur die Achseln. „Ich muss, es ist nicht leicht zu finden.“

„Aber für Euch?“

„Ich habe mal dort gearbeitet. Die Grube gehört dem Vater eines Bekannten.“

„Verstehe. Janek, du reitest mit ihm. Und dann los!“

Die drohenden Wolken türmten sich immer höher vor ihnen auf, über ihnen, als wollten sie den Himmel, die Ebenen, sie alle verschlucken. Das Licht immer düsterer, ein dreckiges, schwefliges Gelb, unwirklich, der Wind peitschte ihnen entgegen, als sie direkt auf das Zentrum des Unwetters zuhielten. Mara spürte, atmete die Macht des Sturmes; erste Blitze zuckten hernieder, krachender Donner rollte über die Ebenen und der Wind riss an ihrem Mantel, an ihrem Haar. Sie lachte, konnte nicht anders, schrie beinah vor Lust, vor wilder Lebensfreude, als sie den Zug umkreiste, die Leute zur Eile antrieb. Die Zugtiere kurz vorm Durchgehen, Kinder klammerten sich weinend an ihre verängstigten Mütter, so manche Alte klagte laut, die Männer fluchten. Doch Mara lachte, riss schreiend ihr Schwert heraus und spürte den Sturm im Blut, kribbelnd auf ihrer Haut, als ein Blitz nah einschlug, sehr nah, das Krachen ohrenbetäubend. Manik rief ihr etwas zu, deutete nach links, und sie spornte den Wallach an, weit im Sattel vorgebeugt. „Vorwärts, es ist nicht mehr weit!“

Der Steinbruch war nichts weiter als ein Kuhle im Boden mit schroffen, steilen, bis zu zehn, fünfzehn Schritt hohen Felswänden, der Eingang ein flacher Abhang, der Grund uneben, voller Gräben, Geröllhaufen und Wälle. Bogat, Liz und Bahadir wiesen die Leute an, die Wagen näher an die hohen Wände zu fahren.

„Euch gefällt das?“ Manik grinste breit, seine Augen glänzten nicht allein vom Fieber, als Janek atemlos sein Pferd neben Mara zügelte.

„Oh ja, es ist …“ Mara reckte den Arm, und der Blitz fuhr nicht in den Felsen dicht am Rand des Bruchs, sondern harmlos in den Boden ein Stück weiter weg. „Kraft.“

„Meine Herrin, wenn ich Euch jetzt, in diesem Augenblick küsste …“

Lachend beugte sie sich zu ihm vor. „Übertreibt es nicht, Manik.“

Janek schlenderte neben Mara am oberen Rand des Steinbruchs entlang, schaute immer wieder hinunter. „Mann, das ist wirklich tief. Schon ganz dunkel, dabei kann man hier oben noch richtig deutlich sehen.“

„Aye, wohl noch ein, zwei Stunden.“ Sie setzte sich auf einen länglichen Felsbrocken, blinzelte in die untergehende, rot glühende Sonne und breitete die Karte sorgsam auf ihren Knien aus. Neugierig blickte Janek ihr über die Schulter. „Wo sind wir noch mal?“

„Hier.“ Mara tippte auf die Karte. „Und hier ist Samala Elis.“

Er grinste. „Das weiß ich.“

„Gut. Wie lange wirst du brauchen?“

„Ähm, wieso ich …“

„Wenn du jetzt losreitest? Dein Pferd ist noch recht kräftig, ansonsten nimmst du den Wallach.“

„Deinen …“ Verwirrt musterte er sie. „Mara, ich verstehe nicht, was du meinst. Ich soll nach Samala Elis reiten? Allein?“

„Ja. Wir brauchen Hilfe, die Leute können nicht mehr und die Zugtiere brechen auch bald zusammen. Also schicke ich jemanden, der Hilfe holt.“

„Mich?“

„Wen sonst, Bahadir?“

„Nee, der Priester fällt glatt …“ Er setzte sich neben sie, dichter als notwendig, doch Mara ließ ihn, und studierte die Karte. „Ich sehe keine geeigneten Wege.“

„Na ja, gibt wohl auch keine. Du könntest einfach nach Norden reiten, bis du auf den Nesbra triffst, und dann am Fluss entlang … Flussabwärts, etwa … knapp einen Tagesritt.“

Janek blickte sie gespannt an. „Oder?“

„Oder ich gebe dir die Richtung.“

„Du gibst mir … Und wie soll das gehen?“

„Steh auf.“

Mara stellte sich hinter Janek, legte die Hände auf seine Schultern und drehte ihn in die entsprechende Richtung, lehnte die Stirn an seinen Hinterkopf. „Steh einfach ganz entspannt, Janek, schließ die Augen. Und hör auf darüber nachzugrübeln, ob ich dich küsse.“

„Du … du bist in meinem Kopf?“

„In deinem Geist, sei still. Ich werde dir nicht wehtun.“ Sie konzentrierte sich auf die Richtung, das Gefühl. Die Richtung auf den Tempel von Samala Elis und somit auf die Stadt, nahm sacht die Hände von seinen Schultern.

„Ähm …“

„Probier‘ es aus.“

Gehorsam drehte Janek sich ein paarmal im Kreis, streckte den Arm Richtung Nordwesten. Den Zeigefinger genau Richtung Samala Elis, Mara nickte und küsste ihn. „Gut. Kannst du es jetzt auch noch?“

Janek drückte Mara fest an sich, küsste sie seinerseits. „Noch viel besser. Was brauchst du?“

„Wagen, sieben, acht, natürlich Zugtiere, noch zusätzliche Pferde. Und ein paar Leute, nicht nur, um die Wagen zu lenken. Verpflegung, trockene Decken, du weißt, was wir benötigen. Wende dich an seine Majestät … nein, besser gleich an die Königin.“

Zärtlich zupfte Janek an ihrem nassen Haar, streichelte ihre Wange. „Und ich soll jetzt gleich gehen, nicht die Nacht …“

„Deine Entscheidung. Ich verlasse mich auf dich, Janek.“

Janek seufzte und ließ sie los. „Wahrscheinlich wartet mein Pferd bereits gesattelt auf mich?“

„Meinst du?“

„Ah, du bist grausam. Küss mich wenigstens noch mal zum Abschied.“

Mara lächelte verhalten. „Wenn du zurück bist.“

Zwei Tage brauchte Janek bis Samala Elis und überquerte am Abend des zweiten Tages den Nesbra; Mara folgte ihm in Gedanken. Im Lager, einem sehr provisorischen Lager, hatten sich die Leute mehr schlecht als recht eingerichtet, zwei weitere Kinder bekamen fiebrigen Husten, eine alte Frau klagte über Schmerzen beim Atmen.

Mara wartete, zunehmend ungeduldig, und hockte, Mavi auf ihrem Schoß, einmal mehr auf dem Felsen und schaute zu, wie die Sonne das fünfte Mal unterging. Sie glaubte nicht ernsthaft, dass die Helfer es so schnell schaffen würden. Ein Mann auf einem guten Pferd konnte die Strecke in zwei Tagen zurücklegen, aber ein ganzer Tross mit Fuhrwerken … eher vier. Trotzdem wartete sie. Mavi war längst eingeschlafen, unter dem Reitmantel eng an sie gekuschelt, über ihnen blinkten die Sterne; es hatte den ganzen Tag nicht geregnet. Mara legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Sternen empor, spürte die Weite des Landes, das Land. Reik war hier geboren worden, auf den Ebenen, sie spürte auch ihn … weit östlich von ihr, seine verletzte Linke schmerzte, murmelte seinen Namen. Spürte das Nahen der Helfer, ihr Kommen, und lächelte, weckte Mavi jedoch noch nicht.

Keine Stunde später – Mara hatte Mavi inzwischen zu Bahadir, der bei Manik im Wagen weilte, gebracht – sah sie den Hilfstross dann. Ein merkwürdig beunruhigender Schatten, gleich einem großen Tier, das direkt auf sie zuhielt, sich nach kurzer Zeit teilte, aufteilte, als wollte es sie in die Zange nehmen. Mara lachte, sie hatte zu viel Zeit nur mit Gardisten und Soldaten verbracht, sie hätte genauso gut von umarmen sprechen können.

Janek tat dann genau das, kaum dass er vom Pferd gesprungen war, sehr, sehr stürmisch. „Und, zufrieden mit mir?“

„Sehr, das muss ich dir doch nicht sagen. Ich freue mich, ich habe nicht erwartet, dass du … ihr so schnell wieder hier seid.“

Ein großer, sehr großer Mann trat auf Mara zu – sie fühlte sich an Tyrgur erinnert, Janek ließ sie los – und reichte ihr die Hand. „Wir haben nicht geglaubt, dass der Junge ohne Probleme zu Euch zurück findet.“

Mara war froh, dass der Mann, der ihre Hand sacht in seiner Hand hielt, in der Dunkelheit ihr vor Verlegenheit gerötetes Gesicht nicht sehen konnte, und kämpfte um eine feste Stimme. „Zauberei.“

„Der Kleine kann … er ist …“ Er stammelte verwirrt, doch seine Stimme war wie dunkler Samt. Maras Knie schwach und zittrig. „Ich.“

„Ja … Ja, natürlich, ich …“ Der Mann schien nicht einmal daran zu denken, ihre Hand loszulassen, hatte sie stattdessen sogar unwillkürlich näher gezogen und sich zu mir gebeugt. „Ich weiß, wer Ihr … Soltan. Waffenschmied.“

„Ja …“ Und wenn er so weitermachte, wenn er nicht sofort ihre Hand losließ, würden sie hier und jetzt … „Wir sollten …“ Mara schluckte, strich sich mit der Linken das wirre Haar zurück. War erleichtert, enttäuscht, als Soltan ihre Hand freigab. „Von Osten her gelangt man in den Steinbruch, Janek kennt den Weg. Die Leute warten bereits ungeduldig.“

„Und Ihr?“

Irritiert schaute Mara zu ihm auf. „Wie bitte?“

„Das klang, als würdet Ihr … Kommt Ihr denn nicht mit? Hinunter ins Lager?“

Verhalten schüttelte Mara den Kopf, sie wusste, sie starrte Soltan schon wieder an, wollte ihn nur … Sie kannte den Mann nicht, konnte nicht einmal sein Gesicht erkennen, und doch konnte sie vor Erregung kaum atmen, ließ der bloße Gedanke an seine Berührung sie innerlich erzittern. Eilig wandte sie den Kopf ab, es war verrückt. „Doch, sicher.“

„Es sind neun.“

„Neun?“

„Neun Wagen. Falls Ihr Euch gefragt habt.“

Das hatte Mara nicht, sie fragte sich vielmehr, warum er, Soltan, noch immer bei ihr stand, sich nicht längst auf seinen Wagen geschwungen und den anderen angeschlossen hatte, die bereits die Grube umrundeten. „Gut.“

„Neun Wagen, fünf zusätzliche Gespanne und noch …“ Soltan stockte, griff nach ihrer Hand und lachte leise, rau. „Oder wollt Ihr gehen?“

„Wäre sicherer. Was wolltet Ihr sagen?“

„Noch ein paar Pferde, ich weiß nicht, ich hab’ vergessen … Sicherer?“

„Aye.“

Wieder lachte Soltan. Er stand viel zu dicht vor ihr – Mara hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden – und hob die andere Hand an ihr Gesicht. „Fjodar erschlägt mich, wenn ich dich anrühre.“

„Euch? Seid Ihr nicht ein bisschen …“

Er küsste sie sehr, sehr sanft, ein klein wenig neckend. „Nicht hier, hm? Oder hast du ’s so nötig?“

„Wieso ich, du hast doch …“ Soltan küsste sie erneut, wieder und wieder, weniger sanft, wilder, leidenschaftlicher, seine Finger machten sich an den Verschlüssen der Schutzweste zu schaffen und fanden tatsächlich einen Weg unter das Kettenhemd. Aber er stellte die Dinger ja auch her, war inzwischen ziemlich außer Atem. „Weiter?“

Mara legte nur die Arme um seinen Nacken. „Mach.“

Spät am nächsten Vormittag, die schlimmsten Schäden an den Fuhrwerken mussten erst beseitig werden, brachen sie auf. Die Flüchtlinge und ihre Habe wurden auf die zusätzlichen Wagen verteilt, so dass wirklich jeder fahren konnte. Einige, so wie Bogat und noch drei, vier Männer, zogen es allerdings vor zu reiten.

Meist ritt auch Mara, allein oder mit Mavi, an der Spitze des langen Zuges, nur hin und wieder fuhr sie bei Soltan mit, der den großen Proviantwagen lenkte. Mitunter schlief sie hinten zwischen den Vorräten.

Seine Anziehung wurde durch das Tageslicht nicht wesentlich gemindert, Mara erkannte sein Gesicht wieder. Sie war ihm in der Schmiede der Festung bereits begegnet; er hatte sich damals allerdings nicht vorgestellt und war ihr auch nicht aufgefallen.

Der Zug kam gut voran. Vier Tage später erreichten sie ohne weitere Zwischenfälle den Nesbra und setzten nach Samala Elis über.

* * *

Angeschlagen, das war der Eindruck, den Davian von Domallen bekam, als er dessen Quartier im oberen Geschoss eines heruntergekommenen Wirtshauses betrat, erschöpft und über alle Maßen angespannt. Ungewollt dachte er an die Waldkatze, die Mara gefüttert hatte, ein Raubtier, schwankend zwischen Flucht und Angriff. Domallen war in der Schlacht verletzt worden, wohl nicht allzu schwer, so aufrecht, wie er sich hielt, sein Gesicht bleich, dunkle Ringe unter den Augen, doch sein Blick war klar, unnachgiebig; er würde nicht fliehen, er nicht.

„Hauptmann, wie beurteilt Ihr die Lage in den nordöstlichen Provinzen Kalimatans?“

Für einen kurzen Moment irritiert, eher noch überrascht zog Davian die Augenbrauen zusammen. Domallen wusste, dass sie seit fast zehn Monaten keine Berichte mehr aus den Küstenprovinzen erhielten, jeglicher Kontakt war abgebrochen. Und er selbst war seit mehr als zwei Jahren nicht mehr dort gewesen. „Heikel. Direkt nach der Ermordung Te’ Sirubals und seiner Anhänger waren die Menschen in Lipaicha’an wie gelähmt, Maroks Leute sind äußerst brutal vorgegangen. Ich habe nur grobe Schätzungen, wie viele in den folgenden Monaten ermordet wurden. In der Provinz ist nie Ruhe eingekehrt.“

„Und heute?“

„Schwierig einzuschätzen.“

„Haben wir irgendwen?“

Vage zuckte er die Achseln, ahnte, worauf die Sache hinauslief. „Drei, vielleicht sogar vier verlässliche Kontakte. Falls sie noch leben.“

„Wüsstet Ihr, wo Ihr suchen müsstet?“

Er hatte ihr sein Wort gegeben. „Königliche Hoheit, ich …“

Domallens Miene wurde hart. „Was? Ihr seid verheiratet, Eure Frau erwartet ein Kind, wollt Ihr mir das erzählen, Gardist?!“

Davian fuhr nicht zusammen, konnte aber plötzlich verstehen, wie Mara sich manchmal fühlen musste. „Nein. Hauptmann. Bei zweien wüsste ich es, die anderen …“

„Dann solltet Ihr schnell sein.“ Müde rieb sich Domallen mit der verbundenen Linken über das Gesicht, deutete auf den Stuhl. „Setzt Euch. Davian, ich weiß … Verdammt, ich habe keine Wahl, ich habe nicht viele Möglichkeiten! Dieses Gerede, die Ostländer auf unser Terrain zu locken, ständige Überfälle, Hinterhalte und das alles, schön und gut, das ist eine Strategie, aber …“

„Es reicht nicht.“

„Vermutlich nicht, nein. Er hat jetzt an die siebzigtausend Mann in Mandura, und selbst Gènaija, für die Krieg bislang eine Art Gedankenspiel war, fragte mich, ob ich sicher sein könnte, dass das alle wären.“

Er unterdrückte sein Grinsen. „Habt Ihr ihr geantwortet?“

„Nein. Manchmal ist sie wie ein Kind, grausam.“ Domallen lachte rau auf. „Aber was erzähle ich Euch das, Ihr kennt Eure Frau. Sie wird mich dafür hassen.“

Vage nickte Davian. „Möglich. Anfangs ganz sicher.“

Domallen musterte ihn, ging jedoch nicht auf seine Worte ein. „Es ist spät. Habt Ihr schon gegessen?“

Rasch erhob sich Davian. „Bin noch nicht dazu gekommen, ich …“

„Nein, bleibt ruhig. Sitzen.“ Domallen lächelte unterdrückt und stand auf, trat zur Tür, um mit einem der Gardisten auf dem Flur zu reden. „Mitunter … schätze ich Gesellschaft beim Essen.“

„Wenn ’s die richtige ist.“

„Das versteht sich von selbst. Auch ein Glas Branntwein?“

„Einen kleinen Schluck. Hab ’ne lange Nacht vor mir.“

Domallen nickte nur und schenkte ein, einen Finger breit, reichte ihm das Glas. „Ich werde ihr nichts sagen können, keinen Hinweis, keine Nachricht, nichts, es …“

„Das ist mir klar.“ Zumindest würde Mara wissen, dass er lebte, auch wenn das nur ein schwacher Trost war. „Ich möchte nicht an Eurer Stelle sein, wenn sie es erfährt, mein König.“

„Nee.“ Kalt grinsend hob Domallen sein Glas. „Auf die Zukunft, Hauptmann.“

„Auf die Zukunft. Wozu eine Waffe schmieden, wenn man sie nicht zieht.“

Wieder musterte Domallen ihn eindringlich, bevor er trank. „Ihr seid ein harter Mann, Davian.“

Seine Antwort bestand aus einem Achselzucken, dann nahm er einen Schluck, genoss das Brennen, die Hitze, die sich in Kehle, Hals und Magen ausbreitete. Stürzte den Rest in eins hinunter und bemerkte Domallens fast schon lauernden Blick. Spürte die steigende Spannung, genoss sie. „Wird gesagt.“

Er rührte sich nicht, beobachtete Domallen ungeniert; es war dessen Zug, er hatte ihn aufgefordert zu bleiben, und kaum aus bloßer Höflichkeit. Doch Domallen schwieg grimmig, bis das Essen gebracht wurde und die beiden Gardisten sich zurückgezogen hatten. „Gibt nicht viele Themen, über die wir gefahrlos reden können.“

„Gefahrlos?“

Domallen hob andeutungsweise die Schultern. „Ihr droht mich doch zusammenzuschlagen, wenn ich nur ihren Namen falsch betone.“

„Kaum. Ihr seid mein König.“

„Euer König? Ich glaubte immer, mein …“

„Die Zeiten ändern sich. Ihr seid der Winterkönig, Domallen, habt erfolgreich die erste Schlacht des Krieges geschlagen.“

„Kein verweichlichter kleiner Schisser mehr?“

Amüsiert schüttelte Davian den Kopf und setzte sich wieder. „Das habe ich gesagt?“

„Ist schon lange her.“

„Etwa damals auf Jons Hof?“ Er verzog das Gesicht. „Nun, die Zeiten haben sich tatsächlich geändert.“

„Ja?“

Davian lehnte sich bequem im Sessel zurück und streckte die Beine aus. „Ihr seid mächtig gewachsen. Hoheit. Ein in jeder Hinsicht würdiger Winterkönig.“

„Ach ja?“ Mit wilder Miene wandte sich Domallen zu ihm um. „Warum habe ich dann …“

„Weil Ihr zu viel denkt.“ Abrupt sprang Davian auf, was hatte er noch zu verlieren, legte ihm fest die Hand in den Nacken und küsste ihn unbeherrscht. „Überlegt es Euch, Domallen. Wer weiß, ob Ihr noch mal die Gelegenheit bekommt.“

„Ihr seid ja …“

Davian grinste kalt, lockerte aber seinen Griff nicht. „So wird gesagt.“

(368. Tag + 6; Anfang Monat Frühjahrstagundnachtgleiche)

nur Tod und Verderben

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