Читать книгу Die Kiste der Krise - Niels Rudolph - Страница 4
1. Prolog: alte Bande
ОглавлениеDie Sonne schien auf den Zaubererturm, der ein paar Kilometer landeinwärts der Steilküste des Meeres des verlorenen Tropfens, hoch über dem goldbraunen Ozean, thronte.
Der junge Zauberer in der schneeweißen Robe mit den goldenen Symbolen, der ihn bewohnte, klappte das Buch zu, strich sich mit der Hand durch das dunkelblonde Haar und über die ermüdeten Augen. Er blinzelte und hörte von draußen das wilde Geschrei einer Armee von Orks, die auf die Verteidiger der Grenzfestung eindrang. Gelassen nippte der Mann an seinem Tee und lächelte still in sich hinein. Es spielte keine Rolle, wer am heutigen Tage siegreich wäre. Nach den Ereignissen vor ein paar Jahren hatte die Zahl der Zauberer stark abgenommen und Wulfhelm war nun der mächtigste Magier des Landes Ardavil, wie zuvor sein verstorbener Meister Martor. Wenige Worte von ihm genügten, um die Kampfhandlungen im Garten des Zaubererturmes zum Erliegen zu bringen.
»Wer möchte Kuchen?«, rief er aus dem Fenster und schon Sekunden später stürmten Angreifer und Verteidiger die Diele des Magierdomizils in friedlichem Nebeneinander.
»Nicht drängeln. Jeder bekommt etwas ab«, sagte Harika, Wulfhelms Ehefrau, und verteilte Kuchenstücke an die Kinderschar, die sich eilig am Tisch versammelt hatte. Holzschwerter fielen klappernd zu Boden und die Kleinen lachten und prahlten mit ihren Heldentaten.
Die meisten Kinder kamen aus dem Fischerdorf, das gute zwei Stunden Fußmarsch westlich des Zaubererturmes lag. Eine stolze Wegstrecke, die die Kleinen nicht so einfach bewältigen konnten. Es hatte auch lange gedauert, bis die abergläubischen Bewohner des Dorfes es gewagt hatten, ihre Kinder in die Obhut des Zauberers und der Kriegerin zu geben. Aber heute war ein besonderer Tag, der zehnte Geburtstag von Wulfhelms und Harikas Sohn, Avion. Für die Feier hatte Wulfhelm die Kinder eigens mit Hilfe eines Transportzaubers in den Zaubererturm gebracht. Um jedoch Unruhe bei den Dörflern zu vermeiden, sprach er den Zauber erst außer Sichtweite des Dorfes. Am Ende gab man ihm noch die Schuld daran, wenn einer der Bengel eine Warze oder Haltungsschäden bekam, möglicherweise sogar die Sehkraft nachließ.
Zauberer waren zwar mächtige Leute und niemand legte sich gern mit ihnen an, aber die Natur ihrer Macht brachte es auch mit sich, dass sie an allem Schuld waren, was sich nicht auf Anhieb und logisch erklären ließ.
Zwölf Jahre war es nun her, dass Harika, die Kriegerin mit den kastanienbraunen Haaren, und Wulfhelm sich in der Nähe des Turmes an einem Bach kennengelernt hatten. Nach ihrem Sieg über Yolanda und ihre seltsame Maschine waren sie mit ihren Freunden Darius und Alandra nach Palmenhain gegangen und hatten im Tempel der Fruchtbarkeitsgöttin Inanna den Bund fürs Leben geschlossen. Der Dieb und die Elfe waren ebenfalls verheiratet - um genau zu sein, hatten sie mit dem ganzen Quatsch angefangen - und blieben in Palmenhain. Wulfhelm und Harika kehrten bald zu Martors Turm zurück, in den sie einzogen und wo der junge Zauberer seine Studien fortsetzte. Mit Hilfe eines Zauberbuches gelang es ihm, den magischen Schutz auf den Folianten seines Meisters zu überwinden. Er hatte das Buch bei seinem letzten Abenteuer in einem verlassenen Zaubererturm im Dorf Tre-Me-Lar eingesackt und Wulfhelm profitierte enorm vom Inhalt.
In der Zwischenzeit hatte Harika die junge Familie mit kleineren Jobs in der Wach- und Schließbranche in Kaisersruh über Wasser gehalten. Zu diesem Zeitpunkt führten die Kriegerin und der Zauberer eine Fernbeziehung, in der es das eine oder andere Mal auch kriselte, da Harika nur am Wochenende nach Hause in den zauberischen Turm kam. Wulf - der den Transportzauber noch nicht beherrschte - konnte sich nicht so recht mit der Ernährerrolle seiner Frau anfreunden und war ein wenig eifersüchtig. Das änderte sich jedoch schlagartig, als Harikas Bauchumfang zunahm und sich Nachwuchs ankündigte. Harika sah sich gezwungen im Turm zu bleiben, während Wulfhelm endlich genug gelernt hatte, um selbst für die Familie zu sorgen. Anfangs schlug er sich mit kleineren Aufträgen durch, wie der Beseitigung von diversen Plagegeistern, in der Regel Ratten oder Kakerlaken. Dann aber bekam er Post von der magischen Akademie in Kaisersruh, wo ihm ein Job als Dozent mit praktischer Erfahrung angeboten wurde. Es fehlte wie gesagt an richtigen Zauberern in Ardavil. Die Theoretiker vom Lehramt konnten zwar ihren Stoff und stellten immer wieder verblüffende Thesen auf. In wirklich dramatischen Situationen, wie einer sich rasant nähernden Gruppe sabbernder Ungeheuer, kamen sie jedoch schnell ins Schwitzen und der Morgenkaffee begann, sich auf die Verdauung niederzuschlagen. Dort kam Wulfhelm ins Spiel. Wollte man einen halbwegs treffenden Vergleich zu heutigen Bildungseinrichtungen ziehen, dann war er so etwas wie der Sportlehrer. Die Arbeit mit den jungen Studenten erfüllte ihn mit Freude und wäre es nach Wulfhelm gegangen, hätte dies auch bis zu seiner Pensionierung so bleiben können. Doch schon am folgenden Tag, nach der Geburtstagsfeier Avions, erhielt der Zauberer Post …
»Vati, Vati! Ein Brief ist gekommen«, japste Avion und rannte auf Wulfhelm zu, als dieser gerade im Garten materialisierte. Er hatte Feierabend und freute sich auf eine Tasse Tee und ein gutes Zauberbuch.
»Hallo, großer Krieger«, begrüßte Wulfhelm seinen Sohn und umarmte ihn. »Wo ist denn der Brief?«
»Mami hat ihn. Ich glaube er ist von Onkel Darius.«
Wulfhelm stutzte. Er hatte seit etwa drei Jahren nichts von seinen Freunden gehört und er gab sich einen nicht geringen Anteil der Schuld daran. Über all den Studien hatte er die einstigen Gefährten fast vergessen. Darius hatte ehrlich werden wollen, nach den Ereignissen von damals. Dies war ihm auch recht gut geglückt, darüber wachte Alandra. Aber irgendetwas hatte den Dieb all die Zeit umtrieben. Er hatte etwas vorgehabt, über das er oft nachgrübelte, im stillen Kämmerlein Pläne schmiedete und Zeichnungen anfertigte. Seine Diebesfertigkeiten sollten ihm sehr nützlich bei dem, angeblich vollkommen legalen, Unterfangen sein.
Neugierig folgte Wulfhelm seinem Sohn in den Turm und dem Geruch von Essen in die Küche.
»Hallo Schatz.« Er küsste Harika auf die Wange, die in einem großen Topf auf dem Ofen rührte.
»Da ist ein Brief von Darius gekommen«, sagte sie, nachdem die Begrüßungen ausgetauscht waren. »Er schreibt, dass er ein Geschäft aufgebaut hat und bei irgendeiner Sache Deinen Rat braucht.«
»Ich und Geschäfte?«, fragte Wulf und faltete das Stück Papier auseinander. Mit elegantem Federstrich stand dort:
Ich grüße Euch, weiser Wulfhelm, edle Harika,
lang ist es her, das wir uns zuletzt sahen und viel hat sich seitdem ereignet. Meine Pläne, hier eine ähnliche Einrichtung wie die Festung aus der Hölle aufzubauen, trug endlich Früchte und ich kann mit Stolz behaupten, dass es sich bezahlt gemacht hat. Mittlerweile können wir damit unseren Lebensunterhalt bestreiten und ich bekomme Ausstellungsstücke aus allen Ecken des Landes oder gar von mutigen Kapitänen, die andere Scherben besucht haben. Ihr müsst uns unbedingt einmal besuchen kommen und es Euch ansehen.
Der Grund meines Schreibens ist aber ernsterer Natur. Auf seltsamen Wegen ist eine kleine, goldene Schatulle in meinen Besitz gelangt. Sie war wohl schon zur Begutachtung in der magischen Akademie in Kaisersruh. Bist Du noch Dozent dort? Vielleicht hast Du davon gehört, denn ich würde gern Deinen Rat dazu hören. Bring am Besten Harika und Avion mit, dann machen wir uns ein paar schöne Tage in Palmenhain, so wie früher.
Liebe Grüße von Alandra und mir, auf ein baldiges Wiedersehen.
Dein Freund Darius
»Das klingt ja geheimnisvoll«, murmelte Wulf und steckte den Brief in eine der geräumigen Taschen seiner Robe.
»Weißt Du, wovon er da schreibt?«, fragte Harika und füllte die Teller ihrer Lieben mit einer Art Geschnetzeltem.
»Nein, aber das finden wir schnell heraus. Familie, wir machen einen Ausflug!«, sprach Wulfhelm voller Tatendrang mit erhobenem Zeigefinger und fügte dann hinzu: »Nach dem Essen.«