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Kapitel 1:

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Die letzten Jahre waren furchtbar gewesen. Josie war müde und sie fühlte sich krank. Am liebsten würde sie sich irgendwo verkriechen. Sie empfand ihre Familie als einen Zufluchtsort, der fast surreal war. Es gab sie und es gab die Menschen da draußen, die sich zum Teil Schreckliches antaten. Die Zeit als Kriegsberichterstatterin hatte sie als aufregend empfunden. Ein großes Abenteuer, bei dem sie gleichzeitig Gutes tat. Doch dann wurde sie mit ihrem Kollegen John Bearle bei ihrem letzten Einsatz in Afghanistan mit dem Helikopter abgeschossen. Sie überlebten beide unverletzt. Doch sie wurden gefangen genommen und getrennt voneinander in Zellen eingesperrt. Sie hörte die Schreie der Folteropfer und ihr wurde ständig gedroht, vergewaltigt zu werden. Die Zelle war kaum größer als eine Garage und war mit vierzig Frauen, mehr als überfüllt.

Nachts wurden oftmals Frauen aus der Zelle geholt. Sie flehten, weinten und bettelten, doch niemand half oder erhörte sie. Manche sah sie nie wieder, manche wurden Stunden später verletzt und missbraucht einfach in die Zelle zurückgebracht.

Seit dieser Zeit hatte Josie Schlafprobleme. Ihre Arbeit als Kriegsberichterstatterin hatte sie immer gut und gerne getan, doch jetzt erlebte sie zum ersten Mal das Grauen und die Gewalt am eigenen Leib. Das war etwas ganz anderes und es machte ihr Angst. Als sie später freikam und kurz darauf ihren Mann James kennenlernte, war sie froh, das Grauen gegen eine zumindest vermeintliche heile Welt einzutauschen. Sie bekam zwei Kinder und waren eine glückliche Familie. Bis sie nach Kairo zogen, wo sie wieder anfing als Journalistin zu arbeiten und Sarah schwer krank wurde. Ihre heile Welt stand Kopf und das Grauen und die Angst kehrten zurück in ihr Leben. Ihre Versuche ein ruhigeres Leben zu führen, waren bislang gescheitert. Alle Aufträge, die sie annahm, enthielten hoch brisantes Material und sie konnte nicht widerstehen. Sie musste das Unrecht ans Licht bringen und darüber berichten. Sie schaffte es zwar glücklicherweise immer unbeschadet aus den Geschichten herauszukommen und Gott sei Dank war ihrer Familie bisher nie etwas geschehen. Doch es gab Menschen, die sie mochte, wie das Kindermädchen Lucy und die Frau, die sie in Nigeria kennengelernt hatte, deren Kinder entführt wurden. Das alles ging ihr sehr nah und hinterließ dicke Narben in ihrer Seele.

Seit sie den Fall in Nigeria gelöst hatte, standen sie und ihre Familie unter Polizeischutz. Sie verließ das Haus fast nie und hatte seitdem 5 Kilo abgenommen. Sie litt unter Schlafstörungen und Angstzuständen. Das Grauen hatte Einzug gehalten in den tiefsten Winkel ihres Ichs. Sie fühlte sich nicht mehr sicher und wollte keine fremden Menschen in ihrer Nähe. James machte sich Sorgen um sie und beschloss einen Kollegen um Rat zu fragen. Er dachte dabei an eine Gesprächstherapie. Er kannte nicht alle Einzelheiten und schrecklichen Erlebnisse, die sie bei ihren Recherchen erlebt haben musste, Josie sprach nicht gern darüber. Aber ihre Schreie nachts, wenn sie träumte, gaben ihm einen Eindruck von dem Schrecken der Gräueltaten. Und er hatte Chioma ja gesehen, die Frau, die in Nigeria vergewaltigt und misshandelt worden war. Er hatte sie schließlich im Krankenhaus operiert. Es war auch für ihn unfassbar, dass Menschen sich diese grausamen Dinge gegenseitig antaten.

Als er abends nach Hause kam, hatte Josie zu seiner Überraschung gekocht.

Die ganze Familie versammelte sich am Tisch, auch Lucy, das Kindermädchen war dabei.

Die Kinder redeten aufgeregt durcheinander. Sie hatten schon lange keinen normalen Familienabend miteinander verbracht. Lucy und Josie waren meist in ihren Zimmern, lagen bei zugezogenen Vorhängen auf ihren Betten oder hörten Musik.

Heute war es anders. Josie verteilte das Essen auf die Teller und sah dann jeden Einzelnen ernst an.

„Ich möchte Euch gerne etwas sagen,“ sagte sie und klang irgendwie feierlich dabei.

„Ich habe lange nachgedacht und versucht all die schrecklichen Dinge zu vergessen, die wir, dabei sah sie Lucy liebevoll an, hier erlebt haben. Ich glaube, es ist an der Zeit, ein neues, fröhlicheres Kapitel aufzuschlagen und von hier wegzugehen.“ Sie setzte sich langsam und sah dabei von einem zum anderen. „Was sagt ihr dazu?“

Sarah und Philip sahen sich an und fingen fast gleichzeitig an zu reden. „Aber unser Schuljahr, Mama, wir haben uns hier erst gerade eingelebt.

Und mitten im Schuljahr umzuziehen, ich weiß nicht…“

Dann sah Philip seine Mutter aufmerksam an.

„Ja, wir sollten hier weggehen. Aber wohin möchtest Du denn, Mama? Nicht zurück nach Kairo, hoffe ich. Ich hasse die Lehrer dort.“ Er verdrehte die Augen und Josie musste lachen.

„Was haltet ihr von Europa? Frankreich oder die Niederlande?“

„Nein, nicht Frankreich, dazu müssten wir dann Französischunterricht nehmen. Und Niederlande, was sprechen die denn da?“

James, der froh war, dass Josie aus ihrer Lethargie erwacht war, unterstützte leise, indem er sagte: „Na wir könnten ja auch nach England gehen. Dann hättet ihr kein Sprachproblem und ich auch nicht. Die bezahlen gut in England. Das wäre doch was!“ Er sah Josie fragend an.

Sie lächelte ihn dankbar an. England. Ja, was für eine wunderbare Idee. Dort gab es wunderschöne Landschaften und weniger Gräueltaten. Es hörte sich fast himmlisch an.

„Was meinst Du, Lucy? Möchtest Du mit uns nach England kommen?“ Lucy nickte langsam.

„Ja, sehr gerne. Ein Neuanfang. Ich glaube, dass ist es, was wir alle jetzt brauchen.“

Es wurde dann noch ein fröhlicher und lauter Abend. Pläne wurden geschmiedet. James überlegte laut, ob er sich in einer Landarztpraxis bewerben sollte oder doch lieber wieder in einem Krankenhaus. Josie drückte lächelnd seine Hand. Die Aussicht auf eine Zukunft in einem weniger Gewalt gesteuerten Land zu leben war wie ein Befreiungsschlag für alle. Es waren noch drei Monate, bis das Schuljahr um war. Eine gute Zeitspanne, um den Umzug zu planen und einen neuen Job für James und sie zu finden. Vielleicht würde sie auch erstmal nicht arbeiten und sich mit Gartenarbeit oder Sport ablenken. Sie hatte auf jeden Fall das Gefühl erst einmal Kraft schöpfen zu müssen, bevor sie wieder hinaus in die Welt wollte. Vielleicht gab es ja auch einen Job bei einer lokalen Zeitschrift, den sie von zu Hause aus erledigen konnte. Die nächsten Wochen verbrachte sie damit im Internet zu stöbern und eine schöne Gegend für ihr neues Zuhause zu finden. Jeden Abend kamen sie zusammen und besprachen, was Josie in Erfahrung gebracht hatte. Die Kinder wollten nicht zu ländlich wohnen, James war sich immer noch nicht sicher, ob er im Krankenhaus oder einer Landarztpraxis arbeiten wollte und Lucy hielt sich aus allem raus. Sie war still und machte einen nachdenklichen Eindruck.

Josie hatte ein Haus in Eastbourne gefunden, welches es ihr richtig angetan hatte. Es stand in der Nähe der Kalkklippe an der Küste in Sussex. Gerade die Aussicht, dort am Meer spazieren zu gehen, sich den Wind um die Nase wehen und den Blick über die Weite des Ozeans schweifen zu lassen, kam ihr traumhaft schön vor. Am Abend zeigte sie den Anderen Bilder vom Haus und der Umgebung. Auch eine Internationale Schule war in der Nähe. Alle bemerkten ihre Begeisterung für die Klippe am Beachy Head und das gemütlich wirkende, geräumige Haus mit großem Garten. Sie alle wünschten sich ein leichteres und fröhliches Leben, so stimmten sie zu, dass Josie den Makler kontaktieren sollte. Als Josie am späten Abend aus dem Bad kam, lag James mit dem Laptop auf dem Schoß im Bett und suchte Jobangebote in Eastbourne und Umgebung. Er lächelte sie an und legte den Arm um sie, als sie sich an ihn kuschelte. „Ich wünsche mir wirklich eine Auszeit von den Gräueltaten in dieser Welt. Ich möchte Rosen züchten und lange Spaziergänge am Meer unternehmen. Ich möchte die Bilder in meinem Kopf vertreiben und eine gute Mutter sein. Ich habe so viel verpasst. Sarah und Philip sind schon so groß. Weißt Du noch, als Philip gerade anfing zu laufen?“ sagte Josie leise.

James lachte leise. „Ja, ich dachte schon er wird nie laufen. Er war wirklich spät dran, im Vergleich zu Sarah. Aber nun ist er der Beschützer seiner Schwester. Es hat auch sein Gutes gehabt, dass Sarah so krank geworden ist. Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass sie lebt und dass wir alle eine so wundervolle Familie sind. Ihr seid das Kostbarste, was ich habe.“ Er küsste Josie sanft und schob das Laptop weg.

Josie drängt sich an ihn, saugte seine Nähe und Liebe auf, wie eine Ausgehungerte. Sie liebten sich langsam und sanft und schliefen dann eng umschlungen ein.

Am nächsten Morgen war Lucy schon in der Küche und bereitete das Frühstück für alle. Josie lächelte sie an und bemerkte, wie schlecht Lucy aussah. Sie hatte tiefe graue Schatten unter den Augen, ihre Wangen waren eingefallen und ihr Blick war traurig und dunkel.

Josie legte die Hand auf ihre Schulter. „Lucy, wie geht es Dir? Hast Du schlecht geschlafen? Oder noch Alpträume?“

Lucy wand sich unter der Berührung. Eine Träne lief ihr über die Wange. „Kann ich gleich mit Dir reden? Ich muss Dir was sagen!“

Josie sah sie erschrocken an. Ihr wurde mit einem Mal bewusst, dass sie sich nur mit sich selbst beschäftigt hatte. Dabei musste es Lucy noch viel schlimmer gehen, schließlich war sie in den Fängen der Boko Haram gewesen. Und war diesem dreckigen Kerl Tage lang hilflos ausgeliefert. Sie wollte Lucy in den Arm nehmen, doch diese wich zurück. Sie konnte Berührungen noch nicht ertragen, auch wenn sie von Josie kamen. „Natürlich können wir reden. Gleich, wenn die Anderen weg sind?“ Lucy nickte und wischte sich die Träne weg, danach ging sie in ihr Zimmer. Anscheinend wollte sie nicht, dass die Anderen ihre Traurigkeit bemerkten.

Josie klopfte leise an ihre Zimmertür, nachdem sie James und die Kinder verabschiedet hatte.

„Ja bitte?“

„Darf ich hereinkommen?“

„Ja, natürlich. Komm rein Josie.“

„Was ist denn, Lucy? Möchtest Du nicht nach England, ist es das?“

Lucy schüttelte den Kopf. Sie saß am Schreibtisch und drehte sich langsam zu Josie um. „Setz Dich doch,“ sie deutete auf das frisch gemachte Bett.

„Ich habe meine Periode nicht bekommen. Seit drei Monaten nicht. Ich habe immer gehofft, es ist nur wegen dem Stress, aber jetzt ist mir morgens immer übel. Ich glaube, ich bin schwanger. Ich wollte es nur nicht wahrhaben. Ich habe es verdrängt und noch keinen Test gemacht. Ich habe mich nicht getraut. Josie, kannst Du mit mir in die Apotheke fahren und einen Test kaufen und bei mir bleiben? Ich habe solche Angst. Ein Kind von diesem Schwein wächst in meinem Bauch. Was soll ich nur tun?“ Sie fing an bitterlich zu weinen. In Josies Kopf drehte sich alles. Schwanger, von diesem Fiesling? „Ok, Lucy. Willst Du mit zur Apotheke, oder soll ich schnell allein fahren?

“Nein, ich komme mit. „Gemeinsam gingen sie zum Wagen und fuhren zur Apotheke. Es war ein heißer Tag, der Himmel war tiefblau und man hätte sich auf einen Pool-Tag freuen könne, doch die beiden Frauen saßen ohne zu reden im Auto und nahmen von dem sonnigen Wetter und der Umgebung nichts wahr. Sie kauften gleich zwei Test von unterschiedlichen Herstellern.

Dann fuhren sie den gleichen Weg wieder schweigend zurück. Lucy hielt die Schwangerschaftstests so fest in der Hand, dass der Karton ganz eingedrückt war und ihre Knöchel weiß hervortraten.

Josie legte eine Hand beruhigend auf ihren Oberschenkel und tätschelte ihn sanft und sagte:“ „Warum machst Du ihn nicht schon mal auf und liest die Gebrauchsanweisung?“

Josie wollte sie ablenken, was natürlich ein schwacher Versuch war.

Doch sie kamen ja nicht umhin, sie mussten sich mit der Situation auseinandersetzen und sehen, was das Resultat war.

Lucy verschwand gleich nach ihrer Ankunft im Bad. Josie kochte einen Kaffee für sie beide und merkte, wie ihre Hände zitterten. Es schien endlos zu dauern, bis Lucy wieder aus dem Bad kam. Die Test-Sticks in der Hand, ganz bleich um die Nase.

Die Journalistin nahm ihr die Plastikstäbe aus der Hand. Schwanger. Beide Tests zeigten dasselbe Resultat.

Lucy begann zu weinen. Josie nahm sie in den Arm, auch wenn sie wusste, dass es eine große

Überwindung für Lucy war, das zuzulassen.

Josies Magen krampfte sich zusammen. Verdammt. Schwanger, von diesem Ungeheuer. Wie sollte Lucy das aushalten. Abtreiben, oder das Kind austragen? Jede Entscheidung war eine deprimierende.

„Hast Du Dir schon Gedanken gemacht, Lucy? Was Du tun willst? Es behalten oder abtreiben oder es austragen und zur Adoption freigeben?“

Lucy setzte sich langsam aufs Sofa.

„Vielleicht ist es schon zu spät und ich kann gar nicht mehr abtreiben,“ sagte sie leise.

„Soweit ich weiß, gelten in solchen Fällen andere Regeln, Lucy. Aber vielleicht könntest Du auch einem kinderlosen Ehepaar helfen und das Kind zur Adoption freigeben. Das Würmchen kann ja nichts dafür und Du fühlst Dich vielleicht besser, als wenn Du es abtreiben lässt.“ Josie sah sie aufmunternd an und versuchte zu lächeln was ihr aber nicht wirklich gelang.

Lucy schaute sowieso auf den Boden und kriegte den kläglichen Versuch nicht mit.

„Ich denk drüber nach!

Manchmal will ich, dass dieses Etwas aus mir verschwindet und ich nicht immer an diese scheußliche Zeit erinnert werde, aber dann tröstet es mich auch, dass da etwas in mir heranwächst. Aber behalten will ich es glaube ich nicht, Josie. Ich kann es nicht. Ich würde jeden Tag nach einer Ähnlichkeit mit dem General suchen und wenn ich etwas entdecken würde, würde ich es nur hassen. Das wäre ungerecht.“ Lucy sah Josie traurig an.

Josie legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du weißt, egal, wie Du Dich entscheidest, ich stehe hinter Dir! Und James auch. Solltest Du Dich für eine Abtreibung entscheiden, James wird Dir den Besten Arzt besorgen, den er kennt, glaube mir. Und niemand wird blöde Fragen stellen, das verspreche ich Dir!“

Josie machte eine kurze Pause. Dann sagte sie:“ Vielleicht sagst Du Philip und Sarah erstmal nichts., bis Du dich für eine Lösung entschieden hast, in Ordnung?“

Lucy nickte und sah wieder zu Boden. Dann sprach sie mit leiser, unsicherer Stimme: “Und wenn ich mich entscheide, das Kind zu behalten?

Müsste ich dann gehen, oder darf ich bei Euch bleiben?“ Sie sah Josie hoffnungsvoll an und

Tränen rannen über ihre Wangen.

„Natürlich darfst Du bleiben, Lucy, was für eine Frage. Wir sind doch eine Familie!“ Sie gab Lucy einen Nasenstüber und beide lachten erleichtert.

„Komm, lass uns was kochen für heute Abend, dann freuen sich James und die Kinder.“

Sie gingen in die Küche und bereiteten Sarahs und Philips Lieblingsessen vor. Spaghetti Bolognese.

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