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2. Sklaverei und europäische Identität – eine verdrängte Geschichte

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Sklaverei als Bestandteil europäischer Geschichte

Bis heute denkt man bei Sklaverei meist an die Antike oder an Amerika, an die Indios und den transatlantischen Sklavenhandel. Bis heute findet sich in den geschichtlichen Überblicksdarstellungen zur Frühen Neuzeit kaum ein Hinweis darauf, dass Sklaverei auch in dieser Epoche noch zur Realität christlicher Gesellschaften im Mittelmeerraum gehörte – und damit auch zur europäischen Geschichte.

Das ist kein Zufall. Schon die Zeitgenossen selbst vermieden eine Identifikation Europas mit Sklaverei. Vielmehr wurden der Orient und seine muslimischen Sklavenhalter dem zivilisierten Abendland gegenübergestellt. So spielt die Sklaverei durchaus eine Rolle in der frühneuzeitlichen Konstruktion einer europäischen Identität, die in Abgrenzung zum ‚anderen‘ entwickelt wird.

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Identitäten

Der Begriff der Identität hat im Bereich der Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren Konjunktur. Er umfasst sowohl den Bereich biographisch personaler Identität als auch unterschiedliche Formen kollektiver Identitäten. Bei kollektiven Identitäten unterscheidet man Geschlechteridentität, ethnische Identität und nationale Identität. Es geht um Wir-Gruppen, die nach Benedict Anderson als vorgestellte Gemeinschaften‘ (imagined communities) aufzufassen sind. Bei der Frage nach einer europäischen Identität geht es um das Konstrukt einer vorgestellten Gemeinschaft Europa, das wiederum kulturelle Werte darstellt und erzeugt. Identität inszeniert sich zwar selbst als etwas gesetztes, gewissermaßen Wesenhaftes, ist in Wirklichkeit jedoch Teil einer sozialen und politischen Praxis.

Europäischen Identität und Sklaverei

Was lässt sich nun über den Zusammenhang von europäischer Identität und Sklaverei sagen? Zahlreiche Studien postulieren heute die Entstehung Europas im Mittelalter. Dabei geht es bei ‚Europa‘ um das, was Max Weber als ‚okzidentalen Sonderweg‘ bezeichnet hat. Es wird also die Herausbildung einer spezifischen okzidentalen Kultur analysiert, die dann heute als europäische‘ zu bezeichnen ist. Häufig wird dabei die muslimische Kultur einer europäischen vergleichend gegenübergestellt. Im Rahmen einer Identitätsdebatte ist nun von Interesse, welche Bedeutung der Islam insgesamt für die Entwicklung Europas als imagined community hatte. In dieser Hinsicht verlagert sich die Debatte rasch vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. So stellte Josef Köstelbauer fest: „Es war aber erst das Osmanische Reich, das als bedrohlicher Antagonist der Christenheit den frühneuzeitlichen Europadiskurs mitprägte“ (Köstelbauer 2004, 45). Am Beginn dieser Entwicklung stand nun das Trauma der Eroberung Konstantinopels 1453 durch Mehmet II. (1451–1481). Im Gefolge dieses Ereignisses sei es dann zu einer deutlichen Konjunktur des Europabegriffes gekommen. Erst jetzt könne eine Verschmelzung der Begriffe ‚Europa‘ und ‚Christenheit‘ angesichts der äußeren Gefahr festgestellt werden. Europa sei als eine von Heiden und Ungläubigen bedrohte christliche Festung gesehen worden. Diese Perspektive habe sich bis zum Ende der ‚Türkengefahr‘ im ausgehenden 17. Jahrhundert gehalten.


Abb. 1: Der Mittelmeerraum im 17. Jhr.

Korsarenkrieg

Dass die Sklaverei auch im frühneuzeitlichen Europa noch eine Realität darstellte, hängt besonders mit dem sogenannten ‚Korsarenkrieg‘ zwischen der muslimischen und christlichen Welt des Mittelmeerraumes zusammen. Dieser Krieg war nicht in erster Linie durch Kriegserklärungen, Schlachten und Friedensschlüsse gekennzeichnet, sondern durch eine Taktik der Nadelstiche. Es war eine Art permanenter Krieg, der heiß und kalt geführt werden konnte. Kapereien konnten vor diesem Hintergrund als Verteidigungsmaßnahme gegen den Glaubensfeind legitimiert werden, kamen aber auch in illegitimer Form als Piratenaktionen vor (zu den Begriffen siehe I.3.2). Es gab sowohl muslimische als auch christliche Korsaren und Piraten, die die Schifffahrt und die Küstenregionen permanent bedrohten. Auf beiden Seiten gerieten Menschen dadurch in Sklaverei. Beide Seiten kannten auch die Praxis des Loskaufs. Der Sklave wurde einerseits als Beute und andererseits als Loskaufobjekt zum Bestandteil eines interkulturellen und interreligiösen Wirtschaftskreislaufes. Es entstand ein ‚Warenkreislauf‘ gekaperter und losgekaufter Sklaven. Dieser Kreislauf funktionierte idealtypisch nach dem klassischen Freund-Feind-Schema eines Religionskrieges: Christliche Korsaren kaperten muslimische Schiffe und umgekehrt. Beide Seiten versklavten die Gefangenen dieser Kaperzüge. Beide Seiten bemühten sich auf ihre Weise, ihre Glaubensbrüder wieder freizukaufen. Juden als jeweilige Minderheit konnten auf beiden Seiten sowohl Profiteure als auch Opfer dieses Systems sein. Beim Loskauf der Sklaven waren allerdings die christlichen Staaten über darauf spezialisierte Orden wie die Mercedarier und Trinitarier oder auch über Bruderschaften besser organisiert. Das führte zu einer Asymmetrie in diesem Warenkreislauf: Die christlichen Sklaven wurden weniger als Arbeitskräfte gebraucht, sondern wurden zunehmend in großer Anzahl wegen des zu erwartenden Lösegelds für muslimische Korsaren attraktiv. Eine nicht-intendierte Folge gesteigerter Loskaufbemühungen war demnach die größere Nachfrage an christlichen Sklaven und somit eine Intensivierung der Korsarentätigkeit. Die Barbareskenstaaten lebten zunehmend von diesem Geschäft. Der Loskauf trug somit auch zu einer Dynamisierung dieses Warenkreislaufes bei.

Reziprozität der christlichen und muslimischen Sklaverei

Die Sklaverei im Mittelmeerraum kann als reziprokes Verhältnis zwischen Muslimen und Christen beschrieben werden; auf beiden Seiten gab es Sklavenhalter und Sklaven. Diesem Befund diametral gegenüber steht die zeitgenössische europäische Wahrnehmung der Sklaverei in der Frühen Neuzeit bzw. die zeitgenössische Propaganda. Hier erscheint der Muslim einseitig als barbarischer Sklavenhalter und der Christ einseitig als unter diesem leidenden Sklaven. Diese Propaganda hing vor allem mit dem Bemühen zusammen, christliche Sklaven loszukaufen.

Christliche Loskaufpropaganda

Die christliche Loskaufpropaganda zielte auf das Mitleid ihrer Zuhörer ab, um diese zu Spenden für den Loskauf zu motivieren. Dementsprechend verwundert es nicht, dass es vor allem die Schauergeschichten waren, die in das kollektive europäische Gedächtnis über muslimische Sklavenhalter eingingen. Unterstützt wurden sie durch Briefe der Sklaven selbst, die aus den Sklavengefängnissen Nordafrikas oder des Osmanischen Reiches in die Heimatländer gelangten. Da man aus heutiger Sicht nicht sicher entscheiden kann, was unter diesen mit Topoi durchsetzten Briefen tatsächlich auf eigene Erfahrungen zurückging und was an Übertreibungen oder Klischees transportiert wurde zum Nutzen des Loskaufs – der wiederum auch im Interesse der Sklavenhalter lag –, sind diese Egodokumente nur sehr vorsichtig zu interpretieren.

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Loskäufer in der Frühen Neuzeit

Die wichtigsten Loskauforden waren die im 12. Jahrhundert gegründeten Trinitarier und die Mercedarier, die beide auch in der Frühen Neuzeit wirkten. Im 16. Jahrhundert wurden in vielen italienischen Staaten Bruderschaften zum Loskauf der eigenen Untertanen gegründet oder – wie im Fall der römischen Erzbruderschaft der Gonfalone – zusätzlich mit diesem frommen Werk beauftragt. Daneben entwickelten sich Selbsthilfemaßnahmen, wie das Beispiel der Sklavenkassen und der Seeversicherungen in den protestantischen Hansestädten Lübeck und Hamburg für ihre Matrosen zeigt. Loskauf stellte in der Frühen Neuzeit keine konfessionelle Besonderheit dar. Loskaufbruderschaften gab es auch bei Juden. Bei den Muslimen bildeten sich zwar weder staatliche noch religiöse Loskauforganisationen heraus, aber auch hier gab es entsprechende Bemühungen über Freunde und Verwandte des betroffenen muslimischen Sklaven und über die Vermittlung von Händlern. Vor allem in den Grenzgebieten betätigten sich zahlreiche Loskaufagenten jeglicher Couleur, die professionell ihr Geschäft mit Loskäufen von Menschen unterschiedlichen Glaubens machten. Sogar Korsaren konnten einerseits als Menschenfänger und andererseits als Loskäufer agieren (vgl. II. 1.4).

Das Bild des grausamen muslimischen Sklavenhalters

Den Kontrapunkt zum frommen christlichen Sklavenloskäufer bildet der grausame muslimische Sklavenhalter, der seine christlichen Sklaven auf mannigfache Weise quält, misshandelt und tötet. Dieses Bild wurde in Predigten und Büchern von Loskauforganisationen verbreitet, um den Verdienstcharakter des eigenen Werks herauszustellen, das eigene gesellschaftliche Prestige zu stärken sowie um mit dieser Propaganda Mitleid zu erregen und so die Spendenbereitschaft zu erhöhen. Zum einen ist es Teil eines Wettbewerbsdiskurses christlicher Orden und Bruderschaften, die ihre tätigen Werke der Barmherzigkeit in besonders leuchtenden Farben auszumalen suchten, und zum anderen ist es Teil eines Barbareidiskurses, in dem Muslime als unzivilisiert dargestellt wurden – ganz im Gegensatz zu den Christen.

Pierre Dan

Ein prominentes Beispiel einer solchen mitleiderregenden Propaganda ist das Buch des französischen Trinitariers Pierre Dan (ca. 1580–1649), der von 1631 bis 1635 in Algier 42 christliche Sklaven losgekauft hatte. Kaum zurück, schrieb er ein Buch über die Geschichte der Barbareskenstaaten und ihre Korsaren (Histoire de Barbarie et de ses corsaires).

Auf dem Titelbild dieses Buches (Abb. 1) sind drei Personengruppen zu sehen: die Loskäufer (in diesem Fall Trinitarier, links), die muslimischen Sklavenhalter (rechts) und dahinter die geschlagenen armen christlichen Sklaven. Die Botschaft ist eindeutig: Die Muslime gehen grausam mit den Sklaven um. Im Buch werden sie als Inbegriff der ‚Barbarei‘ geschildert. Die Loskäufer sind ihre einzige Hoffnung. Wer Mitleid hat, soll diesen deshalb ein Almosen geben.

Sklaven als Märtyrer

Noch deutlicher wird die Propaganda in einer illustrierenden Bilderserie im Buch (Abb. 2). Der Betrachter oder die Betrachterin sieht eine Reihe von Folter- und Tötungsmöglichkeiten, die die muslimischen Sklavenhalter an den armen christlichen Sklaven exerzieren. Diese Darstellung erinnert an Märtyrergeschichten. Auch christliche Märtyrer wurden verbrannt, gekreuzigt, gehäutet, geschlagen, gesteinigt, zu Tode geschleift etc. Die armen christlichen Sklaven nahmen in ihrem Leiden quasi märtyrerähnliche Züge an. Diese Assoziation setzt allerdings voraus, dass die Sklaven für ihren Glauben litten. In der Tat zeigte sich die Loskaufpropaganda besonders darüber besorgt, dass die christlichen Sklaven vom Glauben abfallen und ihr Seelenheil damit verlieren könnten. Diese Gefahr wurde immer wieder deutlich heraufbeschworen. Dem barbarischen muslimischen Sklavenhalter wird also der arme christliche Sklave gegenübergestellt, der mit seinem Leiden noch ein christliches Bekenntnis ablegt und das Mitleid der Mitchristen erregt, die ihn um der Liebe Christi willen nicht im Stich lassen durften.


Abb. 2: Titelbild von Pierre Dan, Histoire de Barbarie et de ses corsaires, Paris 1637.

Barbareidiskurs

Auch wenn katholische Loskauforden in der Propaganda besonders aktiv waren, so war diese Loskaufpropaganda doch ein Bestandteil eines größeren überkonfessionellen Barbareidiskurses, an dem sich auch Protestanten beteiligten (vgl. II.1.4.2). Mit Jürgen Osterhammel ist für die Frühe Neuzeit festzuhalten, dass die zentrale Bedeutung des Begriffs ‚Barbarei‘ für die Bezeichnung des Fremden als Gegenbegriff zu Zivilisiertheit diente. Der Übergang von der Barbarei zur Zivilisation konnte sowohl als bewusste Stiftung als auch als allmählicher Prozess im Kontext von Stadientheorien gedacht werden. Zusammen mit dem Despotiediskurs (also der Befreiung der Untertanen von ihrem despotischen Herrscher) mündete der Barbareidiskurs dann später in napoleonischer Zeit in die Rechtfertigung eines Befreiungsimperialismus (vgl. Osterhammel 1998). Ob auch die frühneuzeitliche Loskaufpropaganda zur Legitimation kriegerischer Unternehmungen herangezogen wurde, ist bisher unklar und bedarf weiterer Forschungen.


Abb. 3: Das Leiden der christlichen Sklaven unter muslimischer Herrschaft (aus: Pierre Dan, Histoire de Barbarie, S. 416)

Einseitige Wahrnehmung

Der Befund der einseitigen Wahrnehmung der ‚Sklaverei der anderen‘ gehört offenbar zu dem bis heute nachwirkenden Bild von Europa als ‚slavefree zone‘. Das Fehlen von zeitgenössischen Einwänden hat auch etwas damit zu tun, dass es in Europa keine mit Amerika vergleichbare Abolitionsbewegung in der Frühen Neuzeit gegeben hat, die sich grundsätzlich für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt hätte. Auch die englische Abolitionsbewegung hatte nur die Zustände des transatlantischen Sklavenhandels und die Plantagensklaverei in Amerika im Visier. Die muslimischen Galeerensklaven waren rechtlich gesehen Kriegsgefangene und wurden als solche offenbar als legitim angesehen.

Amerika – Europa

Im Zuge der Abschaffung der Sklaverei in Amerika im Laufe des 19. Jahrhunderts kam allerdings auch in den Mittelmeerländern eine Reflexion über Sklaverei auf. Diese war bereits im 18. Jahrhundert weitgehend abgeschafft worden – im Kirchenstaat offiziell erst 1830. Nach dem Afrikanisten Salvatore Bono hat die Debatte über die Versklavung der Schwarzen bei den Historikern des 19. Jahrhunderts dazu geführt, die europäischen Formen von Sklaverei zu verharmlosen, so dass diese schließlich gar nicht mehr als Sklaverei wahrgenommen wurden. Zum Teil wurden sie auch bewusst verleugnet und verdrängt (vgl. Bono 1999).

Dieses Schweigen über die Sklaverei in der eigenen Geschichte hatte auch eine Funktion im Hinblick auf die Konstruktion einer europäischen Identität. Dazu gehörte die Vorstellung, dass im Europa der Renaissance die Würde des Menschen betont wurde, eine Errungenschaft, die in der Frühen Neuzeit in ihren christlichen Prinzipien bestätigt wurde. Dass man dennoch auch in Europa fortfuhr, Sklaven zu besitzen, störte dieses Bild. Zudem trieb Europa seine Expansion voran und in diesem Kontext wurden muslimische Länder als unzivilisiert abqualifiziert, was auch die Sklavenhaltung einschloss. Umso wichtiger ist es heute, diese ausgeblendete Geschichte der Sklaverei in Europa wieder ins historische Bewusstsein zu rücken. Dazu möchte dieses Buch einen Beitrag leisten.

Sklaverei in der Neuzeit

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