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V.I - Schönheit ist vergänglich
ОглавлениеEine Art selbsterfundene Vorgeschichte zu „Der Königsmörder“ und erzählt die Jugendjahre Iorweths.
Als die Menschenrasse sich über die nördlichen Länder des mystischen Kontinents ausbreitete, erstickten sie alles bis dahin dagewesene und für sie fremde unter ihren eisenbewehrten Schwingen von Habgier, Neid und Abscheu. Sie eroberten das Land und nahmen keine Rücksicht auf die Bewohner, die vor ihnen da waren und teilten es unter ihren machthungrigen Königen auf.
Besonders das edle und langlebige Elfenvolk - die Aen Seidhe - sollten unter dieser menschlichen Niedertracht und Eroberungswut leiden.
Anfangs empfing das alte Volk der Aen Seidhe die Menschen mit Neugier und Offenheit - denn so waren sie auch den Zwergen, Halblingen und anderen Wesen dieser Welt begegnet. Ihre Weisheit brachte Güte hervor und edelmütig gewährten sie jedem Lebewesen ihren angestammten Platz.
Doch der Mensch war von rauer, urtümlicher Natur - ergoss sich wie eine alles verschlingende Feuerbrunst unkontrolliert über die fruchtbare Erde des nördlichen Kontinents.
Vermehrte sich explosionsartig in seiner wollüstigen Kurzlebigkeit und war in seinem Innern voller Boshaftigkeit und Neid gegenüber allem, was ihm überlegen schien. Darum galt sein wütendes Augenmerk besonders dem Elfenvolk, dem schönen Wesen, das filigrane Kunstwerke, Schönheit und Langlebigkeit hervorbrachte. Drei Dinge, die die Menschen nicht erschaffen konnten, es darum neideten und auslöschen wollten.
Alles was ihnen überlegen schien, wurde bekämpft. Alles was anders war, wurde vernichtet. Alles was Reichtum andeutete, wurde in Besitz genommen.
Doch der anfängliche Hochmut der Elfen, die zu spät erkannten, dass ihr Untergang unausweichlich war, tat ein Übriges dazu. Arrogant blickten sie auf die Dh'oine, die Menschen herab und dachten noch, sich ihrer erwehren zu können. Bis sie sich in den armseligen Ghettos ihrer großen Städte wieder fanden.
Nur geduldet am Rande der menschlichen Gesellschaft, hielten sie - und die anderen Anderlinge, wie die Menschen sie nannten - oft als Sündenbock her. Voller Abscheu sahen die Menschen auf die Elfen, Zwerge und Halblinge herab - in ihren Augen war das hässlicher Abschaum, der von dieser Welt getilgt gehörte.
So wurden die edlen schönen Elfen, die stolzen Zwerge und die gutmütigen Halblinge und Gnome in ihrem Dasein beschnitten, verachtet und unterdrückt wo es nur ging.
Andere Völker, wie die großen dummen Trolle, die gewitzten Kobolde oder die übereifrigen kleinen Feen hatte man an den Rand ihrer Ausrottung gebracht.
Selbst die weisen und stolzen Drachen waren verschwunden, denn gerade ihre außergewöhnliche Anmut, ihr tausendjähriges Wissen und ihre angeblich menschenfressende Gefährlichkeit hatten einen regelrechten Jagdboom auf sie ausgelöst. Aber das lag schon eine Weile zurück. Heute begegnete man noch eher einem verirrten Troll, als einem Drachen.
Dafür war durch die Bosheit und Machtgier, Experimentierfreude und der Selbstüberschätzung der Menschen so manches neue, wirklich bösartige Wesen entstanden.
Im Abfall und auf den zahlreichen Leichenhügel der Städte und Kriegsfelder erhoben sich Vampire, Ghule, Geister, Harpyien, Werwölfe, Lebende Tote aller Art, Fluch geplagte Ungetüme oder mutierte, insektenhafte Riesentiere meist nächtens in den monddurchtränkten Himmel und sorgten für weitere blutzerfetzte Tote, Verfolgung und Unbill.
In diese von immer neuen Kriegen heimgesuchte, barbarische Welt wurde Iorweth hineingeboren.
1
Sicher glitt das Schnitzmesser in die Maserung des Holzes und jeder Schnitt hub ein kompliziertes Ornament hervor. Es waren verschlungene Blätter, Blüten und ineinanderlaufende Bänder, die den Rand einer Wiege zierten. Einige letzte winzige Schnitte noch, dann war das Kunstwerk fertig.
"Es ist wunderschön geworden." Unerwartet war eine junge Frau in den Raum und an den Schnitzkünstler heran getreten.
Der große Elf mit dem lackschwarzen Haar drehte sich zu der hübschen jungen Elfe um - auch sie hatte rabenschwarze Haare, die zu einem kunstvollen Zopf geflochten waren. Ihr Lächeln war ehrlich, aber ihre Augen wirkten müde und schattig.
"Du bist wunderschön anzusehen, Calad'linna!" Der Elfenmann nahm seine junge Frau, die ein grün-beiges, schlichtes, zweilagigen Leinenkleid trug, in die Arme und küsste sie auf die Stirn.
Eine kleine Wölbung war am Bauch zu bemerken. Sie seufzte tief.
"Du solltest nicht so viel arbeiten", meinte der Mann - vom Alter her schien er im reiferen Alter um die Vierzig zu sein, was bei einem Aen Seidhe bedeuten konnte, dass er schon vierhundert Jahre lebte. Er klopfte sich die Späne von der Lederschürze und nahm sie ab. Er trug eine olivgrüne Leinenhose, dazu Schaftstiefel aus weichem, hellem Leder und darüber ein beiges Leinenhemd unter einer kunstvoll mit Blattwerk bestickten, olivgrünen Weste. "Du darfst das Kind nicht gefährden." Er nahm ihr den kleinen Besen und die Schaufel ab und begann die Holzschnitzel aufzukehren.
"Ich weiß, ich habe eine hohe Verantwortung meinem Volke gegenüber!" Müde setzte sie sich auf das breite Bett - ein Holzkasten mit einem ebenso kunstvoll geschnitzten Rand, wie der der Wiege, in dem zwei flache mit Moos und Heu gepolsterte Säcke als Matratzen dienten. Darüber buntgewebte Decken und vier Kissen machten die Schlafstätte zu einer richtigen Luxusherberge.
Fuin'isengrim - was Schattenwolf bedeutete - kniete sich vor seiner Frau hin und schaute ihr tief in die traurigen Augen, die die Farbe von Bergseen hatten. Sie war noch sehr jung, musste ein kleines Kind gewesen sein, als sie aus Ellylon vertrieben worden waren. "Vermisst du den Glanz der alten Zeit, Calad?"
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Wangenknochen stachen hervor und ihr Kinn wirkte spitzer als sonst. Sie ist viel zu mager, dachte Fuin'isengrim. Zuviel Arbeit, zu wenig nahrhaftes Essen und dann noch schwanger. Der Elf fluchte innerlich, denn er selbst fand keine dauerhafte, gutbezahlte Arbeit.
"Den Wandel der Zeit kann niemand aufhalten. Ich habe keine Erinnerung an Ellylon. Dort warst du ein Aran - ein König. Wir wären uns nie begegnet. Ich bin glücklich, Fuin, denn du bist hier bei mir. Du bist mein Glanz." Sie schmiegte sich an ihn.
Wenig später lagen sie nebeneinander unter den wärmenden Decken und schauten sich tief in die Augen. Fuin'isengrims tätowierter Körper strahlte Stärke und Wärme aus, seine offenen Augen waren dunkelstes Walddickicht, er hielt seine zerbrechliche Frau schützend im Arm. Sie genossen die körperliche Nähe des anderen. Zwei schwarzhaarige wunderschöne Elfen, vielleicht beide ein wenig zu mager, ausgezerrt vom harten Leben.
Fuin'isengrim aep Ellylon - ein edler Elfenmann mit königlichen Blut in den Adern, aber ar-talath en ar-tûr - ohne Land und ohne Macht. Er kapitulierte und fristete nun ein ärmliches Leben hinter den Mauern der Hauptstadt Wyzima. Seine Kriegergefährten, die sich nicht ihrem Schicksal ergeben hatten, waren alle getötet worden oder lebten in der Verbannung. Lange Zeit haderte Fuin'isengrim mit sich und seiner feigen Entscheidung, dann lernte er Calad'linna - was Lichtlied bedeutete - kennen und verliebte sich in das fröhliche Mädchen. Bei einem kleinen Fest hatte er sie singen hören und war von ihrer klaren Stimme verzaubert worden. Sie war ein fleißiges Mädchen, arbeitete als Näherin für einen angesehenen Designer und Kaufmann der Stadt. Ihr romantisches Gemüt brachte ihn schnell wieder auf andere Gedanken. Und nun, wo sie sein Kind unterm Herzen trug, vergötterte er sie umso mehr.
Calad'linna war zufrieden mit dem, was sie hatten - auch wenn das meiste sie und ihre Familie beitrugen. Sie lebten im Anderling-Viertel von Alt-Wyzima in einem kleinen Stadthaus, zweistöckig, wie die meisten Häuser dort. Unverputzte Wände aus Stein und Holz, die Fenster aus milchigem Glas. Der Bereich des Erdgeschosses war für die Gemeinschaft, beherbergte im hinteren Teil einen offenen Küchentrakt, eine Waschgelegenheit hinter einem schmuckvollen Pavillon und den großen Esstisch, um den sich die Familienmitglieder oft versammelten. Die wenigen Möbel, waren auf Elfenart edel verziert und ließen das schlichte Heim weniger ärmlich aussehen. Im oberen Stockwerk - erreichbar über eine Holztreppe - lagen drei Zimmer. Im hinteren wohnte Fuin'isengrim mit Calad'linna. Daneben hatte ihr Bruder Celeborn und seine Frau Edhiel ihr Schlafgemach. Im vorderen, kleinsten Raum war ihre verwitwete Mutter I'worel untergebracht.
Die alte Elfe I'worel stand am Herd und kochte für die ganze Familie eine Gemüsebrühe. Edhiel eine dunkelbraunhaarige Elfe mit harten Gesichtszügen deckte gerade den Tisch. Ihr Mann Celeborn kam die Treppe herunter, als Fuin'isengrim ins Haus trat. Draußen begann die Nacht.
"Jetzt repariere ich schon den Galgen", murrte der Elf mit dem langen, lackschwarzem Haar. "Und mit dem Lohn haben sie mich auch betrogen." Er blickte sich um, suchend. "Ist Calad oben?"
"Nein, oben ist niemand", meinte Celeborn, der ja gerade vom oberen Stockwerk gekommen war.
"Sie hat der Herzogin Feodora Edenbrinck ihr Kleid bringen müssen, sie braucht es ja dringend für dieses große Fest, das König Foltest morgen Abend zu Ehren dieses Redanischen Prinzen gibt. Vermutlich musste sie es ein viertes Mal ändern und ist aufgehalten worden." Dumpfer Spott lag in der Stimme Edhiels.
"Es ist schon dunkel. Ich werde ihr entgegen gehen." Fuin'isengrim holte ein Stilett von der Wand, an der noch zwei Schwerter und zwei Bögen hingen, und steckte sich die handliche Waffe in den Gürtel.
Im leichten Laufschritt rannte er die Straße entlang, hielt sich östlich. Zügelte sein Tempo aber am Tor. Die Soldaten ließen ihn jedoch problemlos passieren. Über eine große Brücke und durch ein mächtiges zweites Tor kam er nach Neu-Wyzima, ins untere Tempelviertel. Ein Straßenwächter entzündete die ersten Pechfackeln an den Hauswänden, nach Mitternacht - wenn sich nur noch Wachpatrouillen auf den Straßen Wyzimas tummeln würden - wurden diese wieder gelöscht. Er lief eine sich leerende Straße nun Richtung Norden entlang - Fuin'isengrim wusste, dass das Haus der Herzogin Edenbrinck gleich nach der Abgrenzung zum oberen, königlichen Viertel zu finden war. Aber bis dorthin musste er gar nicht laufen.
Er hörte eine Frau schreien, gefolgt von hämischem Männergelächter. Eine zweite Frau rief "Lasst uns in Ruhe!" und er erkannte Calad'linnas kristallklare Stimme. Er zog das Stilett und rannte dem Stimmengemurmel entgegen. Kurz darauf erreichte er eine Gruppe von fünf angetrunkenen Männern, die um zwei am Boden knienden Elfenfrauen standen.
"Geht weg von ihr!" brüllte Fuin'isengrim und riss einen der Männer brutal aus dem Halbkreis, so dass dieser aufs Straßenpflaster stürzte. Den lachenden Mann daneben bedrohte er mit seinem Stilett. "Lasst die Frauen in Ruhe!"
"Nimm dein Messerlein fort, Spitzohr!" blaffte ihn der Mann vor ihn an. "Bevor du dich noch schneidest."
Der zu Boden geworfene hatte sich wieder aufgerappelt und stürzte sich unerwartet auf den Elf. Doch Fuin'isengrim trat zwei Schritte zur Seite und der Betrunkene taumelte an ihm vorbei. Der Elf gab ihm einen Stoß und der fiel erneut zu Boden. Da donnerte die harte Faust, des von ihm zuvor bedrohten, gegen sein Kinn. Der Elf stolperte gegen einen dritten Mann, der ihm seinerseits einen harten Stoß verpasste. Halt suchend taumelte Fuin'isengrim zur Seite und erwischte den ersten mit seinem Stilett, das den Ärmel und die Haut darunter aufschlitzte.
Die stark nach Wein riechenden, in Kaufmanngewänder gekleideten Männer - drei davon mit modischen Bärten - gerieten, nun da Blut geflossen war, richtig in Prügellaune. Der Kerl, der ihn vorhin schon wegen des Messers gewarnt hatte, hielt nun einen Stock in der Hand und dreschte damit auf die Hand des Elfs ein. Schon der erste Schlag saß und brach dem Elf einen Finger und der musste das Stilett fallen lassen. Jetzt stießen und hieben alle fünf Männer abwechselnd auf den schwarzhaarigen Elf ein, der zwischen ihnen bald zu Boden brach. Nun bearbeiteten sie ihn mit harten Fußtritten, Fuin'isengrim wann sich unter Schmerzen.
Calad'linna warf sich verzweifelt zwischen die Männer und versuchte ihren Mann zu schützen. Sie bekam selbst einen Tritt ab und ein anderer zerrte sie am Haarzopf hoch.
"Was ist da los!" hörte man plötzlich eine autoritäre Stimme und drei Paar schwere Soldatenstiefel näherten sich der Szenerie. "Auseinander! Schluss damit!"
Tatsächlich verharrten die betrunkenen Kaufmänner in ihren Bewegungen und entfernten sich von den am Boden befindlichen Elfen. "Der hat angefangen", deutete der mit der Schnittwunde auf den Mann am Boden und streckte dem Wachsoldat seinen blutenden Arm entgegen.
Der Hauptmann besah sich den Arm mit der oberflächlichen Wunde. Besah sich dann den Elf am Boden, der sich die gebrochene Hand hielt und ihn mit geschwollenem, blutigem Gesicht anstarrte. Ein junges Elfenmädchen kniete schützend und bittend bei ihm.
"Diesmal nur eine Verwarnung an euch, verschwindet!" Der Hauptmann bedachte die fünf betrunkenen mit einem vorwurfsvollen Blick.
"Wir gehen ja schon." Die Kaufleute tummelten sich. Noch eine Weile war ihr Gelächter und angeberisches Gerede in den Gässchen zu hören. "Ha, der Ratte haben wir's aber gezeigt."
"Um diese Zeit haben sich Anderlinge nicht mehr hier in der Stadt aufzuhalten. Ihr sollten schleunigst nach Hause gehen. Kann er laufen?"
"Danke euch, Herr Hauptmann", wandte Calad'linna ein und versuchte ihrem Mann beim Aufstehen zu helfen.
Der Hauptmann winkte einen seiner Adjutanten herbei, der dem Elf half, allerdings nur bis zum Haupttor. Auf der Brücke nach Alt-Wyzima kam den beiden Elfenfrauen, die Fuin'isengrim stützten, Celeborn entgegen. Gemeinsam brachten sie ihn nach Hause.
Calad tupfte vorsichtig das Blut mit einem feuchten Tuch aus Fuin'isengrims geschunden Gesicht. Das rechte Auge war violett verfärbt und dick geschwollen, aus der langen Nase tropfte Blut, die vollen Lippen waren aufgeplatzt und ein unterer Backenzahn wackelte. "Haben sie dir weh getan, Calad?" stotterte Fuin'isengrim.
Sie schüttelte den Kopf. "Du musst versorgt werden." Sie hob seine verletzte Hand an, tastete die Finger ab. Fuin stöhnte auf vor Schmerz. "Der Zeigefinger ist gebrochen, der daneben angebrochen. Ich muss deine Hand schienen."
Celeborn und Calad entkleideten den verletzten und betteten ihn auf den großen Tisch im Erdgeschoss. I'worel hatte Wasser abgekocht und Edhiel saubere Leinentücher geholt. Die beiden Frauen richteten dann aus Kräutern einen Heilsud und bereiteten einen schmerzlindernden Tee vor.
In dieser Zeit wusch Calad'linna ihrem Mann das Blut vom Körper. Ein filigranes Blattranken-Tattoo zierte seine linke Brustseite, einige schlanke Äste endeten am Hals, einige andere in der Leistengegend. Sein ganzer Körper war übersät von Prellungen und Blutergüssen, herrührend von den Tritten. Der Bruder fragte seine Schwester nicht was passiert war, schließlich hatte er ähnliches bereits am gleichen Leib gespürt.
Der Tee betäubte nur unzulänglich, als sie Fuin'isengrim den Knochen des gebrochenen Fingers richteten und dann beide Finger schienten. Der Schmerz ließ den Elf ohnmächtig werden.
Calad'linna krümmte sich nun selbst vor Schmerzen und hielt sich den Bauch. "Kind, was ist?" wollte die Mutter wissen. "Ich habe selbst einen bösen Tritt abbekommen, aber ich wollte Fuin nicht beunruhigen - Ah!" Die schwangere Frau brach neben dem Tisch zusammen. "Mein Baby!"
I'worel tastete die junge Frau gründlich ab. Als sie ihr den Rock hochschob entdeckte sie eine dunkle Prellung neben dem rechten Hüftknochen. "Edhiel, Celeborn richtet den Zuber mit warmem Wasser her. Schnell!"
Das Elfenpaar eilte nach hinten. Setzten Kessel mit Wasser auf den Herd und gossen weiteres Wasser in den Waschzuber. Derweil flößte I'worel ihrer leidenden Tochter Tee ein und unterstützte sie bei der kampflösenden Atmung. Die Fruchtblase platzte und sie entkleidete das schwangere Mädchen. Ihr Bruder trug sie zum Zuber und legte sie ins warme Wasser, Calad entspannte sichtlich und zog den Duft der Kräuter ein, mit denen das Bad durchtränkt war. Gemeinsam halfen I'worel und Edhiel bei der Geburt, die - keiner wunderte es - dann sehr rasch über die Bühne ging.
Fuin'isengrim schien nur aus Schmerz zu bestehen, als er erwachte. In der geschienten Hand pochte das Blut, ebenso in seiner verbundenen Brust, wo wohl eine Rippe angebrochen war. Im Kopf hämmerte unentwegt ein Hammer auf einen Amboss und das rechte Auge war dick zugeschwollen. Er stellte fest, dass er in seinem Bett lag. Er blickte rechts neben sich und sah Calad'linna friedlich schlummern. In ihrem Arm ruhte ein kleines Bündel, aus dem ihn ein winziges Gesichtchen anblickte. Sein Kind!
Er drehte sich ein wenig, biss den Schmerz hinunter und streichelte sanft mit einem Finger seiner linken Hand über das Gesichtchen.
Calad hatte die Augen aufgeschlagen und lächelte ihren Mann stolz an. "Ein gesunder Junge. Fuin, du hast einen Sohn!"
Ein Sohn, dachte der Elf stolz. "Aber er ist so winzig!" Er strich ihm zärtlich über den schwarzen Flaum.
"Mit ihm ist alles in Ordnung. Er braucht nur einen Namen." Die junge Elfe rückte mit ihrem Kind näher an den eingebundenen, frisch gebackenen Vater heran.
Nach kurzer Überlegung sprach Fuin'isengrim: "wie findest du Iorweth?"
"Iorweth Ionn Fuin'isengrim aep Ellylon - ein wahrlich fürstlicher Name für unseren kleinen Kerl."
2
Das kleine Elfenmädchen schaute sehnsüchtig zu den drei Jungs rüber, die mit Glasmurmeln auf der Straße spielten. Einer der etwa neun- bis zehnjährigen Elfenjungen erhob sich, er hatte das schwärzeste Haar, das ein Elf haben konnte. Er lief zu dem Mädchen, das ein Jahr älter und auch größer war als er, und baute sich vor ihr auf.
"Hör auf uns so anzustarren. Wir spielen nicht mit Mädchen!"
"Warum nicht? Ich kann auch murmeln, besser als ihr drei zusammen", antwortete das Mädchen trotzig und zwirbelte sich ihre braunen Haare um den Finger. "Die" - sie zeigte auf die beiden anderen Jungs - "sind nicht mal richtige Elfen!"
Der schwarzhaarige Junge schubste das Mädchen verärgert weg. "Riordain ist mein bester Freund, beleidige ihn nicht. Außerdem trainieren wir uns schon im Kampf und das ist erst recht nichts für kleine Mädchen."
"Ich kann auch kämpfen", fauchte das gekränkte Elfenmädchen und stürzte sich auf den Jungen. Sie zog ihn an den langen schwarzen Haaren und stieß ihm sein Knie gekonnt in den Bauch. Dafür boxte er ihr mehrmals gegen die Brust.
"Iorweth!" Eine kräftige Hand packte den Jungen am Hemdkragen, die andere Hand des Elfs trennte das kratzende Mädchen von ihm. "Hörst du wohl auf dich mit Mädchen zu prügeln."
Die Kleine strich ihr Kleidchen glatt und stampfte hochmütig beleidigt davon. Riordain, ein hagerer dunkelblonder Junge mit löchrigen Hosen und schmutzigem Hemd lief zu seinem Freund, der gerade von seinem Vater zurechtgewiesen wurde. "Darf Iorweth weiter mit uns spielen, Herr Fuin'isengrim?"
Der hochgewachsene Elf nickte. "Aber sicher." Er blickte dem Jungen nach, traurig. Die beiden Halbelfenjungen und das Mädchen waren die einzigen Kinder unter den Elfen hier in Wyzima. Somit auch die einzigen Spielgefährten. Zwergenkinder gab es zwar auch noch zwei, aber die waren noch kleine Babys.
Riordain's Mutter arbeitete in einem Freudenhaus und sein Vater war einer der menschlichen Freier gewesen. Sie hatte zu spät bemerkt, dass sie schwanger war und eine Abtreibung wäre zu gefährlich gewesen. Aber sie kümmerte sich nicht besonders um den unerwünschten Jungen, das sah man dem Knaben deutlich an. Iorweth brachte ihn oft mit zu sich nach Hause.
Der andere Junge, Glorfindel, entstammt aus einer Vergewaltigung. Seine Elfenmutter wurde seinerzeit von zwei Menschenmännern geschändet. Wenigsten hatte sie den Jungen, der am wenigsten dafür konnte, gegenüber Mutterinstinkte entwickelt.
Das Mädchen war mit seinen Eltern erst vor einigen Wochen hierher gezogen. Nachdem es in ihrer Heimatstadt ein Pogrom gegeben hatte, dem die Familie gerade noch rechtzeitig hatte entkommen können.
Im Sommer trainierten die Soldaten des Königs gerne auf freiem Feld nördlich von Alt-Wyzima. Dann schlichen sich die drei Elfenjungen zu ihnen und schauten ihnen beim Fechten, Kämpfen, Schlagen, Schießen und Stoßen zu - um es dann nachzumachen.
Auf Bitten und Betteln schnitzte Fuin'isengrim seinem Sohn ein Holzschwert, einen Bogen und einfache Holzpfeile. Täglich übte Iorweth mit seinen kindgerechten Waffen. Und manchmal zeigte ihm sein Onkel Celeborn einige weitere Kampfkniffe. Und mit etwas Überredungskunst, bekamen seine beiden Freunde Riordain und Glorfindel bald eigene schlichte Holzwaffen ausgehändigt.
Iorweth wuchs behütet und glücklich heran, wenn er auch oft abends mit hungrigem Magen zu Bett gehen musste. Schließlich lernte er Coinneach Dá Reo kennen.
Der jugendliche Elf lehnte schweigsam an einem Pfosten eines Marktstandes seiner Mutter, die verschiedene Kräuter, Tees und elfischen Zierrat an den Mann beziehungsweise die Frau bringen wollte. Sein kräftiger Leib steckte im weichen Hirschleder, das er selbst erjagt hatte. Da er einige Jahre bei den Gerbern gearbeitet hatte, hatte er das Leder selbst bearbeitet. Zu einer Hose und einem Wams hatte es eine Freundin, die Näherin bei einem namhaften Designer und Kaufmann war, genäht. Die Brokatborten am Saum des Wamses hatte seine Mutter gestiftet. Die dunklen Haare hielten ein blaues Band aus dem schönen, markanten Gesicht. An der Seite trug er ein Elfensihil mit rotem Knauf, es gab ein Gerücht, dass er mit dem Schwert schon jemanden getötet haben sollte. Da es zu diesem Gerücht aber keine Leiche gab - sonst säße er wohl eher im Kerker, als würde weiter frei herumlaufen - blieb dies nur ein Gerücht.
Da bemerkte er den schwarzhaarigen Jungen Iorweth. Sein Vater soll ein Aran sein, sagte man - für Coinneach war Fuin'isengrim nur ein armseliger Taugenichts. Er beobachtete wie sich der Junge durch die Marktstände schlich und flink mal dort etwas einsteckte und anderswo etwas anderes mitgehen ließ. Dass die Kids der Anderlinge stahlen war nichts neues für ihn, dass hatte er selbst zu genüge getan. Aber der Kleine hatte Potential, er war in seinen Bewegungen geschickt wie ein Eichhörnchen, das sich von Baum zu Baum schwang und dabei kraftvoll wie eine Katze.
Am Stand des Bäckers wurden seine Langfinger bemerkt. Doch nicht der dickbäuchige Bäcker selbst setzte dem Elfenjungen nach, sondern ein schlaksiger Geselle. Mit einer grazilen Leichtigkeit schlug Iorweth Haken, wischte durch die Menschenmenge ohne jemanden anzurempeln und sprang auf ein Fass und lief fast die Mauer hinauf. Sein Verfolger unter ihm stolperte gegen das Fass und schickte ihm einen Fluch hinterher. Iorweth hob einen größeren Kiesel auf und warf ihm den Gesellen treffsicher an die Stirn, dann tauchte er in einer Seitenstraße unter.
Coinneach Dá Reo war ihm nachgeeilt. Unerwartet tauchte er am Ende des Gässchens auf und Iorweth wäre fast mit ihm zusammen gestoßen. Er packte den Jungen am Kragen.
"Aye - lass mich los!" fauchte Iorweth und versuchte sich loszureißen.
"Du bist ja ganz schön flink, Iorweth!" Der Elf in Hirschleder lachte. "Aus dir könnte etwas werden! Ich bin Coinneach Dá Reo - vielleicht hast du von mir gehört?"
Iorweth hörte mit dem Zappeln auf. Natürlich hatte er von Coinneach und seiner Bande gehört. In jeder Schenke waren sie wegen ihres Glückspiels bekannt. Aber imposanter waren die Gerüchte, die über ihn erzählt wurden und dass er wohlhabende Leute ausrauben würde. Natürlich konnte ihm bisher nichts nachgewiesen werden, weil bei ihm keinerlei Beutestück gefunden und die Überfallenen nie einen der Räuber zu Gesicht bekommen hatten. Und ohne handfeste Beweise ließ man den Elf noch in Ruhe. Die Miliz hoffte darauf, dass die schwarzgesichtige Räuberbande einmal anfing Fehler zu begehen.
"Stimmt es was man über dich sagt?" wollte Iorweth wissen.
"Was sagt man denn über mich?"
"Du seist ein Dieb, ein verkommenes Subjekt, das bisher nur verdammtes Glück hatte. Und du sollst einen Mann getötet haben."
"Und was glaubst du, Iorweth?" Sein Lachen war ansteckend.
"Ich glaube, sie übertreiben, Coinneach!" Der Junge grinste verschmitzt über beide Ohren.
"Du gefällst mir, Kleiner!" Der Elf in Hirschleder deutete auf den Brotlaib in Iorweth Hand. "Was gibt's dazu?"
Coinneach Dá Reo war eine Art Unterweltsboss, der in jedem schmierigen Geschäft irgendwie die Finger mit drin hatte. Gerade in der Unterstadt, wo der Handel blühte und auch die Kluft zwischen Armut und Reichtum, zwischen Menschen und Anderlingen besonders deutlich zu spüren war, war er allgegenwärtig. Er war bekannt und berüchtigt im Glückspiel, im Drogenhandel mit Fisstech, seine Kumpane spionierten in allen Ebenen herum und so mancher Langfinger musste eine Abgabe an ihn zahlen. Er kümmerte sich aber auch um seine Leute, wenn es Probleme gab oder jemand krank wurde. Und spitzelte sogar für die königliche Miliz. Nicht immer er persönlich, sondern seine Vertrauten und Kumpane - und da war es egal, ob der ein Mensch, Elf, Zwerg, Bettler oder Herzog war. Obgleich er sehr jung war, besaß er eine fuchsige Schläue und einen unersättlichen Machthunger, der ihn schnell in diese Position, die er zu diesem Zeitpunkt inne hatte, katapultiert hatte.
So fand Iorweth schnell Anschluss. Für seine Talente - Schnelligkeit, Wissbegierde und Kampfesmut - fanden sich bald Mentoren, die ihm mehr lehrten als es in seinem jugendlichen Ungestüm gut gewesen wäre.
Nach nicht ganz einem Jahr unter den Fittichen Coinneachs übertraf Iorweth die meisten in den Talenten, was Bogenschießen, lautloses Anschleichen, Messerwerfen, Würfelspiel, Observieren, regloses Verharren, glaubhafte Lügen spinnen und Weglaufen anging. Er bewies eine unübertroffene Geduld, ihm war strategisches Denken und Logik ein unstreitbarer Begriff, erschreckte so manchen mit seiner Ehrlichkeit und vertraute seiner inneren Intuition blind. Und jedes Laster, das man ihm aufdrängen wollte - sei es Trinken, Drogen oder Hurerei - entzog er sich bisher überlegt und geschickt. Er entsagte dem nicht ganz, was sich in solch einer verkommenen Gesellschaft in der er sich befand auch besonders schwer gewesen wäre, aber er sagte zwischenrein immer mal wieder "Nein" und übertrieb es nie mit den Genüssen.
Anfangs ließ er sich Zuhause auch nie etwas anmerken, wo er sich tagsüber so rumtrieb. Aber als er älter wurde und er das Zimmer I'worel bekam, die wegen ihrer Gicht in den Beinen nicht mehr so die Treppen steigen konnte und deshalb lieber nahe des Herdes schlief, weitete er sein Wegbleiben auch mal auf die nächtlichen Stunden aus.
Fuin'isengrim schlug die Tür zu Iorweths Zimmer zu und ging seiner Frau entgegen. "Es ist Mitternacht durch und der Junge ist noch nicht Zuhause. Wo steckt er nur immer?"
"Das musst du ihn selbst fragen, Fuin. Ich weiß das auch nicht. Er ist in der Pubertät, da spielen die Hormone verrückt. Die Jugend muss sich austoben. Das war bei dir doch bestimmt auch so?" Calad'linna wollte ihren Mann in ihr hinteres Zimmer führen.
"Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich so rumgetrieben habe. Aber das ist ja auch schon lange her. Ich muss mir den Jungen wohl mal vornehmen." Der Elf ging leise die Treppe hinunter und setzte sich ins Erdgeschoss. Wartete im Dunkeln.
Vom Feuer im Herd war nur eine orangene Glut geblieben. Regelmäßig war das röchelnde Schnarchen der alten Elfin zu hören. Leise wurde die Außentür aufgeschlossen und eine Gestalt huschte ins Haus.
Iorweths Nackenhärchen stellten sich auf, er verharrte am Eingang. Ahnte mehr, als dass er es sah, dass ein schwarzer Schatten beim Tisch aufgestanden war. "Ceád Vater!" grüßte er ihn.
"Cáemm vort, Iorweth!" Es lag keinerlei Emotion in der Stimme Fuin'isengrims.
Als der junge Elf am Tisch angekommen war, hatte der ältere darauf eine Kerze entzündet. Tiefe Schatten malte das flackernde Licht auf ihre Gesichter. Sie sahen sich sehr ähnlich, waren fast gleich groß - nur etwa dreihundert Jahre trennte sie.
"Wo kommst du her?"
"Das geht dich nichts an", und schon bereute Iorweth seine harten Worte.
"Ich bin dein Vater, es geht mich etwas an. Du bist noch ein Kind, also geht mich das was an. Wo treibst du dich herum? Mit was für Leuten bist du zusammen? Und wie lange geht das schon? Carfa!"
"Vater, ich bin müde. Möchte eigentlich nur noch ins Bett. Können wir das nicht morgen besprechen?"
Wieder erhielt Fuin'isengrim einen Kontor von seinem Sohn. Wie hatten sie sich in den letzten Jahren doch voneinander entfernt.
Da sein Vater nichts erwiderte wandte sich Iorweth um und wollte in sein Zimmer gehen. Er war wirklich müde, hatte einen trainingreichen langen Tag hinter sich.
Doch Fuin'isengrim hielt ihm am Arm zurück. "Neén, cáemm 'ere! Wir bereden das jetzt!"
"Du lässt mich besser los!" Iorweth hatte sich gedreht und blickte seinem Vater finster entgegen und stemmte Fuins Hand fort.
Der Junge war kräftig, bemerkte er - und unverschämt. "Drohst du mir etwa, Junge!" War da Wut in seiner Stimme zu hören? Er packte Iorweth am Kragen des Wamses, wollte ihn auf die Bank drücken. Doch aus einem flinken Reflex heraus rammte ihm der Junge ein Knie in den Bauch und stieß ihm mit dem Unterarm zur Seite. Fuin'isengrim stolperte selbst gegen die Bank und stieß sich schmerzhaft mit dem Ellenbogen an der Tischkante. "Was ist nur los mit dir?!"
Iorweth hatte große Lust fortzulaufen. Er hatte seinen Vater geschlagen. Ein Geräusch von der Treppe ließ ihn aus seiner Starre erwachen. Seine Mutter Calad'linna kam - sich mit einer Kerze leuchtend - nach unten. Hatte sie alles mitbekommen? Ihr trauriger Gesichtsausdruck und das kurze Schütteln des Kopfes sagten ja. Dicht trat sie an ihren Sohn und nahm ihn schützend in die Arme. Seine Schultern zitterten, er weinte lautlos und tränenlos.
Fuin'isengrim erhob sich und nahm nun seinerseits die beiden in die Arme. Die kurz aufgetretene Wut - er kannte diese Emotion eigentlich nicht - war bereits verflogen.
"Willst du uns nicht endlich mal darüber aufklären, wo du dich die letzte Zeit immer herum treibst?" Das hatte Calad'linna gesagt und sie löste die Umarmungen.
"Es passieren so viele neue Dinge in meinem Leben, dass es mich zu überwältigen droht." Die Familie setzte sich an den Tisch. Das Schnarchen im Hintergrund war verstummt, aber die alte Elfin verhielt sich wie unsichtbar.
"Ich habe viele Freunde gefunden", erzählte Iorweth und erleichterte sein Gewissen. Seine Eltern lauschten ihm schweigend. "Ich habe Coinneach Dá Reo kennengelernt, schon vor einer Weile. Es ist unglaublich wie gut sich seine Bande organisiert hat! Er hat mir viel gezeigt, viel beigebracht. Bis in die obersten königlichen Kreise hat er Beziehungen. Oft hänge ich mit ihm rum, aber nicht nur zum Glückspiel in den Schenken. Wir sind auch im Umland ins Dorf, in den Sumpf oder zum alten Friedhof geritten. Ich durfte auf einer schönen weißen Stute reiten! Jeder kennt Coinneach und sie verehren ihn. Er kann und weiß so viel und ich darf dabei sein."
"Dieser Coinneach ist kein Freund", entgegnete Fuin. "Er ist ein Verbrecher, ein Bandit. Du hast selbst gesagt, dass er eine organisierte Bande hat. Was hat er dir beigebracht? Wie man Leute bestiehlt, wie man betrügt? Nimmst du gar Drogen, trinkst du und -" hast du mit Huren geschlafen, hatte er sagen wollen.
"Neén, Vater, vertraue mir. In erster Linie nutze ich meine Beziehung zu Coinneach dazu aus, um meine Kampftechniken zu verbessern. Es ist von Vorteil, wenn man Personen in allen Schichten kennenlernt, weiß was in Wyzima so abgeht!" Iorweth klopfte sich aufs Wams. "Mir geht es verdammt gut, denn er gibt mir genug zu essen, gute Kleidung, ich hab sogar etwas Geld. Ich muss mir das ein oder andere zwar verdienen, aber ich schade niemanden wirklich mit meinem Tun, glaub mir."
"Wir haben also nie gut für dich gesorgt?"
"Das will ich damit nicht sagen, Vater. Hier ist immer noch mein Zuhause."
"Coinneach ist kein guter Umgang für dich. Was willst du in Zukunft machen? Willst du zum Dieb oder Banditen werden? Denk an deine Zukunft Junge, denk daran wo du in zehn oder gar fünfzig Jahren bis - und wenn du mal eine eigene Familie hast."
"Ich bin ein Elf, ich habe alle Zeit der Welt. Mich interessiert das morgen in zehn Jahren nicht - wenn ich fünfhundert Jahre alt werden kann."
"Aber nicht in diesen kriegerischen Zeiten. Sag dich von Coinneach Dá Reo los!"
"Ich kann es nicht, noch nicht. Ich steh noch am Anfang, will noch so viel wissen und erfahren. Versteht mich bitte. Bin ich trotzdem noch bei euch willkommen?"
Calad'linna wartete auf Fuin'isengrims Antwort, denn sie würde ihren Sohn niemals fortjagen. Erleichtert hörte sie ihn sagen: "Du bist mein Sohn, egal was passiert."
3
Fuin'isengrim legte wohlwollend einen Arm um Iorweth. Die beiden Elfen gingen gemeinsam am Ufer des Sees entlang, an dem Wyzima erbaut worden war. Es war früh am Morgen des 1. Mai - es war Belteyn.
Der junge Iorweth war zu einem stattlichen wunderhübschen Parder erblüht, er trug eine Hose und hohe Stiefel aus schwarzem Rindleder und dazu eine ärmellose Weste aus bordeauxrotem Samt mit silbernen Knöpfen und Stickereien auf blanker, kräftiger Brust. Iorweth nachtschwarzes Haar hing ihm bis zu den Hüften herab, die Seiten waren zu schmalen Zöpfen geflochten.
Sein Vater hatte ein altes Elfengewand aus Ellylon an: die Hose war aus einem leichten, ockerfarbenen Wollstoff, die rotbraunen Stiefel gingen über die Knie und eine mit bunten Efeugeranke bestickte Tunika aus einem hellgelben Seidenstoff bedeckte seinen hageren Leib. Das schwarze Haar durchzogen wenige graue Strähnen und ein schlichter Goldreif mit Runen hielt sein schulterlanges Haar aus dem markant-hageren Gesicht.
Fuin'isengrim warf ihre dunkelgrünen Umhänge in ein kleines Boot, verstaute einen Rucksack im Heck und stieg ein. Iorweth folgte ihm. Beide griffen zu den Paddeln und hielten sich südlich. Ihr Ziel war eine kleine Insel mit einem alten Tempel darauf, sie wurde Schwarzschwalbeninsel genannt.
"Ich war wie du etwa zwanzig Jahre alt, als mich das Belteyn-Ritual zum Manne machte und ich als Zeichen dafür die Tätowierung erhielt. Nur noch die wenigsten wissen, um dieses alte Ritual. Der Zeitpunkt ist sehr wichtig, verstreicht er, ist das Ritual nicht mehr durchführbar. Ich hoffe, du bist dir dessen bewusst?"
Iorweth nickte, ihm war dieses Gespräch ein wenig peinlich, ging es doch um seinen ersten Samenerguss, der ihn körperlich zu einem Erwachsenen werden ließ. Nun da er zeugungsfähig und nicht länger ein Kind war. "Anfang dieses Jahres geschah es. Seitdem haben sich meine Träume und Empfindungen geändert."
Die Sonne stieg höher, die Schwarzschwalbeninsel kam in Sicht. Ein Tempelgebäude mit offenen Wänden und einem spitzen Turm als Dach ragte im nördlichen Teil aus dem Wasser, daneben breiteten sich zerklüftete Klippen aus. Die beiden Elfen mussten die Insel umrunden. Am südlichsten Teil war eine Sandbank mit einer Feuerstelle, die die Anlegestelle markierte. Sie gingen an Land.
Die Umhänge ließen sie im Boot, es war sehr warm. Den Rucksack mit Proviant stellte der ältere Elf neben die verloschene Feuerstelle. "Cáemm, lass uns die Herrin des Sees begrüßen."
Ein Stück des Ufers war überflutet und mannshohe Felsmauern verbargen eine kleine Bucht. Dahinter erstreckte sich ein Meer voll Seerosen - zwischen riesigen grünen Tellerblättern ragte weißer und zartgelber Lotus sich der Sonne entgegen. Ein betörender Duft und ein stetes Summen von blauschimmernden Libellen lagen in der Luft. Ein hübscher Kopf sah ihnen zwischen den Seerosen entgegen. Tauchte dann unter und durchbrach näher am Ufer erneut die Wasseroberfläche. Bereitwillig machten ihr die Pflanzen Platz.
Iorweth hatte nie etwas Schöneres vor sich auftauchen sehen. Die zierliche, nackte Frauengestalt trat ihnen entgegen, blieb aber mit den Füßen im Wasser stehen. Alabasterfarbene Haut, ein kindliches Gesicht mit dunklen, wissenden Augen und das meerfarbene Haar legte sich wie eine zweite Haut schützend um ihre Blöße - über die festen Brüste und wann sich um ihre Scham und schmalen Hüften. Ihre Stimme war wie eine sanfte, kühlende Brise an einem glühendheißen Sommertag - willkommen und spürbar.
"Es ist Belteyn und vor mir steht ein Vater mit seinem Sohn. Es ist lange her, dass jemand mich um das Ritual bat. Willkommen Aran Fuin'isengrim aep Ellylon. Und sei auch du willkommen, Iorweth." Ehrerbietig neigten die großen Elfenmänner ihre schwarzhaarigen Häupter vor der Herrin vom See.
"Cáemm vort Iorweth." Sie berührte ihn sanft an der Stirn. "Du bist ein hübscher Junge und im Geiste schon sehr reif für dein Alter. Nutze den Nachmittag und erkunde die Insel. Gehe zum Tempel im Norden und tauch hinab in die versunkene Stadt. Suche dort nach einem Artefakt, suche nach einem kleinen Gegenstand, den du ab heute immer bei dir tragen solltest. Und breche einen Zweig ab, der Sinnbild werden sollte für deine Zeichnung. Komme kurz vor Sonnenuntergang zu mir zurück - und lass dich nicht von den Wyverne fressen, die hier auf der Insel leben. Doch beflecke dein Schwert auch nicht mit ihrem Blut. Va'en!"
Fuin'isengrim klopfte seinem Sohn aufmunternd auf die Schulter und sie blickten ihm nach, als er das Meer von Seerosen umrundete und zwischen Felsen und Bäumen verschwand.
"Ihr ähnelt euch nur äußerlich, sonst könntet ihr nicht gegensätzlicher sein. Fuin'isengrim, du weißt, dass Ritual fordert ein Opfer."
"Ich bin gerne bereit es für Iorweth zu zahlen. Er wurde in eine Welt hineingeboren, in denen die alten Werte verblasst sind. Die Menschen haben das Land verwandelt, ja selbst die Sonne scheint anders als zu Zeiten Ellylons."
"Ich verlange auch von dir diesen Preis und nicht von dem Jungen." Der Elf sah die Herrin vom See verwundert an. "Schau nicht so, Fuin'isengrim. Einst warst du ein stolzer Aran, doch nun sehe ich einen alten Elf der resigniert und seinen Stolz verloren hat. Der mit seinem Schicksal hadert und unglücklich ist. Der aufgegeben hat, weil er glaubt alles verloren zu haben."
"Ich habe alles verloren und friste nun ein armseliges Leben unter der Verachtung der Menschen, die diese meine Welt erobert und unterjocht haben. Ich versuche mich mit ihnen zu arrangieren und zu überdauern. Denn Stolz kann ich mir unter ihnen nicht leisten, er wäre tödlich."
"Du hast dich nicht arrangiert, Fuin'isengrim. Du wartest nur darauf, dass es vorbeigeht. Und verwechsle Stolz nicht mit Hochmut. Warst du die Tradition deiner Ahnen? Die Zwerge schaffen es leichter eine Koexistenz unter den Menschen aufzubauen, weil sie integrieren, handeln, teilen. Aber ihr Elfen distanziert euch, ruft zum Kampf auf - und das ist euer Untergang."
"Das Geschlecht der Feleaorn ist nicht mehr. Ich kämpfe nicht! Es sind die Menschen, die uns hassen und diese Welt unter ihre Gewalt nehmen. Was willst du von mir, Herrin vom See?"
"Die richtige Entscheidung! Du sollst erwachen! Der Frieden ist sehr trügerisch, es wird schon bald wieder blutige Kriege geben. Die Könige rüsten sich zu neuen Eroberungen und werden neue Veränderungen mit sich bringen."
"Ich soll in den Krieg ziehen und mein Leben lassen?"
Die Herrin vom See nickte.
"Und was erhalte ich dafür?"
"Eine Garantie. Ich garantiere dir, dass Iorweth in Freiheit leben wird. Ich behüte ihn und er wird ein großer Anführer seines Volkes werden. Ich sorge dafür, dass ihn nie die Hoffnung und der Mut verlassen; dass er stolz darauf ist ein Elf zu sein, in dem noch das Blut der Feleaorn fließt. Er wird dazu auserwählt sein, das verbleibende Erbe der Elfen in eine ihnen sichere, vorbestimmte Zukunft zu tragen. Es muss kein Untergang geben, die Elfen müssen nicht vergehen. Es gibt einen Ausweg, aber dieser Weg wird sehr steinig, blutig und ungewiss sein. Iorweth wird viel bewirken - ich habe es gesehen."
"Ich bin einverstanden", sagte Fuin traurig.
Iorweth kletterte auf einen Felsen. blickte über den See ans ferne Ufer, an dem ein kleines Fischerdorf lag. Weiter vor ihm, auf einem flachen kleinen Plateau bemerkte er zwei ockerfarbene Wyverne, sie schliefen und ließen sich von der Sonne wärmen. Der Pfad zum Tempel im Norden führte nahe am Plateau vorbei. Seine Hand ruhte auf dem Knauf seines schmalen Schwertes, das er links an der Hüfte gegürtet hatte. Er hoffte, es nicht gegen diese Flugechsen ziehen zu müssen.
Lautlos sprang er vom Fels und folgte dem Weg. Die Tiere beachteten ihn nicht, als er sich an ihnen vorbei schlich. Vom Plateau führte eine natürliche Treppe nach unten. Links verdeckte ein kleiner Wald die Sicht auf den Wassertempel. Rechterhand klafften Klippen, an denen er sich vorbei hangelte. Dann erreichte Iorweth das Konstrukt aus blauen Felssäulen.
Wenige glatte Stufen führten von drei Seiten in ein viereckiges Bassin, über das das Seewasser wellte. Ein verschlungenes Mosaik von Fischen, Schlingpflanzen und Nixenwesen zeichnete sich auf dem Grund ab. Die dicken Säulen an den vier Ecken des hohen Daches mit dem spitzen Turm darauf, waren teilweise auch mit Mosaikbildern verziert, aber der Zahn der Zeit hatte unzählige Steinchen abblättern lassen. Die vierte Seite, die zum See offen war, führte in die Tiefe. Iorweth hatte sich die Stiefel ausgezogen und watete unter dem Dach im Wasser und bemerkte, dass eine helle Steintreppe in den Grund des Sees führte. Dort unten lag eine versunkene Stadt, in der ein Fischvolk leben sollte, dachte Iorweth, ob sie wohl heute noch dort lebten?
Dort hinunter sollte er tauchen, hatte die Herrin des Sees ihm befohlen. Also entledigte er sich auch der Lederhose und seiner Samtweste. Iorweth tauchte unter, das Seewasser war kühl. Er folgte mit kräftigen Schwimmbewegungen der Steintreppe, diffuses Licht umfing ihn. Am nicht weit entfernten Grund warfen Mauerreste zwischen wogenden Algen tiefe Schatten. Ein Schwarm kleiner silberner Fische stob vor ihm davon. Einige Sonnenstrahlen drangen bis hier runter vor und spiegelten sich auf glatten, metallenen Oberflächen. Die Stadt und deren säulenbewerten Gebäude war ein Ruinengebälk aus überzogenen Steinquadern und natürlichem Wuchs. Der Elf tauchte durch gekippte Säulen und an zerriebenen Mauern entlang. Hier gab es kein Fischvolk mehr und einen Schatz gab es ebenso wenig - kam es Iorweth, als er zum Luftholen auftauchte. Und gleich wieder abtauchte und ein Blitzen in der Ritze zweier Quader entdeckte. Er griff instinktiv danach, hielt es ohne es betrachtet zu haben, fest in der Faust. Er schwamm mit den großen bunten Fischen, genoss die Ruhe unter Wasser.
Später lag er auf der obersten Stufe im Sonnenlicht und ließ sich trocknen. In seiner Hand hielt er einen Ring der mit grüner Patina überzogen war. Geduldig kratzte er die Schicht ab, darunter kam ein schlichter Goldring zum Vorschein, der ihm nur am kleinsten Finger passte.
Mit einem Schrei erhob sich eine der Wyverne in die Lüfte und kreiste immer höher. Der Elf sprang zu seinem Kleiderbündel, zog sein Schwert. Aber keine Gefahr drohte ihm. Er zog sich an und setzte seinen Rundgang über die Schwarzschwalbeninsel fort. Iorweth trat in die Schatten des kleinen Waldes. Auf Elfenart grüßte er die stolzen Bäume, in dem er die Hand auf die Rinde legte und dem Säuseln ihres Blätterdachs lauschte. Er fand einige süße Walderdbeeren.
Ein kleiner Lindenbaum mit unzähligen winzigen Blättern und verzweigten Ästen lugte hinter einem Felsen hervor und der junge Elf brach einen armlangen Zweig ab. Die Sonne neigte sich dem westlichen Horizont zu. Es war Zeit, dachte Iorweth. Er blickte über den See, die Stadtmauern und Dächer der Hauptstadt Wyzima strahlten rötlich in der Ferne. Die Nackenhärchen stellten sich ihm auf, eine unbestimmbare Angst bemächtigte sich seiner. Die sorglosen Tage seines Lebens waren gezählt, ahnte er und schüttelte das ungute Gefühl sofort wieder ab.
Fuin'isengrim war verschwunden, er wartete beim Boot und hatte das Lagerfeuer entzündet. Die Herrin vom See war aus ihrem Meer von Seerosen getreten. Zwischen ihren weißen Fingern erschien eine Tiermaske. Sie reichte Iorweth das lederne Antlitz eines jungen Hirsches mit einem knospenden Geweih von sechs Enden. "Ab diesem Zeitpunkt sage kein Wort mehr", befahl sie ihm.
Er zog die Hirschmaske über und ließ sich von der Herrin entkleiden. Dann befahl sie ihm sich in den warmen Sand zu legen. Sie begann leise ein Lied in alter Elfensprache zu singen, das von einem Mädchen aus der Anderswelt handelte, dass in der Belteyn-Nacht sich mit dem Hüter des Waldes vermählte. Sie umtanzte Iorweth dabei und entzündete magische Feuer am Kopf und zu seinen Füßen. Die Feuer spendeten jedoch keine Hitze und ließen ein glutrotes Mosaik auf dem hellen Körper der zierlichen Frau tanzen.
Durch die schmalen Schlitze der Tiermaske beobachtete der Elf die Herrin vom See. Sie beugte sich zu ihm herab, berührte seine Männlichkeit, die sich noch weiter aufrichtete, sich hart ihr entgegenstreckte. Blut rauschte in seinem Kopf, Hitze wallte durch seinen gestählten Leib. Sie umschloss ihn, saß fast bewegungslos auf ihm. Ein kaum merkliches Kreisen ihrer Hüften quälte den erregten Leib des jungen Elfenmannes. Er wollte nach ihren Schenkeln, ihren bloß Brüsten greifen, aber sie stieß seine Hände fort. So blieb er zitternd und bebend unter ihr liegen und ergab sich dem inneren Tosen.
Ihre Schenkel spannten sich an, die Bewegung der Hüften wurde fordernder. Das Feuer an seinem Kopf umhüllte ihn und mischte sich mit den Flammenzungen zu seinen Füßen. Der Zweig vom Lindenbaum peitschte über seine Brust. Der Schmerz seiner Lenden paarte sich mit dem Schmerz auf seiner Brust. Tausend Nadeln stachen dort in seine Haut, wanderten den Hals hinauf, die Rippen zu den Leisten hinab. Aus dem anfänglichen Stöhnen wurde ein erstickter Schrei. Dann fiel Iorweth einen dunklen Abgrund hinab.
Er erwachte inmitten der Nacht am Lagerfeuer der Sandbank, auf die das Boot gezogen war. Sein Vater blickte ihn über die Flammen hinweg an und sagte: "Jetzt bist du ein Mann und trägst das alt-mystische Zeichen der Aen Seidhe - das tan i boron'galadh tuia'tinnu - Das Banner des standhaften Baumes der zunehmenden Abenddämmerung."
Iorweth richtete sich auf und betrachtete erstaunt das filigrane Blattwerk, das sich rauchgrau seine linke Seite hinunter schlängelte und deren Spitzen unter dem Bund der Hose verschwand. Er hatte immer das Tattoo seine Vaters bewundert, nun hatte er selbst eines. Ihm waren noch weitere Elfen begegnet, die ähnliche Tätowierungen aufwiesen, aber bei den meisten hatte ein Elf oder Zwerg Hand anlegen müssen, daher waren diese auch bei weitem nicht so feingliedrig, vielfältig und vollkommen gewesen.
"Wir sollten schlafen gehen und morgen nach Wyzima zurück segeln." Iorweth nickte und die beiden Elfen hüllten sich in ihre Umhänge, um bald darauf neben dem Feuer einzuschlafen.
4
Der Unrat an den Hausecken und den morastigen Untiefen häufte sich in den Straßen Alt-Wyzimas, bemerkte Iorweth auf dem Weg nach Hause. Ein regenreicher Sommer lag hinter ihm. Ein paar klapprige menschliche Existenzen hielten ihm bettelnd ihre Hände entgegen, dann bog er ins Anderlingviertel ab. Achtlos wie ein Müllsack war ein Mann auf einen stinkenden Haufen schimmliger Abfälle geworfen worden. Achtlos hatte Iorweth vorbeigehen wollen, doch dann erkannte er den jungen Elf.
"Riordain?" Als er in die Bande von Coinneach aufgenommen worden war, hatte die Freundschaft zu dem Halbelf arg gelitten, bis sie sich überhaupt nicht mehr sahen. Er war in einem erbärmlichen Zustand. Sein dürrer Leib steckte in Lumpen und jemand musste ihn aus einer hellen Freude heraus noch verprügelt haben, denn Gesicht und Körper wiesen Blutergüsse, Platzwunden und Prellungen auf, aber er lebte noch.
Iorweth hob sich den Verletzten über die Schulter und ging direkt nach Hause. Alle waren aufgebracht - eher über den schändlichen Zustand Riordain's, als dass Iorweth gewagt hatte ihn mitzubringen. Sofort machten sich die drei Frauen an die Pflege des jungen Halbelf.
Sie kamen nicht einmal dazu ihm die Wunden zu verarzten, als Fuin'isengrim ins Haus eilte. "Razzia! Soldaten durchsuchen erneut das Viertel." Als er seinen Sohn im edlen Gewand und den verwundeten Halbelf bemerkte, fügte er hinzu: "Ihr müsst euch verstecken. Wer weiß, was sie diesmal suchen. Dieser neue Hauptmann ist mir ein zu fleißiger, pflichtbewusster Mann!"
Im Küchentrakt gab es eine kleine Grube mit einer Falltür, um Vorräte zu lagern. Dorthin zwängten sich die beiden jungen Elfen. Iorweth musste nur dafür sorgen, dass sein Freund nicht zu laute Geräusche von sich gab, dann harrte er der Dinge, die kommen mögen und lauschte.
Es dauerte nicht lange, da stürmten schwere Stiefelpaare ins Haus. "Alle Einwohner sammeln", hörte man jemanden sagen. "Zwei nach oben, alles gründlich durchsuchen!"
"Was wird uns vorgeworfen?" wandte Fuin'isengrim ein.
"Rebellen, die Scoia’tael, sollen in der Stadt sein und jeder der ihnen hilft landet mit ihnen am Galgen! Die Diebstähle in letzter Zeit wurden immer dreister! Wird Zeit, dass mal hart durchgegriffen wird." Der junge Hauptmann im blaugestreiften Wams stolzierte durch den Raum. Endlich stampften die beiden Soldaten wieder herab.
"Drei Räume oben, keine weitere Personen zu finden, Hauptmann Roche. Aber das haben wir gefunden", stattete einer der beiden Bericht und überreichte dem Hauptmann etwas.
"Ist es das was ich denke?"
Fuin'isengrim nickte. "Ja, eine Elfenkrone. Bitte gebt sie mir zurück."
"So, so, dann haben wir hier einen adligen Elfen. Ziemlich wertvoll das Teil, ist pures Gold, nicht? Der Reif wird konfisziert, du hast eh keine Verwendung mehr dafür." Hauptmann Roche blickte die zwei Elfenmänner und drei Elfenfrauen an. "Drei Räume oben, fünf Elfen unten. Dann passt das wohl -"
"Hauptmann entschuldigt, aber der vordere Raum gehört eindeutig einem männlichen Elf, keiner alten Frau", erwiderte einer der Soldaten, die oben rumgeschnüffelt hatten.
"Mein Sohn wohnt da, aber er ist noch unterwegs - und gehört keinesfalls den Scoia’tael an! Bitte, unsere Familie hat nichts getan!"
"Wenn das so ist, dann bitte die genauen Personalien aller zur Familie gehörenden Personen, ob nun anwesend oder nicht. Und wenn jemand einer Arbeit nachgeht, dann bitte auch bei wem und wo!"
Fuin'isengrim und Celeborn nannten dem Hauptmann alle gewünschten Daten, denn sie hatten ja nichts zu verbergen, waren anständige assimilierte Elfen. Tatsächlich genügte sich die Miliz damit und verließ das Haus, um im Nachbarhaus die gleiche Prozedur durch zu führen.
Iorweth hatte den verletzten Riordain zur Pflege in seinem Zimmer belassen und hatte noch am gleichen Abend das Haus verlassen. Coinneach hatte am Rande die Scoia'tel - was Eichhörnchen bedeutete - auch schon erwähnt, um irgendeine Bande von Freiheitskämpfer soll es sich hierbei handeln.
Dieser junge Hauptmann Vernon Roche gehörte einem Spezialtrupp an, die wegen ihrer blaugestreiften Uniform auch "Blaue Streifen" genannt wurden. Roche war vor kurzem erst nach Wyzima in die Dienste König Foltest getreten - hatte sich in einem kleinen Grenzkrieg zu Redaniens Ländereien verdient gemacht und hierher versetzen lassen. Sein Arbeitseifer - in erfolgreichem Bezug auf Razzien, Befragungen, Verhaftungen und Verbrechensaufklärungen - ließ ihn in der Hauptstadt schnell bekannt werden. Er schien am Stuhl des Kommandanten der Blauen Streifen zu sägen.
Der Elf hielt sich im Schatten, tauchte in die Kloaken ab und folgte einem geheimen Weg in die Oberstadt, wo er ungesehen auftauchte. Im Händlerviertel nahe der Stadtmauern, auf denen doppelt so viele Wachen postiert waren, als sonst. Es lag was in der Luft. Doch unbemerkt gelangte Iorweth zum Versteck Coinneach Dá Reo. Er hatte einige dringende Fragen an ihn.
"Deine Fragerei klingt fast nach einem Verhör. Ich bedauere was da passiert ist - mit Roche und deinem Vater. Aber wenn diese einfältigen Scoia’tael in der Stadt wären, dann wüsste ich es. Sie trauen sich nicht näher als zum Rand eines Dorfes im Osten. Dort gibt es einen Händler, der mit ihnen Handel treibt." Coinneach suchte sich aus seinen unzähligen Kleidungsstücken eine Kombination aus violettem Samt heraus und zog es sich über.
"Und wie vertrauensvoll ist dieser Händler?"
"Warum willst du das wissen?" Er band sein dunkelbraunes Haar im Nacken zusammen und suchte sich ein passendes Barett dazu aus.
"Er könnte geplaudert haben?"
"Das hat er nicht, er arbeitet für mich. Und wenn er plaudert, bindet er sich den Strick selbst um den Hals. Jetzt aber genug davon, mein Freund. Ich bin auf dem Weg zu einem Maskenball - du solltest dich mir anschließen. Ein Graf feiert seinen fünfzigsten Geburtstag, viele junge Edelleute werden dort sein. Das bringt dich auf andere Gedanken." Coinneach griff nach einer Augenmaske aus Goldimitat.
Iorweth überlegte kurz. "Ich habe kein Kostüm."
Coinneach deutete auf seinen ausgebreiteten Kleiderstapel auf dem Bett und der offenen Truhe. "Such dir was aus!" - und reichte ihm eine ähnliche Halbmaske, wie er sie trug. Sorgsam versteckte er die spitzen Elfenohren unter dem großkrempigen Samtbarett. "Versteck deine Ohren, man soll nicht sofort erkennen, dass wir Elfen sind, der Graf ist ein wenig eigen. Und beeil dich!"
Eine Stunde später hatten sich eine Männergestalt in Violett und eine in Gold-Schwarz durch einen Seiteneingang zu den Ballgästen untergemischt. "Du hast mir nicht verraten, dass die Feier im Königspalast stattfinden", flüsterte Iorweth.
"Du wärest wohl kaum mitgegangen, oder? Zudem ist es nur der Vorhof bis Audienzsaal unseres hochwohlgeborenen Foltest - seine Privatgemächer bleiben tabu. Ah, da drüben sind sie ja!" Coinneach zog Iorweth zu einer kleinen Gruppe von edel gekleideten, maskierten Edelleuten.
Der weitläufige Paradeplatz war durchbrochen mit unzähligen Pavillons, unter denen Tische mit herrlichen Speisen und Getränken drohten unter ihrer Last zu brechen. Emsige Pagen und Dienerinnen in der einheitlichen beige-roten Livree umschwärmten die Gäste, um ihnen jeden Wunsch abzulesen. Die meisten Gäste - alles hohe Ämter, Adlige und Königsgetreue - standen und saßen in Grüppchen im edelsten Gewand zusammen, die meisten trugen schimmernde Augenmasken, federne Stabmasken oder perlenbesetzte Schleier. Aus den weit geöffneten Türen des Palasttraktes erscholl Musik, ein Crescendo aus Trommeln und Schalmeien, Lauten und Harfen. Zwischendurch, am Rand und in überschaubarer Höhe standen Wachsoldaten.
Coinneach begrüßte eine hübsche, langhaarige Blondine mit einem zarten Kuss auf die rosigen Lippen - sie trug ein azurblaues Empirekleid mit Silberstickereien und einer Schwanenmaske auf dem Kopf. "Das ist die bezaubernde Baronesse Iphingenia von Knappensteinberg." Bei ihnen standen zwei junge Männer - einer im irisierenden Indigoblau mit einer Vogelhaube, der andere trug rot und schwarz im Wechsel und hatte sich die Schnabelmaske auf die Stirn gezogen, so dass sein pickliges, gerötetes Gesicht zum Vorschein kam. Ihre Namen merkte sich Iorweth nicht, denn er war gefesselt von dem rosaglitzerndem blonden Schmetterling, der noch bei ihnen stand. "Und diese bezaubernde Fee ist Comtesse Ludamille von Richthoffer-Bergen."
Ein buntschimmerndes Kristall-Blumendiadem mit einem hauchzarten Schleier bedeckte den Kopf eines puppengleichen Wesens mit zwei Zöpfen, die bis zu den Hüften gingen. Am Rücken des dreilagigen Taftkleides waren rosairisirende Schmetterlingsflügel befestigt.
Bald gaben die beiden Vogel-Männer vor, jemand bekanntes in der Menge entdeckt zu haben und verabschiedeten sich. Die Elfenmänner waren mit den hübschen Blondinen - mehr oder minder - allein.
Iorweth erkannte schnell, dass Coinneach die Baronesse Iphingenia schon besser kannte, denn sie schäkerten ausgelassen miteinander. Seine Begleitung Comtesse Ludamille hingegen versuchte mit ihm ein belangloses Gespräch zu starten, bis sie plötzlich den verkleideten Elf an den Rand Richtung Garten drängte, wo es efeuverhangene Liebeslauben geben sollte. "Dort drüben sind mein Verlobter und mein Bruder. Schnell - sie dürfen uns nicht sehen!" Sie zog ihn an beetgesäumten Wegen vorbei weiter in den spärlich mit Fackeln beleuchteten Garten. Hie und da hörte man leises Gelächter oder gar Stöhnen aus den Kuppeln der Lauben. Schließlich wischte Ludamille in eine noch leere Laube und setzte sich auf die weiße Bank darin. Ein kleines Öllicht brannte neben dem Eingang.
"Iphingenia hat mir verraten, dass Coinneach ein Elf ist. bist du auch einer?" Sie bat Iorweth sich neben sie zu setzen. "Du bist schüchtern, Iorweth?" Sie griff nach seinem Barett und zog es vom Kopf. Darunter kam eine Flut langen schwarzes Haares und zwei spitze Ohren zum Vorschein. "Das brauchst du nicht zu sein!" Sie zog ihm die goldene Maske ab und ein Seufzer entrann ihren vollen Lippen. "Du bist ein ausgesprochen hübscher Junge." Ludamille beugte sich zu ihm herüber und hauchte ihm einen Kuss auf den schönen Mund. Ihre Finger fingerten an den Knöpfen seines schwarz-goldenen Wamses.
Trunken von dem feierlichen Abend und der Andersartigkeit des Gegenübers gierten ihre Lippen nach einander und ihre Zungen tanzten in feuriger Leidenschaft. Im Ausschnitt seines Wamses kam sein filigranes Tattoo zum Vorschein. "Du wirst immer außergewöhnlicher, schöner Elf." Sie riss ihm fast die Kleidung vom Leib, um die verwinkelten Linien der Tätowierung zu ergründen bis hinab zu seinen schmalen Hüften. "Welch vortreffliches Schwert, mein mystischer Ritter. Kannst du damit auch umgehen?"
Iorweth griff nach dem Tüllrock, knüllten ihn über ihrer Hüfte zusammen und zog ihr geschickt den Slip hinunter. Ihre makellosen Beine steckten in weißen Strümpfen, die schwarze Bänder hielten. Er zog sie zu sich herab, bereitwillig spreizte sie die Schenkel, umfing ihn. Tüll knisterte, seine Hände streiften das Kleid von den Schultern, kleine feste Brüste stoben aus dem Ausschnitt ihm in die Finger. Iorweth küsste ihren Hals und erhob sich. "Nein, nicht jetzt damit aufhören", stöhnte Ludamille. Er drehte sich das Mädchen herum, schob ihren Rock hoch, dass ihr blankes Gesäß ihm entgegen lachte. Sie stützte sich auf die Bank. Der Elf drang erneut tief in sie ein. Seine Lenden schlugen gegen ihren Po und er griff mit einer Hand nach ihren Brüsten, die andere - rechte - spielten an der Scham ihres Venushügels. Immer tiefer drang er vor, füllte sie total aus und beschleunigte kaum seinen Rhythmus. Die Comtesse stöhnte und wand sich unter dem Elf, ohne sich von seiner Umarmung lösen zu können und zu wollen. Bis sie sich in einer Welle ekstatischer Orgasmen entlud.
Später in der Nacht trennten sie sich mit dem Versprechen, dass Iorweth sie besuchen kommen würde.
5
Im Elendsviertel Alt-Wyzimas wurden zwei Leichen mit dunklen Pusteln am Körper entdeckt und ein Dutzend weitere Menschen erkrankten mit diesen schwarzen Flecken am Leib. Irgendeines der Schiffe, die mit fremder Fracht nach Temeriens Hauptstadt gesegelt war, musste den Pesterreger an Bord gehabt haben. Die alte Stadt im westlichen Teil des Sees wurde abgeriegelt und in Quarantäne gesetzt. Niemand kam mehr raus. Eine Handvoll mutige Heiler versuchten in den Mauern der Stadt Herr der Lage zu werden, linderten so gut es ging die Qualen der Kranken. Die Toten wurden von den unglücklichen Überlebenden zusammengetragen und verbrannt. Täglich starben Menschen und auch einige Anderlinge. Die Elfen und Zwerge schienen weitgehend immun gegen die meisten menschlichen Krankheiten zu sein, außer sie litten an arger Unterernährung und Entbehrung, was in den ärmlichen Ghettos durchaus öfters vorkam.
Fuin'isengrim und Celeborn hatten ihre wenigen Habseligkeiten, die sie mitnehmen wollten, gepackt. Die Elfenmänner trugen waldfarbene Kleidung, hatten ihren Bogen und Schwert gegürtet. Ihre Frauen waren ebenfalls reisefertig in dunkle Elfenumhänge gehüllt. Jeder der vier trug einen Rucksack mit Kleidung, Proviant und wenig Wertsachen mit sich. Die alte I'worel verabschiedete sich von ihren Kindern, sie blieb zurück.
"Du solltest mit uns kommen, Iorweth!" meinte sein Vater.
Wortlos schüttelte der junge Elf den Kopf und führte die kleine Gruppe hinaus. Es war Nacht, aber bald an jeder Straßenkreuzung brannten Feuer. Es roch bestialisch nach verbrannten Kadavern und Unrat, der seit Wochen nicht fortgeräumt worden war.
Eine schmale Leiter führte an einer Mauer entlang nach unten in die Kloaken. Einige Meter tasteten sich die fünf Elfen durch die Finsternis, an einer Biegung entzündete Iorweth endlich eine Fackel. Er orientierte sich kurz und lief dann einen Kanal rechts entlang. Die brackige Brühe zwischen dem schmal-erhöhten Bordstein stank nicht minder, die Elfen hielten sich ihre Schals vors Gesicht und atmeten durch den Mund. Iorweth lauschte an zwei schmalen Durchgängen und nahm dann den drittfolgenden nach links. In diesem gab es kein Randlauf mehr, sie mussten in der Abwasserbrühe laufen, die jedoch zu einem fingerbreiten Schlammteppich vertrocknet war. Irgendwo tropfte blechern ein Rinnsal auf ein loses Blech. Und unzählige Ratten huschten aus dem Lichtschein der Fackel zwischen ihren Stiefeln durch. Iorweth bog am Ende in einen kurzen Tunnel, der in einer kleinen Höhle endete. Ihm folgten dicht auf Fuin'isengrim, Calad'linna, Edhiel und zum Schluss Celeborn.
Ein beißender Geruch, nach Ammoniak und Moder drang an ihre Nasen. Iorweth und Fuin die auf dem Absatz verharrten zogen ihre Schwerter. Etwa zwei Meter unter ihnen war ein großer Haufen Knochen und menschliche Überreste, zwei Nekker-Monster wühlten darin herum und einer blickte zu ihnen hinauf und grunzte fauchend.
Bevor die grauhäutigen Leichenfresser ihren Angriff starten konnten, war Iorweth ihnen vom Absatz entgegen gesprungen. Er stieß dem ersten die Fackel ins Gesicht und hieb dem zweiten seine Klinge gegen die Brust. Fuin'isengrim bohrte dem angesengten sein Schwert in den Bauch, das die Gedärme nur so spritzten. Iorweth hatte den zweiten Nekker mit wenigen Hieben getötet. "Schnell raus hier, bevor noch weitere nachkommen." rief Iorweth und behielt den Knochenhaufen im Auge.
Celeborn half den verängstigten Frauen hinunter und lief zum Höhlenausgang, der durch bloßliegende Baumwurzeln und vertrocknetes Sumpfgrasgeflecht ging. Fuin und Iorweth folgten, als sich keine weiteren Ungeheuer zeigten.
"Dorthin, da gibt es einen sicheren Weg durch den Sumpf." Der junge Elf führte sie über eine weiche Grasnarbe, die am nördlichsten Rand entlang ging. Sicher kamen sie auf sanftes Wiesenland. Rechts von ihnen lag die Ebene zum Flußdelta hinauf. Vor ihnen in der Ferne lag der finstere Gürtel eines Waldes. In einer Senke saßen einige Gestalten und eine Handvoll Pferde war bei ihnen - auf diese Gruppe eilten die fünf zu.
Zwei weitere Elfenpaare, die Fuin und Celeborn aus der Stadt kannten, warteten am Lagerfeuer. Ein junger Elf in Lederkleidung mit typischen Elfenverzierungen begrüßte Iorweth: "Du bist als Iorweth, von dem Coinneach immer so schwärmt. Schön dich einmal persönlich kennen zu lernen. Ich bin Errdil, ich führe sie in den Brokilon." Sein Händedruck war kräftig, auch wenn Errdil nicht sehr groß und ausgezerrt war. Am Lederband um seinen Kopf hingen zwei Federn und ein Eichhörnchenschwanz herunter. "Wir ruhen uns noch paar Stunden aus und brechen dann in der Morgendämmerung auf."
Vier der Pferde trugen jeweils ein Elfenpaar. Errdil ritt ihnen voraus. Iorweth schaute ihnen traurig nach. Doch Elfen weinten nicht, so waren ihre Gesichter ernst und emotionslos geblieben. Sein Vater, dachte Iorweth, hatte sich mit einem so bestimmenden "Leb wohl, mein Sohn. Und möge mein Opfer am Ende des Weges nicht umsonst sein." - dass er ahnte, seinen Vater nicht mehr lebend wieder zu sehen. Hätte Iorweth geahnt, wie recht er damit behalten würde, vielleicht hätte er doch eine einzelne Träne ihm zum Abschied vergossen?
Er trieb sein falbes Reittier nach Norden auf den Fluss zu. In der Ebene hatte sich eine Hundertschaft Temerische Soldaten gesammelt, die darauf warteten, dass zwanzig Proviantwagen aus dem Inland mit der Fähre übersetzten. Im Süden war Krieg ausgebrochen - Nilfgaard war in Cintra eingefallen und belagerte die gleichnamige Hauptstadt. König Foltest sicherte nun seine südlichen Grenzen zu Brugge und Sodden ab, da es den Nilfgaarder Kaiser weiter in den Norden streben konnte.
"Halt Elf, wohin des Weges?" wurde er schließlich kurz vor dem Ufer von vier emsigen Soldaten aufgehalten.
"Ich bin ein Bürger Wyzimas und wünsche nur nach Hause zu gelangen und hierzu die Fähre zum Übersetzten zu nutzen, um mir einen beschwerlichen Tag langen Ritt um den See zu ersparen." Um seine Harmlosigkeit zu unterstreichen, neigte Iorweth sein Haupt und grüßte mit offener Hand.
"Dann hast du sicher einen Pass oder Geleitbrief, der dich als solcher ausweist?" wandte der Soldat unbeeindruckt ein und legte demonstrativ seine Hand auf den Knauf seines Langschwertes.
Iorweth griff langsam in sein gestepptes Wams und zog ein gefaltetes Pergament hervor und überreichte es dem fleißigen Kontrolleur. Der faltete es auseinander und tat so als lese er es, erkannte dann das überall bekannte Fuggerische Kaufmannssiegel - das ein stilisiertes Schiff zeigte. "Mit was treibt ihr den Handel?" Er gab das Pergament zurück.
"Mit Stoffe, Gewebe und Garn", log Iorweth und steckte den gefälschten Pass ins Wams zurück. "Wenn eure Frau ein neues Kleid wünscht, kommt meinen Herrn Jorvett Gantheim besuchen." Herr Gantheim war tatsächlich ein bekannter Kaufmann in Wyzima und auch das Siegel bewies eine gewisse Echtheit, aber alles andere war geschickte Tarnung, die ihm Coinneach schon vor einiger Zeit besorgt hatte.
Der Soldat winkte ihn zur Seite und widmete sich einem der Proviantwagen. Iorweth setzte mit seinem Pferd und der Fähre über den Fluss. Drüben warteten die letzten drei Proviantwagen auf die Überfahrt.
Der Elf ritt am Ufer Richtung Osten entlang. Ihm gegenüber - vom Fluss getrennt - erstreckten sich die Mauern Wyzimas. Die Burg des Königs glänzte in der Sonne, eine sanfte Brise brachte die unzähligen schwarz-weißen Fahnen zum wehen - weiße Lilien auf schwarzem Grund. Zwei Stunden dauerte der lockere Ritt - denn Iorweth hatte es nicht eilig - als er an eine Brücke kam, die am schmäler werdenden Teil, wo der See in einen Flussarm abzweigte, auf die östliche Bucht unterhalb Wyzimas führte. In diesem fruchtbaren Teil des Umlands lag ein weitläufiges Dorf, wo Landwirtschaft und Fischfang betrieben wurde.
Von dieser Seite führten zwei Brücken auf die Insel, die die Hauptstadt einnahmen. Doch Iorweth betrat sie nicht, er lenkte sein Reittier ein Stück am Ufer entlang und band es dann dort abseits an einem Baum fest. Ihm waren die sechs in Formation reitenden Soldaten in blaugestreiften Lederrüstungen aufgefallen, die über die Brücke am Maliborer Tor auf die Siedlung zugeritten kamen. Zielsicher hielten sie auf ein Lagerhaus zu, um das fünf weitere Hütten am Ufer standen. Ein kräftiger Kerl mit ein paar Fettpolstern zu viel stellte sich ihnen entgegen. Iorweth, der sich bis an den Steg beim Lagerhaus, bis unter ein an Land gezogenes Boot hatte auf Hörweite heranschleichen können, erkannte den Hauptmann Vernon Roche an seiner Stimme wieder. Und den vollschlanken Kerl hatte er einige Male bei Coinneachs Zusammenkünften gesehen: er hieß Haren Brogg - und war wohl der Händler, der auch mit den Scoia’tael Geschäfte machte.
"Lass uns ins Haus gehen und wir besprechen die heiklen Geschäfte bei einem kühlen Bier", erwiderte der Hauptmann und betrat mit Haren Brogg das Lagerhaus.
Iorweth krabbelte unter dem Boot hervor und hastete in dem Moment zur Lagerhausseite, als einer der Soldaten, die draußen warteten, ihm den Rücken gekehrt hatte. Lautlos sprang er auf ein Fass und hangelte sich aufs Dach. Er robbte sich vorsichtig bis ans Fenster und lauschte.
"Wenn du gegen Coinneach Dá Reo aussagst, übersehe ich, dass du bis zu diesem Zeitpunkt mit den Scoia’tael Handel getrieben hast. Wenn wir diesen Elf festsetzen können, bleibst du unbehelligt. Natürlich musst du als Zeichen guten Willens deine Geschäfte einstellen. Viel lieber wäre mir, du nutzest deine Beziehungen, um uns einige Eichhörnchen auszuliefern. Und dann kann darüber verhandelt werden, ob dir eine Belohnung ansteht."
"Ihr habt mir eine Belohnung für Coinneach versprochen." Haren Broggs Stimme zitterte, er hatte Angst.
"Du rettest deine Haut, Brogg! Das muss fürs erste genügen. Je mehr du mir entgegenkommst, umso eher springt auch was für dich dabei heraus. Ich lass nicht mit mir handeln." Einige Minuten tauchten sich in Schweigen.
"Ich will jeden Namen der dir einfällt, der mit diesem Banditenelf kooperiert. Wer gehört zu seinem engsten Kreis? Hast du einen handfesten Beweis, der Dá Reo belastet? Nenn mir seine Verstecke. Jede kleinste Detail!"
Nach einer kurzen Weile begann der Händler Haren Brogg zu erzählen, er nannte einige Namen an die er sich erinnerte; verriet zwei Verstecke, von denen er wusste. Vernon Roche hörte aufmerksam zu und notierte sich etliches. Auch Iorweths Namen wurde so nebenbei erwähnt.
Der Hauptmann Roche verließ allein das Lagerhaus und befahl seinen Männern aufzusitzen. Es war der Name eines Barons von Knappensteinberg gefallen, einer der unzähligen Adligen, die sich am Königshof Foltest bewegen konnte. Der Hauptmann der Spezialeinheit würde nicht wagen dem Edelmann zu drohen, vermutlich würde er ihn mit gesetzten rechtlichen Argumenten zu überzeugen versuchen und an seine Königstreue appellieren.
Iorweth musste Coinneach warnen. Die Schlinge um ihn schien sich zuzuziehen. Der Elf wusste nicht, wie viel Verräter und Beweise der Hauptmann schon gegen den Elf der Unterwelt in der Hand hatte, aber er ahnte, dass es schon ausreichen würde. Er schwang sich vom Dach und rannte unbemerkt zu seinem Falben.
Von den Blauen Streifen war nichts mehr zu sehen, als Iorweth die Brücke zum Maliborer Tor betrat. Konnte er es noch riskieren und offen durch die Straßen Wyzimas reiten? Im Schritt lenkte er sein Pferd zwischen die Handvoll Reisender und kam unbehelligt durch.
Er eilte zum Wohnversteck Coinneach und erfuhr, dass der vom abendlichen Besuch seiner Baronesse Iphingenia noch nicht zurück gekehrt sei. Er konnte nicht ohne weiteres zum Herrenhaus der von Knappensteinbergs reiten, sie würden ihn niemals einlassen. Aber daneben wohnte Iphingenias Freundin die Comtesse Ludamille - ein paarmal hatte er das sexhungrige Mädchen besucht - sie konnte er bitten, Coinneach bei der Baronesse aufzusuchen.
Zu Fuß huschte er durch die Straßen der Oberstadt und betrat durch den Seiteneingang der Diener das Stadthaus des Herzogs von Richthoffer-Bergen. Unbemerkt gelangte er zu den Gemächern der Comtesse Ludamille. Die Sonne stand noch nicht im Zenit und das blonde Mädchen lag noch in ihrem Bett, wie Iorweth vermutet hatte.
Freudig sah sie dem Elf entgegen und klopfte auf die Bettdecken. Ihr spärliches Nachthemdchen bedeckte kaum ihre Rundungen.
"Ich bin nicht deshalb hier", keuchte Iorweth, ein wenig außer Atem. "Du musst mir einen Gefallen tun. Jetzt sofort, es ist dringend. Bitte, es geht um Leben und Tod!"
Sie erhob sich aus dem Bett, ging zu ihm hin und kraulte ihm das Kinn. "Um Leben und Tod geht es? Ich werde erst mal ein ausgiebiges Frühstück zu mir nehmen, bevor ich vor Hunger noch sterbe." Sie lächelte und fasste den Elf in den Schritt. "Und du wirst mein Nachtisch."
Iorweth streifte etwas grob ihre Hand fort. "Du musst deine Freundin die Baronesse Iphingenia aufsuchen - jetzt gleich, sofort. Und wenn Coinneach bei ihr ist, ihm eine Nachricht von mir geben. Ich muss ihn unverzüglich sehen. Bitte!"
"Ich muss gar nichts", maulte Ludamille erzürnt. "Was ist nur los mit dir? Außerdem stinkst du nach Pferd."
In diesem Moment betraten ein Diener mit einem Tablett und zwei hinter ihm laufende Männer das Gemach der Blondine. Ludamille erfasste als erste die Situation, ließ sich aufs Bett fallen und schrie den drei hereintretenden Männern entgegen: "Zu Hilfe, mein Liebster. Helft mir Bruder. Dieser Elf wollte mich vergewaltigen! Er dachte wohl, jede gelangweilte Adlige verzerrt sich nach seiner elfischen Schönheit."
Der fettbackige Verlobte stürmte verunsichert auf den Elf zu, blickte bestürzt auf seine fast nackte Verlobte und zurück zu Iorweth
"Du spitzohriger Hund", brüllte der Bruder der Comtesse und griff nach der Flasche Tafelwasser auf dem Tablett des Dieners und stieß ihn zur Seite. Ohne zu zögern zog er dem Elf die Flasche über den Kopf, dass sie zerbarst.
Iorweth taumelte zurück, fasste sich an den Kopf, wo Wasser und Blut über sein rechtes Auge lief. Ihm schwindelte, doch instinktiv griff er nach seinem Sihil im Gürtel. Aber er konnte die Waffe nicht ziehen, denn der Bruder der Comtesse schlug mit dem kantigen Rest der Flasche, die er noch in der Hand hielt zu. Das scharfe Glas zerschnitt ihm das Gesicht, weiteres Blut quoll aus tiefen Schnitten über Stirn und Auge und nahm dem Elf die Sicht. Der scharfzackige Flaschenrest wurde ihm in die Backe gerammt, blind wehrte Iorweth den Angreifer ab und stürzte zu Boden, wo ihn die beiden Männer mit Tritten traktierten.
Da erklang ein weiblicher Kampfschrei, jemand stürmte ins Gemach. Ludamille kreischte auf, Schwertklingen surrten durch die Luft. Dann schrien der Bruder und der Verlobte auf und jemand packte den schwer blutenden Iorweth am Wams und zog ihn mit sich.
Iorweths rechte Hand hielt das zerfetzte Gesicht, zwischen den Finger quoll weiterhin Blut, viel Blut. Durch das Blut hindurch erkannte er seinen Freund Riordain. Iorweth kämpfte sich auf die Beine, vom Freund gestützt eilten sie aus dem Gemach. Eine weitere Elfe mit zwei Elfensihilen in der Hand deckte ihnen den Rückzug. Sie kamen über den Seitenausgang bis auf die Straße. Keiner der Anwohner wollte sich den klingenschwingenden Elfen in den Weg stellen, aber einige riefen nach der Miliz. Sie mussten es in die unterirdischen Kloaken schaffen, bevor sich ihnen Soldaten entgegenstellten. Mit Iorweths Hilfe, der trotz Schmerzen und Blutverlust nicht ohnmächtig wurde, fanden sie einen Eingang in die Kloaken.
Die Soldaten, die wenige Minuten später am Herrenhaus des Herzogs ankamen, mussten nur einer Blutspur folgen, die der Elf hinterlassen hatte, um die Verfolgung aufzunehmen.
"Lass ihn zurück, wir müssen fliehen", sagte die fremde Elfe, "er hat unterwegs so viel Blut verloren, dass die Soldaten jeden Moment hier sein werden. Er wird es eh nicht überleben und wir mit ihm sterben."
"Ich lass ihn nicht zurück, Toruviel. Hilf mir!" Riordain merkte, wie Iorweths Körper schlaff wurde und er ihm drohte aus den Händen zu gleiten.
"Nach links", stammelte Iorweth. "in ... zweiten Tunnel ... ganz durch ...ein Versteck."
Die Elfe mit Namen Toruviel stützte Iorweth auf der Gegenseite und sie stolperten den Gang links entlang. Der zweite, folgende Durchgang war ein dunkler schmaler Tunnel, durch den sie nur auf Knien vorankamen. Riordain ging über seine Kräfte hinaus, als er sich auf seinem Hosenboden durch den Tunnel zwängte und den inzwischen bewusstlosen Iorweth hinter sich her zog.
"Cáemm 'ere! Tháess aep!" zischte die Elfin. Auch Riordain konnte das Trampeln schwerer Stiefel auf Stein hören.
Die Soldaten waren in den Gängen der Kloake. Jemand blaffte Befehle, zwei Trupps schwirrten nach links und rechts aus. Einer der Trupps näherte sich auch ihrer Seite. Das diffuse Licht von Fackeln huschte über die feuchten Mauerwände. Die Elfen hielten den Atem an und hofften weit genug in die Schatten geraten zu sein, um unentdeckt zu bleiben. Ratten huschten aus dem Lichtschein.
"Mistratten!" grunzte ein Soldat ganz nah. "Dann weiter suchen!" rief ein anderer. Es wurde wieder dunkel und die Stimmen und Schritte entfernten sich.
Die zwei Elfen zogen erleichtert die stinkende Luft ein. Riordain nahm die Hand vom Mund Iorweths, sie war voller Blut. Dann zogen sie sich mühsam, da sie auch leise sein wollten, durch den engen Tunnel.
"Er hat sich mit Dh'oine eingelassen, das hat er nun davon. Wir sollten ihn hier krepieren lassen." hörte er die harte Stimme Toruviels sagen.
"Hilf ihm, bitte!" jammerte Riordain.
"Ich weiß nicht, warum ich dir helfe, du elender Halbelf", brummte die Elfenkriegerin. "Ich brauche Nähzeug, Kräuter, sauberes Linnen - kannst du mir das besorgen? Ah, und vergiss nicht was zu Trinken und Essen."
Die ganze rechte Gesichtsseite pochte und schmerzte ihm. Das Auge war verklebt, nur das linke konnte Iorweth öffnen. Sie waren in einem kleinen Raum des unterirdischen Labyrinths der Kloaken. Einem Versteck. Ein Feuer brannte und in einem verbeulten Kessel kochte Toruviel Wasser ab. Er selbst lag daneben, ein Stück Lumpen lag unter seinem Kopf.
Die Elfenfrau verzog den harten Mund zu einem grinsenden Lächeln. Ihr kastanienbraunes Haar war in schmalen Zöpfen geflochten und ein Lederband fixierte sie, ein Eichhörnchenschwanz war daran befestigt. Sie trug eine leichte Lederrüstung, das umbrafarbene Leder war speckig und schmutzig. Neben ihr ruhten in einem schmucken Köcher ein kurzer Jagdbogen und zwei Elfenschwerter. "Andere sterben an Ort und Stelle und du machst einen Spaziergang daraus. Ich bin Toruviel."
"Ior... weth", brachte er in zwei gestammelten Silbern aus zerfetzten Lippen hervor.
"Ich weiß." Für eine Elfin hatte sie ein viel zu ernstes, markantes Gesicht, um wirklich hübsch zu sein. Sie riss sein Hemd in Streifen, zumindest den noch einigermaßen sauberen Teil seines vom Blut durchtränkten Hemdes. Tauchte einen Teil der Fetzen ins abgekochte Wasser und begann sein Gesicht abzuwaschen. Sie zog ihm einige Glassplitter aus der Backe, dem rechten Auge und der Stirn.
"Wie... schlimm... ist... es?" wollte Iorweth wissen und vermied jegliche Gesichtsmimik, die ihm nur weitere Schmerzen durch den Kopf jagten.
"Das willst du nicht wissen, mein junger Iorweth", seufzte die Elfe und zog einen weiteren Splitter aus dem Loch in der Backe. "Wenigstens hat es zu bluten aufgehört." Sie legte ihm ein feucht-warmes Tuch über die rechte Kopfhälfte. "Was hast du in dem Haus überhaupt gewollt?"
"Ich... ...Coin... neach war... nen."
"Wenn dieser Mistkerl Coinneach sich mit einer Dh'oine vergnügt, während sein Imperium hinter ihm zu fallen beginnt, dann hat er keine Warnung verdient." Blanker Hass sprach aus Toruviels Worten.
"Die... Sco... 'tael... mög'n... Coin... neach... grade", stotterte Iorweth.
"Neén, wir Scoia’tael mögen Coinneach Dá Reo nicht. Er kämpft nicht für unsere Sache. Er verfolgt eigene - sehr egoistische - Ziele. Er paktiert mit, für meine Geschmack, zu vielen Dh'oine. Davon ist er dekadent und falsch geworden."
"Denkst... du... das... auch..." Iorweth griff sich ins schmerzende Gesicht. "Ich... bin... sein..."
"...hochgeschätzter Freund und sowas wie die rechte Hand Coinneachs", vollendete die Elfin den Satz. Sie zuckte die Schultern und blickte finster funkeln zu dem verletzten Iorweth herüber. "Aus welchem Holz du geschnitzt bist, wird sich noch zeigen müssen."
6
Die Elfenkriegerin Toruviel hatte Iorweths Gesichtswunden zusammen genäht, dick mit einem antiseptischen Kräutersud bestrichen und fast den ganzen Kopf mit sauberen Leinenstreifen umwickelt. Nur das linke Augen, ein Teil der Nase und die linke Mundseite blieben frei. Gegen die höllischen Schmerzen hatte man ihm eine betäubende Droge eingeflößt - gegen seinen Willen. Nun lief Iorweth wie ein Betrunkener an Riordain's Seite, der ihm half. Alle drei Elfen waren in dunkelgrüne Umhänge gekleidet, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen.
"Wieso bringen wir ihn nicht in den Brokilon?" wollte der Halbelf wissen.
"Weil es zu weit ist. Das würde er nicht überleben. Wir bleiben erst mal im Umland. Nahe der Schwarzschwalbeninsel im Süden des Sees gibt es einen Scoia’tael-Unterschlupf. Aber erst müssen wir aus dieser verfluchten Stadt heraus!"
Es war nach Mitternacht, die Nacht war kühl und finster. Nahe dem Wohnhaus von Coinneach waren die drei aus den Kloaken aufgetaucht. Vereinzelt brennende Pechfackeln an Hauswänden spendeten notdürftig Licht. Sie betraten das Haus, durch die bereits von einem anderen Stiefelpaar eingetretene Tür. Das Innere war ein heilloses Durcheinander von verstreuten Utensilien und umgeworfenen Möbeln. Hier war nichts mehr zu holen, alles Brauchbare war entweder bereits gestohlen oder kaputt gehauen worden.
"Haben sie Coinneach gefangen?" fragte Iorweth.
"Neén. Er entkam", antwortete ihm die Elfe, die am Fenster neben der Tür stand und nach draußen blickte. "Die Patrouille ist vorbei gegangen. Wohin nun?"
Iorweth hielt sich den verbunden Kopf und versuchte sich in seinem benebelten Zustand zu konzentrieren. "Zum Osttor, dort gibt es einen Ausgang. Dann entweder schwimmen oder wir hangeln uns unter der Brücke ans andere Ufer."
Vor dem unscheinbaren Ausgang stand ein Wachsoldat. Auf den hohen Wehrmauern darüber patrouillierten weitere Soldaten. "Verdammt", flüsterte Iorweth, "es wimmelt ja nur noch von Wachen."
Jetzt half nur eine List. Toruviel schlich sich auf die Gegenseite des Wächters am Ausgang heran, so nah es ging. Iorweth blieb rechts und schaffte es bis an das Stadthaus neben der bewachten Tür. Er stand wartend im Schatten der Türnische, sah den Wachsoldaten selbst nicht. Da rollte klirrend ein alter Krug auf die Straße. Kurz darauf tauchte der Wachsoldat auf, die Hellebarde vorgestreckt. Der Elf schüttelte sich die schwindelnde Trägheit ab und stürzte vor. Ergriff den Wächter am Hals, schloss ihm den Mund bevor er schreien konnte und zog ihn an die Mauer zurück. Schon war die Elfin herbei und rammte dem verwunderten Wachsoldaten die Klinge in die Brust. Geschickt fing sie die Hellebarde auf, bevor irgendwelcher Lärm weitere Wachposten alarmieren konnte.
Riordain half Iorweth den toten Wachsoldaten in einer dunklen Ecke an der Rückseite des Hauses zu verstauen. Mit einem Dietrich schaffte es der verbundene Elf nach in ewig sich hinziehenden Minuten, den verschlossenen Ausgang zu öffnen. Die drei schlüpften nach draußen. Tasteten sich an der Mauer entlang, bis zu einer kleinen Biegung, hinter der sie gerade noch Deckung fanden. Vor ihnen lag die östliche Brücke - zwei Soldaten schoben davor Wache.
Ein kurzer felsiger Abhang führte hinunter zum Seeufer. Iorweth legte sich auf den Bauch und rollte sich - jegliches Geräusch vermeidend - hinunter. Riordain folgte ihm, war aber nicht ganz so leise. Ab und an rollten Kiesel unter seiner Bewegung weg.
Von der Brücke bewegte sich einer der Wachsoldaten in ihre Richtung. Toruviel hielt schon ihr Sihil in der Hand.
Ein lautes Platschen kam unerwartet von der anderen Seite der Brücke und lenkte die Soldaten von den Elfen ab. Der Wachsoldat rannte zurück, seinem brüllendem Kollegen entgegen: "Patty komm schnell her, dort kommt was großes aus'm Wasser!" - "Was kommt da, Muth?" - "Ich kann es nicht richtig sehen, aber es könnte ein ertrunkener Untoter sein!" - "Schon wieder? Wir brauchen hier dringend mal einen Hexer!"
Toruviel sprang den Abhang hinunter und riss Riordain mit sich. Sie nutzten die Ablenkung und stolperten zur Brücke. Die schwere Holzkonstruktion bot einen schmalen Balkenabsatz darunter, die eine trainierte Person in angemessener Zeit bis ans andere Ufer durchklettern konnte. Iorweth ging voraus, aber seine Betäubung und die Kopfverletzung ließen ihn zusehends müder werden. Toruviel musste dem Halbelf helfen und so dauerte ihre Kletterei zwischen den Balken und Säulen doppelt so lange, als sie es gedacht hatten. Denn nachdem wohl doch kein Untoter aus den Fluten gestiegen war, und die Wachsoldaten wieder ihren Posten vor dem Tor eingenommen hatten, mussten die Elfen auch verdächtige Geräusche vermeiden. Der Morgen dämmerte bereits, als sie am Festland ankamen.
Das weitläufige Dorf und Felder lagen frei vor ihnen. Der sie schützende Wald war noch eine Laufstunde von ihnen entfernt, das erkannten auch die Elfen.
"Eilen wir uns", brachte Iorweth ein und lief im leichten Laufschritt weiter nach Osten.
Den Hauptbereich des Dorfes hatten sie passiert, als die Sonne am Horizont auftauchte. Wo es ging suchten sie Deckung und wären fast mit dem Mann zusammen gestoßen, der am vorletzten Bauernhof dastand und den Sonnenaufgang beobachtete.
Er trug einen Lederwanst mit blauen Streifen und sein Ruf lockte weitere Soldaten der Spezialeinheit herbei. "Scoia’tael!" Ein Kampfbeil lag in seiner Hand und unvermittelt schlug er damit nach der vordersten Gestalt im Elfenumhang.
Iorweth schoss Adrenalin durch die Blutbahn, als der Kerl mit seiner Axt nach ihm hieb. Er tauchte unter dem Schlag ab und warf sich zu Boden. Hinter ihm tauchte Toruviel auf und ließ ihre beiden Elfensihile kreisen. Während Iorweth mit hämmernden Schädel wieder auf die Beine taumelte, sah er drei weitere "Blaue Streifen" auf sich zu reiten. Zu viele Angreifer, ausgeruht und auf Pferden, dachte er, während er nach seinem Schwert griff, und ich bin unerträglich müde.
Der erste Reiter erreichte ihn, Iorweth musste erneut aus dem Weg springen, bevor ihn das Pferd überrannte. Den nächsten Soldaten zu Pferde konnte er mit seinem Sihil blocken, aber er merkte, er hatte nicht mehr viel Kraft, um dessen harten Schläge mit dem Breitschwert zu parieren. Toruviel benötigte auch zu viel Zeit für den Kerl mit dem Beil und der erste Reiter hatte Riordain gestellt.
Doch da nahte unerwartet Rettung. Pfeile flogen durch die Luft und töteten den dritten Reiter, bevor der sich einem seiner Kumpane anschließen konnte. Über das abgeerntete Stoppelfeld fegten drei Reiter in wallenden grünen Umhängen und kunstvollen Elfenbogen in Händen. Ihre Pfeile spickten nun die Soldaten.
Iorweth zog den Söldner aus dem Sattel, ein Pfeil steckte in dessen Hals, ein weiterer am Oberarm. Er griff nach den Zügeln und schwang sich nun selbst in den Sattel. Er preschte auf den Reiter zu, der Riordain bedrängt hatte. Sein Schwertarm hob sich unsagbar langsam, ihm wurde ein Wurfmesser entgegen geworfen. Im letzten Augenblick gelang ihm eine Drehung mit dem Oberkörper und das Messer flog an ihm vorbei.
Drei Pfeile ragten dem Söldner aus dem gesteppten Wams, die er wutentbrannt abbrach. Iorweth drängte ihn mit wuchtigen Hieben fort von Riordain. Toruviel hatte den Kerl mit Beil erschlagen und versuchte das Pferd des letzten Soldaten einzufangen. Vom Dorf näherten sich weitere Reiter, diesmal sieben an der Zahl, alle gutbewaffnete blaugestreifte Söldner.
Ein flätiger Fluch ging ungehört über seine Lippen, als er ihre Chancen zu entkommen abschätzte. Iorweth stieß seinem Reittier die Fersen in die Flanken, als er bemerkte, wie Toruviel - nun auch beritten - den jungen Halbelf aufs Pferd zog. Eine weitere Pfeilflut hielt seinen Angreifer erst mal auf Abstand. Nun galt es alles aus den Pferden herauszuholen und es bis zum dichteren Wald zu schaffen, bevor die acht Söldner, die sofort die Verfolgung aufnahmen, sie einholen konnten.
Die Elfen hielten sich dicht über den Hälsen der Pferde und preschten im halsbrechenden Tempo durchs Unterholz. Von einem unbedachten Moment zum anderen liefen die Pferde plötzlich alleine durch den Wald. Ihre Reiter waren in den Ästen und dichten Baumkronen verschwunden.
Wenige Minuten vergingen nur, als weitere acht blaugestreifte Reiter durchs Dickicht ritten, unbeirrt der Spur folgend. Doch bald hatten sie die reiterlosen Pferde eingeholt. Eine Weile streiften sie noch in zwei Trupps suchend durch den dichten Wald.
Iorweth lag auf einem sehr dicken Ast einer riesigen Eiche. Er lauschte den sich entfernenden Geräusche ihrer Verfolger und schlief erschöpft ein.
Eine Hand rüttelte ihn wach. Iorweth setzte sich auf und blickte einem braunhaarigen Elf mit einer kleinen Narbe auf der linken Wange entgegen. Der Scoia'tel trug eine zerschlissene Lederrüstung, aber sein Jagdbogen im reichverzierten Köcher war von Meisterhand gefertigt. Sein Gesicht schmerzte dumpf, die Betäubung hatte nachgelassen und der Schlaf hatte Iorweth einen Teil seiner verausgabten Kraft zurück gegeben. Er kletterte dem Elf hinterher, hinab auf den Boden, wo sie ihre Reise zum südlichen Unterschlupf fortsetzten.
Sie hielten sich erst westlich und verließen den Wald. Vor ihnen in den abgeernteten Feldern lag ein Bauernhof mit einem großen Viehstall anbei. Auf einer nahen Koppel tummelten sich drei Mähren. Lautlos schlichen sich die drei Elfenschützen an die Pferde heran, fanden am Zaum Halfter und führten die mageren Tiere unbemerkt zum Waldrand zurück. "Wir leihen sie uns nur", erwiderte der Kerl, der Iorweth geweckt hatte, "oder willst du den ganzen Weg laufen?"
Immer zu zweit teilten sie sich eine Mähre - Riordain saß mit bei Iorweth auf einem der Pferde. Sie ritten zurück in den Wald, stets die Umgebung im Auge behaltend. Bei verdächtigen Geräuschen verharrten sie oder machten einen großen Bogen darum.
Die Sonne war bereits untergegangen, als sie das Südufer des Sees erreicht hatten. Ein kleiner Flussarm schlängelte sich durch die sanft hügelige Landschaft. An einer niederen Furt konnte sie diesen sorglos durchqueren. Vor ihnen lag ein winziges Fischerdorf - bestehend aus drei Hütten, mit einem Anlegesteg und zwei Booten. Im Norden im See war die dunkle Silhouette der Schwarzschwalbeninsel zu erkennen. Ein Weg zweigte zwischen eine Klippenfurt und führte durch einen Wald - und würde zu einer weiteren Siedlung führen. Die Elfen hielten sich rechts am Ufer. Schließlich wurde das Gebiet unwegsamer, sie mussten die Pferde zurück lassen. Iorweth und Riordain folgten den schweigsamen Scoia’tael, bis sie in eine verborgene Bucht kamen, wo oberhalb wenige Lagerfeuer brannten, um die einige weitere Freiheitskämpfer saßen, dahinter war finster ein Höhleneingang auszumachen.
Ein Elf mit zeitlosem Gesicht, sicher aber der älteste unter ihnen, erhob sich vom Feuer und grüßte Toruviel. Er hieß Chireadan und war der Anführer des etwa vierzig Mann großen Trupps Scoia’tael.
"Das ist Iorweth, Fuin'isengrims Sohn. Trotz seiner schweren Verletzung fiel er uns hierher nicht zur Last. Er zeigt viel Ausdauer und Kampfesmut", stellte die Elfin ihren verbundenen Begleiter vor.
"Dann heiße ich dich willkommen, Iorweth. Ich teile gerne mein Feuer mit einem so tapferen Elfen." Der sanfte Schatten eines Lächelns erschien auf dem schönen Gesicht Chireadans.
"Verzeih, Chireadan, aber meine Ausdauer ist nicht unendlich. Viel lieber als der Platz am Feuer wäre mir ein sicherer Schlafplatz." Wie sich Iorweth überhaupt noch auf den Beinen halten konnte, war erstaunlich.
"Toruviel, weise ihm in der Höhle eine Stelle zu."
"Ich denke, wir werden alle eine Runde Schlaf brauchen", erwiderte die Elfenkriegerin und führte Iorweth und Riordain in die Höhle.
Im Inneren brannten weitere Lagerfeuer. Um eines lagen vier im Kampf verletzte Scoia'tel. An einem anderen Feuer wurde eine einfache Mahlzeit zubereitet. Im hinteren Bereich der geräumigen Höhle, mit dem sauberen, festgetretenen Lehmboden brannten weitere Feuer, die die Wohnstatt wärmte. Dort fanden sich einige Liegestätte mit Fellen und Decken, etliche besetzt von müden Elfen. Die drei suchten sich einen freien davon aus und kuschelten sich unter die rauen Wolldecken. Iorweth war fast sofort eingeschlafen.
Zwei Nächte und einen ganzen Tag hatte Iorweth durchgeschlafen. Verdammt hungrig erhob er sich und ging in den vorderen Bereich. Sein verletztes Gesicht fühlte sich taub an und er merkte, dass es frisch eingebunden worden war. In seinem Erschöpfungsschlaf hatte er davon nichts bemerkt.
"Du hast Glück", sprach ihn eine zierliche Elfe im orangefarbenen Kleid an, "die Wunden sind nicht entzündet, eitern nicht. Ich hab mir das gestern Abend angesehen. Ich bin Nestra'hil, eine Heilerin, ich kümmere mich um die Verwundeten."
"Hannad, Nestra'hil." Iorweth hatte sich ein Stück Brot genommen und leerte sich etwas von dem über dem Feuer brodelnden Eintopf in eine Schale. Die Heilerin war ein sehr puppenhaftes Wesen, für eine Elfe mit einem sehr rundlichen Gesicht und großen braunen Augen ausgestattet.
Später lernte Iorweth den Scoia’tael-Unterschlupf genauer kenne. Er sprach mit Chireadan, der derzeit eine Beinwunde auskurieren musste. Außer der Heilerin und Toruviel gab es noch acht weitere Frauen. Weitere dreißig Scoia'taelkrieger beinhaltete diesen hier lebenden Trupp. Mal starben welche, mal kamen andere Freiheitskämpfer hinzu. Eigentlich war es ein ständiges Kommen und Gehen. Verwundete kurierten sich hier aus, um sobald wieder gesund, sich erneut in den Kampf zu stürzen.
Im gesamten südlichen Gürtel vom westlichen Brokilon, durch Temerien über Aedirn bis hin zum Dol Blathanna im Osten hatten die geächteten Elfen zum Kampf um Freiheit aufgerufen. Unzählige unorganisierte Trupps von zehn bis fast hundert Scoia'taels zogen durch die Königreiche und machten den Menschen das Leben schwer.
Iorweth badete sich im See mitsamt seiner Kleidung - er fühlte sich dreckig und seine feine Nase sagte ihm er stank erbärmlich. Er legte sich auf einen Felsen nahe dem Ufer und ließ sich von der Sonne trocknen. Er fühlte sich als einsam Gestrandeter. Seine Familie war fortgezogen, er hatte nichts mehr von ihnen gehört. Coinneach floh ebenfalls von hier, wohin konnte ihn keiner sagen. Er hatte sein altes Leben in Wyzima verloren, konnte sich dort nicht mehr sehen lassen. Es war sogar ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt worden, weil er die beiden Edelleute getötet haben sollte. Vor einigen Tagen war er auf die Schwarzschwalbeninsel gerudert, um die Herrin vom See wiederzusehen, aber auch sie zeigte sich nicht, blieb verschwunden.
Doch das schlimmste daran war seine Entstellung, sein Gesicht. Im Spiegel des unruhigen Wassers starrte ihn eine rotfleischige Fratze entgegen - das Loch in der Backe begann zu einem grotesken Narbengeflecht zusammenzuwachsen. Unterhalb der rechten, leeren Augenhöhle begann eine breite Narbe, zog sich bis hinab zur Oberlippe und endete dort. An der Stirn gab es eine weitere unschöne Wunde, von der eine Narbe zurückbleiben würde.
Sein muskulöser Körper zeigte schon die ersten Anzeichen der spärlichen Nahrung, der Entbehrungen hier im Unterschlupf, er wurde hager und zäh. Doch Iorweth neigte nicht zum Selbstmitleid und tolerierte seine derzeitige Situation. Es war ein Schicksalswink gewesen, dass er dies alles überlebt hatte.
Eines Tages - nach einem hoffnungsgetränkten Traum, den ihn die Herrin vom See geschickt hatte - schnitt sich Iorweth das lange Haar nackenkurz und begann verbissen mit seinem Kampftraining.
Die Habseligkeiten eines verstorbenen Scoia’tael wurden unter den anderen immer aufgeteilt. So gelangte Iorweth an eine Lederrüstung und einen zweigeteilten Bogen. Ein dunkelrotes Tuch hatte er sich um den Kopf und die rechte Gesichtshälfte geschlungen.
Mit seinem Freund Riordain und vier weiteren jungen Freiheitskämpfern, begann er die Gegend unsicher zu machen. In erster Linie galten ihre Überfälle auf die Menschen nur einem Ziel: zu überleben. Jetzt wo der Winter vor der Tür stand, hatten die Menschen ihre Vorräte gehortet, in freier Wildbahn zählte die Jagd. Essen, Nahrung auftreiben, war oberstes Gebot. Doch Spezialeinheiten, Bürgerwehr und die Miliz der nahen Hauptstadt erschwerten es ihnen.
Im kargen, kalten Winter, der diesmal bis in die südlichen Ebenen Schnee mit sich brachte, stellte sich Erstarrung ein. Hunger und Kälte zerrten an den ausgemergelten Leibern der Elfenkrieger. Die schwächsten überlebten nicht. Nur Iorweths kämpferischer Übereifer war es zu verdanken, dass nicht noch mehr starben, als jene, die eh gestorben wären. Bei einem seiner Überfälle auf einen fahrenden Händler aus Redanien, nördlich von Wyzima, erbeutete er einen Wagen voll mit Gewürzen, gegerbtes edles Wyverneleder zwei Fässer mit Toussainter Wein. Leder und ein Fass Wein behielten sie, die Gewürze und das zweite Weinfass tauschen sie gegen Lebensmittel im südlichen Dorf ein.
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Als der Frühling wiederkehrte, drangen die Schwarzen Reiter von Nilfgaard über die Jaruga und eroberte Brugge und Sodden - zwei Provinzen im Süden Temeriens. Nachdem sie zuvor Cintra und weite Teile Angren in verbrannte, tote Wüsten verwandelt hatten. Aus dem nahen Gebirge Mahakams kamen die Zwerge den Menschen zu Hilfe. Die ganzen nördlichen Königreiche schienen König Foltest von Temerien zu Hilfe zu eilen, schickten ihre Armeen und Zauberinnen. Auf der Anhöhe von Sodden kam es zu einem folgeschweren Kampf, an dem sich vierzehn Zauberer beteiligten und das Blatt zu Gunsten Temeriens änderten. Davor hatte es fast so ausgesehen, als siegten die schwarzen Krieger aus dem Süden.
Nur widerwillig gab der Kaiser von Nilfgaard die nördlichen Gebiete des Grenzflusses Jaruga auf. Er hatte in Kovis einen zahlungskräftigen Verbündeten und die Königin von Lyrien hatte ihm schon recht früh den Treueeid geschworen. Im Schatten der vier nördlichen Königreiche Temerien, Redanien, Kaedwen und Aedirn hatte sich Kovis unbemerkt zu einem mächtigen Land hochgehandelt, in dem es sich das uneingeschränkte Monopol auf den Seehandel unter den Nagel riss und auf den großen Handelsstraßen dominierte. Kovis konnte die letzten Jahre so viel Geld anhäufen, dass es sich Unabhängigkeit und Macht kaufen konnte.
Es mussten Kompromisse gemacht werden. Brugge und Sodden fiel Nilfgaard zu, und wurde von diesen besiedelt. Lyrien unterstand dem Kaiser ebenfalls und die Elfenzauberin Francesca Findabair bekam das Gebiet, das als Blumental - Dol Blathanna - bekannt war. Mit einer traurigen Auflage allerdings: Die meisten jungen Elfen - die zu den Scoia'tel zählten - durften in ihr freies Elfenland nicht einkehren.
In den zwei Jahren in der der Krieg zwischen Nilfgaard und den nördlichen Königreichen gedauert hatte, organisierte Iorweth die freien Elfen neu. Er schloss die einzelnen Scoia'tel-Truppen zu einer flächendeckenden Organisation von Freiheitskämpfern zusammen. Doch ihr eigentliches Ziel verlor sich im Chaos des Krieges. Stattdessen wurden sie zum Spielball zwischen den Fronten, kämpften auf beiden Seiten unerbittlich gegen die Menschen, die Dh'oine, wie sie sie nannten. Iorweth wurde zu ihrem Anführer, wegen seiner Gnadenlosigkeit und seines markanten Aussehens, hatte er bald den Ruf eines hässlichen Schlächters bekommen. Und wurde in allen nördlichen Königreichen mit einem hohen Kopfgeld gesucht.
Ein besonders dreister Scoia'tel-Trupp überfiel am Rand eines Schlachtfelds die Lazarette und töteten dort die Verwundeten. Abgeschaut hatten sie sich das von der Nilfgaarder Elfen-Brigade Vrihedd - Iorweth fand heraus, dass kein geringerer als Coinneach Dá Reo diese kaltblütigen Elfen anführte. Was neuen Hass gegen die Elfen schürte. Überall wurde Jagd auf die Eichhörnchen gemacht. Bekam man welche zu fassen, wurde sie sogleich am nächsten Baum aufgehängt.
Die weniger kriegerischen Elfen, assimilierten sich und lebten meist in ärmlichen Ghettos zusammen mit anderen Anderlingen, wie Zwergen und Halblingen. Man hatte ihnen nicht nur den Reichtum und die Freiheit geraubt, sondern auch ihre Würde und ihre Hoffnung auf eine friedvolle Zukunft.
Und erneut war es das Temerische Gebiet in dem die Unruhen begannen intensiv zu brodeln. Als die Nilfgaarder Gefahr abgewandt war und ein zweifelhafter Frieden unter den Königreichen erkauft worden war, war nur kurz Ruhe.
Aydan La Valette, der Neffe von König Foltest, besetzte ein Gebiet im Norden Temeriens und forderte so seinen Onkel heraus. Der hatte schon genug eigene familiäre Probleme, da er keinen legitimen Thronfolger hatte. Nur sehr zögerlich ließ er sich auf den Kampf mit seinem Neffen ein, in der Hoffnung ihn doch nochmals zur Vernunft zu bringen.
Als Demawend - König von Aedirn - einem Meuchelmörder zum Opfer fiel. Veranlasste das den König des nördlich gelegenen Kaedwen, König Henselt, dazu ins Pontartal vorzudringen. Obwohl der Aedirner Thron noch leer blieb, weil sich die Adligen und Würdenträger des Reiches nicht für Prinz Stennis erwärmen konnten, dem Sohn von Demawend's Schwester, hatte niemand mit den dort ansässigen Bewohnern gerechnet, die zur Revolution aufriefen. Das Volk war es, das sich tapfer gegen das Eindringen ihres Nachbarn aus Kaedwen wehrte. Bauern, Handwerker und freie Bürger griffen beherzt zu den Waffen und bald war von einer Anführerin die Rede, die das ganze Pontartal gegen den Eindringling König Henselt aufhetzte: Saskia die Drachentöterin, eine mutige Jungfrau in Rüstung und Schwert.
Iorweth hatte sich in die dichten Wälder im Nordosten Temeriens zurückgezogen. Fast täglich trafen bei ihm Nachrichten vom Pontartal oder der Belagerung der La Valette-Burg ein. Noch konnte er seine Scoia'tel aus diesen Scharmützeln heraushalten, was sich aber mit dem Eintreffen eines Mannes total ändern sollte...